Volltext Seite (XML)
Blinder einen Blinden führen? Fallen sie nicht beide in die Grube? Der Jünger ist nicht über den Meister: jeder aber Eird voLkommen sein, wenn er wie sein Meister ist. Warum siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, des Balkens aber in deinem eigenen Auge wirst du nicht ge wahr? Oder wie kannst du zu deinem Bruder saaen: Bruder, laß mich den Splitter aus deinen! Auge ziehen, da du selbst den Balken in deinem Auge nicht siehst? Heuchler, zieh zu vor den Balken aus deinem eigenen Auge, dann magst du sehen, daß du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst." Jesus will damit gewiß nicht sagen, daß die Obrigkeit tzmd die Vorgesetzten sowie jeder, der die Pflicht hat, das Unrecht zu rügen, die geschehenen Uebeltaten ungestraft lassen sollen. Allein für alle anderen und, wo keine Pflicht das Gegenteil gebietet und erheischt, wird als heilsam empfohlen, »n christlicher Liebe und Nachsicht „fünf gerade" sein zu lassen, mit einem Worte, sich gegenüber den Fehlern des Nächsten einer heiligen Blindheit zu befleißigen, dieselben »sicht zu sehen, sie zu übersehen, sie nicht zu besprechen, sich nicht zum Richter über den Nächsten aufzuwerfen, ihn nicht zu verdammen, vielmehr, wenn er sich gegen uns verfehlt, ßu vergeben und zu vergessen. Das können wir aber sehr leicht uns angewöhnen, wenn Ar ein scharfes Auge auf unsere eigenen Fehler haben, diese nicht verkleinern und beschönigen, sondern unerbitt lich zu Gericht ziehen. Wenn wir so, unablässig mit den eigenen Fehlern 6oll- iauf beschäftigt und durch das Bewußtsein unserer Schwach heit und Nachsichtsbedürftigkeit gedemütigt, aeaenübcr den Fehlern des Nächsten gewissermaßen ein Scheulsdcr an uns tragen, so werden wir sicher vermeiden, daß wir dereinst von dem ewigen Richter zu denen gerechnet werden, die sein Lieblingsjünger als „Lügner" und die Er selbst als «Heuchler" bezeichnet hat. ' -'.V,. ^ Eine Deimkehr. Bon H»l«ut Tiefenbach. Nachdruck verboten. Die Gefängnistür fiel hinter ihr ins Schloß — sic konnte gehen. Eine Weile stand sie noch, und die roten, abgearbeiteten Hände legten sich zitternd über die tiefein- tzesunkenen Augen, denen man ansah, daß sie keine Tränen inehr hatten. DaS frühgealtcrte Gesicht war in den letzten acht Tagen noch hagerer geworden, um den Mund lagen jene harten Striche, die nur der tiefste Scelenschmerz ein- tzraben kann. Sie hüllte das schwarze wollene Tuch fest um ihren Kopf, und dann durcheilte sie in hastiger Scheu die Straßen des Krcisstädtchsns. Man kannte sie doch nicht? Nein, nein! Wer sollte die Fine Holzer aus dem Walde kennen, fünf Stunden von allem Verkehr weg! Nur ruhig Blut, bald würde sie die Stadt im Rücken haben, dann konnte sie auf- vtmcn. Laufen würde sie, fortwährend laufen, io daß aus den fünf Wegstunden drei wurden. Dann war sie vor Abend bei den Kindern. Gut. daß sie heute schon entlassen worden war, morgen kam ihr Mann von der Arbeit aus dem Holländischen, uni das Weihnachtsfest mit seiner Familie zu feiern. O. er durfte nicht wissen, daß sie im Gefängnis ge- testen. Diesen Kummer mußte sie ihm ersparen. Den Kin dern würde sie ichon klar machen, daß sie dem Vater gegen über von den letzten Vorkommnissen schweigen sollten. Nun umfing sie der Wald, der schweigsame. O, wie Wohl diese Stille ihrem kranken Gemute tat. Nein, der Wald verurteilte sie nicht, weil sie einige Holzstückchcn ge nommen hatte, um den frierenden Kindern die Stube zu beizen. Nur d>e Menschen waren so grausam. Ihr Mutter- Herz blutete bei dem Gedanken, daß die armen Würmer diese acht Tsge mutterseelenallein gewirtschaftct hatten. Wohl w..e sie zum Oberförster und auch zum