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10 Es ist vielleicht nützlich, sich der ita lienischen Reisen des Johannes Brahms zu erinnern, den gewohnte Sicht stets seinem norddeutschen Herkunftsland mit seinem schweren Himmel überläßt. Welchen Anteil an seinem Werk hat Wien, wel chen haben die österreichischen und schweizerischen Sommerfri schen, in deren Landschaften die meisten Werke entstanden, wel chen aber auch das wiederholte Italienerlebnis? Für die 4. Sinfonie nun hatte Brahms eine mehrfach benutzte leicht sarkastische Formel zur Hand: „Ich fürchte, sie schmeckt nach dem hiesigen Klima - die Kir schen hier werden nicht süß ..." Der motivisch-melodische Reichtum dieser Sinfonie legt den Vergleich zum literarischen Genre des Ro mans nahe, in dessen epischem Grundcharakter sich lyrische wie dramatische Elemente mischen. Die melancholische Stimmungslage ist unverkennbar. Heute wissen wir, daß es die letzte Sinfonie von Brahms war, der danach ja nur noch ein einziges Werk mit Orche ster schrieb, das lange unterschätz te, in Wahrheit höchst aufregende Doppelkonzert für Violine und Vio loncello op. 102 von 1888. Ahn ten auch seine Freunde den Ab schied vom Sinfonischen? Brahms-Biograph Max Kalbeck je denfalls schrieb über die Premie renfeier nach der Zweitaufführung in Wien: „Billroth hielt eine seiner jovialsten Tischreden, und der Champagner floß in Strömen, aber uns klangen die prozessionsmäßig wie begräbnisposaunengeblase nen Scheideklänge des Finales im Ohre, und ein bitterer Geschmack lag uns auf der Zunge." Wenn die „Vierte" als Abschieds sinfonie anzusehen ist, so realisiert sie dieses Thema auf ungewöhnli che Weise. Es ist, als dürften - vor allem in der Variationsfülle des Schlußsatzes - alle Instrumenten gruppen noch einmal zeigen, was sie unter der Hand des Sinfonikers Brahms vermögen. Vielleicht ist die Chaconne überhaupt der auslösen de Einfall für die ganze Sinfonie gewesen, vielleicht war Hans von Bülow der durch Widerstand hilf reiche Geburtshelfer. Richard Specht hat die Geschichte erzählt, daß Brahms seinem Freund Bülow die Chaconne aus der Bach-Kantate. „Nach dir, Herr, verlanget mich" (BWV 150) vor spielte: „Bülow war nur recht kühl begeistert von dem Chorsatz, des sen kunstvollen Bau Brahms mit eif riger Beredsamkeit demonstrierte, und meinte, daß die große Steige rung, die dem über dem Baß aufgebauten Stück gedanklich in newohne, an Singstimmen kaum herauszubringen sei. 'Das habe ich mir auch gedacht', sagte Brahms, 'was meinst du, wenn man über das dasselbe Thema ei ne Symphoniesatz schriebe? Aber das ist zu klotzig, zu geradeaus. Man müßte es irgendwie chroma tisch verändern." Dieses „irgend wie" führte zu einem der großartig sten und raffiniertesten Stücke der sinfonischen Literatur überhaupt.