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Ludwig van Beethoven 9. Sinfonie d-Moll op.125 (mit den Retuschen von Richard Wagner) Berlin, Herbst 1989, die Mauer ist gefallen, Rostropowitsch kon zertiert in der Ode des ehemaligen Todesstreifens, Daniel Baren boim gibt ein Gratis-Konzert mit den Berliner Philharmonikern für die DDR-Bürger, und Leonard Bernstein dirigiertem 25. Dezember im Ost-Berliner Schauspielhaus Beethovens 9. Sinfonie mit einem international besetzten Klangkörper und Solisten aus den USA, der DDR, England sowie der Bundesrepublik. Acht Tage später ist die Aufnahme des Konzerts im Handel und wird in Frankreich gar unter Beigabe von kleinen Brocken der Berliner Mauer als Wer begag vertrieben. Wunderlich sind da Kunst, Politik und Kommerz verquickt. Im Finale hatte Bernstein in den Text eingegriffen: »Ich glau be, dies ist der Augenblick, den der Himmel gesandt hat, um das Wort »Freiheit« immer dort zu singen, wo in der Partitur von »Freu de« die Rede ist. Wenn es je einen historischen Augenblick ge geben hat, in dem man um menschlicher Freude willen eine aka demische Theorie-Diskussion vernachlässigen darf - jetzt ist er gekommen, und ich bin sicher, dass Beethoven uns seinen Segen gegeben hätte. Es lebe die Freiheit!« Ganz neu war Bernsteins Idee, das Wort »Freude« durch »Freiheit« zu ersetzen, nicht. Sie stammte aus dem 19. Jahrhundert, aus jener Zeit, in der Beetho vens 9. Sinfonie erstmals in Zusammenhang mit dem politischen Zeitgeschehen gebracht wurde. Wolfgang Robert Griepenkerl do kumentiert das, wenn er in Beethovens Sinfonien 1838 gesell schaftliche Turbulenzen gleichsam vorweggenommen glaubt: »Das große Drama der Juli-Revoluzion hinter einem nur noch müh sam niedergehaltenen Vorhänge der bewegten Völkerbühne ah nend, verachtete er die Tändelei mit den Formen. Seine Sympho- nieen waren in der Kunst das erste Feldgeschrei jenes Ereignisses (...). Man wird sagen müssen, daß in Beethoven's Symphonieen Saiten angeschlagen werden, die so mächtig schwingen wie der sausende Fittig der Zeit selber.« Ein Jahrzehnt später - wieder wird der Umsturz geprobt - ist solcher Zusammenhang noch konkreter greifbar. Als Richard Wagner am Morgen des 8. Mai 1849, während der Tage des Dresdener Aufstandes, zum Rathaus ging, rief ihm ein Gardist zu: »Herr Kapellmeister, nun, der Freude schö ner Götterfunken hat gezündet.« Wagner hatte das Werk wenige Tage zuvor aufgeführt und berichtet in seiner Autobiografie: »Der Generalprobe hatte heimlich, und vorder Polizei verborgen, Micha el Bakunin beigewohnt; er trat ohne Scheu nach der Beendigung