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ZUR EINFÜHRUNG Der Begriff "klassisch" - zeitlos gültig in seiner Ausgewogenheit von Herz und Hirn ... und für Beethoven war der Geist (das Hirn) der Quell des Schöpferischen Den Begriff "Klassik" hat einmal Andre Gide mit den Worten Umrissen, "daß ein klassisches Werk nur durch seine gebändigte Romantik schön sei". Strawinsky, der dies in seiner "Musi kalischen Poetik" zitiert, führt dazu auch Leonardo da Vinci an: "Die Kraft lebt durch den Zwang und stirbt durch die Freiheit." Haben wir hier unter Freiheit die künst lerische Willkür, das Ungebändigte des Gefühls zu verstehen, unter Zwang dagegen die geistige Ordnung, die das Gefühl bändigt und damit das Fun dament des Kunstwerks legt, dann er schließt sich uns der Begriff "klassisch" als zeitlos gültig in seiner schöpferi schen Ausgewogenheit von Herz und Hirn. Beethoven, der uns den Inbegriff des Klassikers bedeutet, Unterzeichnete sich einmal in einem Brief an seinen Bruder als "Hirnbesitzer". Daß das keine flüchtige Schrulle war, beweist der Bericht, den Bettina von Arnim über die Begegnung Goethes mit Beet hoven in Teplitz 1812 gibt. Sie er zählt, daß dieser dem Dichter vorge spielt habe, der darüber tief gerührt war. Das aber brachte Beethoven in Harnisch: "O Herr, das habe ich von Ihnen nicht erwartet. In Berlin gab ich auch vor mehreren Jahren ein Konzert, ich griff mich an und glaubte was Rechts zu leisten und hoffte auf einen tüchtigen Beifall; aber siehe da, als ich meine höchste Begeisterung aus gesprochen hatte, kein geringstes Zei chen des Beifalls ertönte. Das war mir doch zu arg: Ich begriff nicht. Das Rät sel löste sich jedoch dahin auf, daß das ganze Berliner Publikum fein ge bildet war und mir mit nassen Schnupf tüchern vor Rührung entgegenwankte, um mich seines Danks zu versichern. Das war einem groben Enthusiasten wie mir ganz übrig; ich sah, daß ich nur ein romantisches, aber kein künst lerisches Auditorium gehabt hatte. Aber von Euch, Goethe, lasse ich mir dies nicht gefallen. Wenn mir Eure Dichtungen durchs Gehirn gingen, so hat es Musik abgesetzt und ich war stolz genug, mich auf gleiche Höhe schwingen zu wollen wie Ihr. Aber ich habe es meiner Lebtag nicht gewußt und am wenigsten hatte ich's in Eurer Gegenwart selbst getan: Da müßte der Enthusiasmus ganz anders wirken. Ihr müßt doch selber wissen, wie wohl es tut, von tüchtigen Händen beklatscht zu sein; wenn Ihr mich nicht anerken nen und als Euresgleichen abschätzen wollt, wer soll es dann tun? Von wel chem Bettelpack soll ich mich denn ver stehen lassen?" Bettina fügte hinzu, er habe damit Goethe in die Enge getrieben, der wohl fühlte, Beethoven habe recht. Als sie diesem ein Jahr zuvor die Idee ei ner Zusammenarbeit mit Goethe na helegte, rief Beethoven voll Freude aus: "Wenn ihm jemand Verstand über Musik beibringen kann, so bin ich es." Immer wieder wandte-er sich gegen das rein gefühlsmäßige Hören von Musik. "Voriges Jahr", so äußerte sich Beethoven einmal zu Schnyder von Wartensee, "phantasierte ich auf dem Klavier vor einer kleinen Gesellschaft. Plötzlich sah ich, daß die Toren wein ten. Ich lief fort und spielte nie mehr vor ihnen." Beethovens Äußerungen geben uns stets neue Antwort auf die Frage, war um er sich "Hirnbesitzer" und nicht etwa "Herzbesitzer" nannte. Nicht das Herz allein, der Geist war ihm die Quelle des Schöpferischen: "Wenn ich am Abend den Himmel staunend be trachte und das Heer der ewig in sei nen Grenzen sich schwingenden Licht körper, Sonnen oder Erden genannt, dann schwingt sich mein Geist über