Gcmcindeober- Haupt gegangen und hatte um Nachlaß der Strafe gefleht. Vergebens! „Sie haken schon einige Male Holzfrevel be gangen," hatte man ihr kalt geantwortet, „diesmal müssen Sie daran glauben!" « Ach, wissen es denn die hohen Herren, was ein Mutter herz zerreißen muß, ehe es den geraden Weg der Ehrlich keit verläßt, kennen sie alle den verborgenen Jammer, der solch einer schwachen Stunde vorausging? Als Fine Holzer an ihrem Häuschen ankam, lag die Stube in Hellem Licht. Frohe Stimmen tönten gedämpft zu ihr heraus. „Vater, Vater, sieh diese Goldschnüre, die werden sich wundervoll ausnehmen an den dunkelgrünen Zweigen. Der. Franz vom Neichhof hat sie mir geschenkt." „O die bunten Lichtchen," sekundierte die dünne sanfte Stimme des ältesten Mädchens, „wie gut, daß du sie mit brachtest, Vater, da wird sich Mutter freuen, wenn wir dies mal den Baum für sie geschmückt haben. Bis jetzt war's immer umgekehrt." Die Frau stand leichenblaß am Fenster. So war er schon da und — wußte — Stöhnend griff sie sich an den Kopf. Nein, nein, sitz konnte ihm nicht mehr ins Auge sehen, sie hatte ja im Ge fängnis gesessen. Wankend trat sie in den Wald zurück. Ihr war, als läge der Tod ihr kalt auf dem Herzen. Mochte der sie nur wegnehmen aus dem Elend. Von nun an war cs ja doch nur eins Qual zu leben. Hatte sie nicht den Namen ihres Mannes mit Schmach bedeckt? Er mußte sie verachten. Wenn sie gestorben war. würde er ihr eher ver zeihen. — Inzwischen wurde dsr Mann im Stübchen immer un ruhiger. „Ihr sagtet doch, Kinder, heute solle Mutter kommen?" fragte er nun schon zum dritten Male. Und als die Kinder wiederuni bejahten, nahm er seine Arbeiterlaterne und be fahl ihnen, ruhig in der Stube zu bleiben, er wolle der Mutter entgegen gehen. Ihm wurde so seltsam zumute, so schwer, als lauere irgendwo zwischen den weißen, gespenstisch schimmernden Schneemastcn ein großes Unglück. Wenn sie vor Ermüdung und Entkräftung niedergesunkcn und erfroren wäre — wenn sie in der Dunkelheit den Pfad verloren hätte! Großer Gott, nur das nicht! Aufmerksam umherspähend, strebte er vor wärts. Da, was war das? Lag nicht dort unter den schnee- schweren Aesten einer Tanne eine Gestalt? Hastig eilte er hinzu und mit einem Ausruf des Schreckens fuhr er im nächsten Augenblick zurück. Sein Weib — tot, erfroren! Doch nein, das Herz klopfte noch, wie er sich bald überzeugt hatte. Noch lag sie erst in jenem gefährlichen Schlummer, der dem Erfrieren voran geht. Er rieb sie mit Schnee und trug sie dann nach Hause. Zum Glück war es nicht sehr weit. Nach kurzer Zeit war sie warm gebettet, die Kinder wurden zur Ruhe gebracht, damit keine aufregende Frage das Ohr der Kranken treffe. Nachdem er ihr heißen Tee eingeflößt hatte, sank sie in einen schweren Schlummer, aus dem sie nach Stunden erst erwachte. Da sah sie ihren Mann noch immer an ihrem Bette sitzen. Nach und nach kam ihr die Erinnerung an die schweren Stunden der ver gangenen Woche, und laut schluchzte sie auf. Er stand auf. nahm ihre Hand und sagte weich: ..Weine nicht, Fine! So Gott will, erholst du dich bald, so daß wir ein fröhlich Weihnachten feiern können." „Es ist besser, ich sterbe, Peter," schluchzte sie in die Kissen. „Ich habe deinen Namen " „O sprich doch nicht so, Fine," bat er, „vor Gott und deinem Gewissen warst du nicht strafbar. Oder hättest du deine Kinder erfrieren lassen sollen? Tu hast für sie da? Schwerste getan — und ich sollte dir dafür zürnen? Glaube das doch nicht! Und nun komm und schlafe und mache dir keine Sorgen Gott wird uns ein schönes Fest bescheren." Gehorsam legte sie sich nieder. Als sie schon die Augen geschlossen hatte, trat er wieder zu ihr: „Ich kann's doch