Zur Einführung Rudolf Mauersberger (1889-1971) entstammt der traditionsreichen sächsischen Musiklandschaft. Er wirkte als Kantor in Lyck, Aachen und Eisenach, hier überdies als Landeskirchenmusikwart. Ab 1930 bis zu seinem Tod leitete er als Kreuzkantor den Dresdner Kreuzchor, den er wie kein anderer in seiner mehr als vierzigjährigen Amtszeit prägte und auf ein international anerkanntes Niveau führte. Die Zerstörung Dresdens und der Tod mehrerer Kruzianer in der Bombennacht des 13. Februar 1945 bedeuten für Mauersberger und den Kreuzchor Einschnitt und Neubeginn zugleich. In der ersten Vesper nach dem Krieg, am 4. August 1945, erklang in der aus gebrannten Kreuzkirche als Uraufführung die Trauermotette “Wie liegt die Stadt so wüst” nach Texten aus den Klageliedern Jeremiae. In der Kargheit der Mittel, der klaren Strukturiertheit ihrer dynamischen Agogik, der sinndeutenden kompositorischen Struktur sowie der Textauswahl selbst vergegenwärtigt sich unmittelbares Betroffensein, Schmerz und Hoffnung auf ein Besseres ebenso; und dies fernab bloßer Kontemplation. In diesem Sinne gilt das Werk als eines der bedeutendsten Kompositionen Rudolf Mauersbergers. Thomas Tallis (um 1505-1585) wirkte zuerst als Organist an der Dover Priory, 1537 an St. Mary-at-Hill in London und danach bis 1540 an der Augustinerabtei Holy Cross in Essex. Nach der Auflösung des Klosters 1540 verbrachte er kurze Zeit an der Canterbury Cathedral und kam bald als Gentleman an die Chapel Royal, wo er bis zu seinem Tode verblieb. Die Königliche Kapelle war das bedeutendste Musikerensemble im Land. Tallis wirkte als Dirigent des Kapell-Chores und Organist. Seine Lebenszeit umfaßt die Regentschaft von fünf Monarchen, von Heinrich VIII. bis Elisabeth I., alle aus dem Hause Tudor. Es war die Epoche heftiger Auseinandersetzungen reformatorischer und gegenre formatorischer Bewegungen. Elisabeth I. (ab 1558) löste sich erneut von der römischen Kirche und dem lateinischen Ritus. Gleichfalls aber behielt sie es sich vor, die Gottesdienste in ihrer eigenen Kapelle so prunkvoll wie möglich auszugestalten. Thomas Tallis wie auch sein Schüler William Byrd genossen ihre besondere Gunst und erhielten das alleinige Privileg des Notendruckes. 1575 gaben sie unter dem Titel “Cantiones Sacrae” eine der Königin in Dankbarkeit gewidmete Motetten- und Hymnensammlung heraus. Über 120 Kompositionen sind uns heute erhalten, in der Mehrzahl geistliche Vokalmusik mit lateinischen Texten. Die “Lamentationen”, bestehend aus zwei separaten Teilen eines textlichen wie komposito rischen Ganzen, bilden einen kompositorischen Höhepunkt in Tallis’ Schaffen. Es steht zu vermuten, daß die Kompositionen nicht zur liturgischen Feier, sondern zur privaten Erbauung der Monarchin geschaffen wurden. Daß der Text der Klagelieder besondere Bedeutung in einer Zeit erlangte, in der die großen Klöster im Land verwüstet und geplün dert wurden, ist kaum zu bezweifeln und ein Grund für die besondere Expressivität der Vertonung. Verweisen insonderheit die Vertonungen der hebräischen Buchstaben am Anfang eines jeden Verses (“Aleph”, “Beth”, “Gimel”, Daleth, “Heth”) oder die ineinandergreifenden, zäsu renüberspielenden melodischen Linien auf tradiert lineares Denken, so verdeutlichen andererseits die musikalische Behandlung des Textes und die Fülle weitausladender har-