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4. ZYKLUS-KONZERT BACH - HÄNDEL Festsaal des Kulturpalastes Dresden Sonnabend, den 17. November 1984, 20.00 Uhr Sonntag, den 18. November 1984 20.00 Uhr obiilbisrnnoni^ Dirigent: Martin Flämig, Dresden Solisten Venceslava Hruba-Freiberger, Leipzig, Sopran I Andrea Ihle, Dresden, Sopran II Christiane Götz-Röhr, Schwerin, Alt Stephan Spiewok, Leipzig Tenor Andreas Scheibner, Dresden, Baß I Matthias Henneberg, Dresden, Baß II Chöre : Dresdner Kreuzchor Philharmonischer Chor Dresden Einstudierung Matthias Geissler Kammerchor des Beethoven-Chores Dresden Einstudierung Christian Hauschild Orgel: Gerald Stier, Dresden Georg Friedrich Händel 1685-1759 „Israel in Ägypten" - Oratorium für 6 Solostimmen, Chor und Orchester Pause nach dem 1. Teil ZUR EINFÜHRUNG 17 Werke des Händelschen Schaffens — der Hauptteil seiner späten Schöpfungen — beru hen auf alttestamentlichen und antik-klassi schen Stoffen. Obwohl sie aus dem Alten Testament stammen, dem Hausbuch des Bür gertums und der Quelle, aus der heroische Taten und Geschehnisse zu schöpfen waren, bieten sie durchaus weltliche, gesellschafts gebundene Musik. Sie konnten als Gleich- für die Geschichte des englischen Vol- dienen, dem sich Händel seit seinem Aufenthalt in London (mit Unterbrechungen von 1710 bis zu seinem Tode) verbunden fühlte. Zu den Gipfelpunkten zählen neben dem „Gelegenheitsoratorium" (1746) und dem „Judas Maccabäus" (1747) das Oratorium für 6 Solostimmen, Chor und Or chester „Israel in Ägypten", das Händel 1738 in London innerhalb eines Mo nats fertigstellte und das am 4. April 1739 im King's Theatre uraufgeführt wurde. Der Kom ponist hatte gerade die ärgsten Enttäuschun gen in seinem Opernschaffen, dem bis 1740 nur noch eine kleine Nachlese folgte, hinter sich. Immer deutlicher erkannte er die Not wendigkeit, dem Bürgertum die ihm entspre chende Kunst zu verschaffen. Er fand sie in der Form des Oratoriums, und als 1738 ein neuer Krieg gegen Spanien ausbrach, lag auch ein entsprechender gesellschaftlich-politi scher Anlaß vor. Dem „auserwählten Volk" der Bibel wurde die englische Nation gleich gesetzt. Ursprünglich wollte Händel des Mo ses Dankgesang über Israels Errettung aus Ägypten zum Thema seines Werkes machen, schuf er nach Art seiner „Anthems", dop- ^■jhöriger Psalmkantaten, einen gewaltigen Kreisgesang auf Gottes Allmacht. Die text liche Grundlage dafür, die er selbst aus dem Alten Testament auswählte und zusammen stellte, bildet das 15. Kapitel des 2. Buches Mose. Doch bald fühlte er, daß zum Verständ nis von „Moses Lobgesang“ eine Schilderung der Plagen und Drangsale Israels im Lande der Ägypter vorausgehen müsse. Demgemäß stellte er dem bisher Geschaffenen einen wei teren Hauptteil voran, der gleichsam die geschichtliche Unterlage geben sollte: Israels Knechtschaft in Ägypten und seine wunderbare Errettung. Hierfür verwendete Händel Texte aus dem 78., 105. und 106. Psalm. Diese re flektieren die geschichtlichen Berichte der Ka pitel 1 bis 14 im 2. Buch Mose. Während hier das dienende Verhältnis des israelitischen Volkes zu Gott im Blickpunkt der Erzählung steht, betrachten die Psalmen Gott und seine Sprecher als Führer der Hebräer. In dieser Sicht ergab sich für Händel eine Parallele zu den regierenden Kreisen des damaligen Eng land, aber auch zu dem Freiheitsringen des englischen Volkes. Die überkühne Planung des ganzen Werkes allerdings mußte die Zeitgenossen verwirren. Nur mit Mühe kamen 1739 drei Aufführungen des „Israel" zustande, die nur schwache Wir kungen beim Publikum hinterließen. Händel stellte „Änderungen und Zusätze" in Aussicht, doch konnten diese an dem Gesamtstil des Oratoriums, dessen Größe die Zeitgenossen kaum ahnten, nur wenig ändern. Selbst der Versuch Händels, den beiden Teilen ein musi kalisches Vorwort voranzusetzen, befriedigte nicht, so daß man sich heute daran gewöhnt hat, das Werk ohne jedes Vorspiel gleich mit dem Tenor-Rezitativ zu beginnen. Die dem Oratorium „Israel in Ägypten" zu grundeliegenden und im 2. Buch Mose doku mentierten geschichtlichen Ereignisse begaben sich etwa 1700 bis 1500 vor unserer Zeitrech nung: Joseph, einer der Söhne Jakobs (Israels), war nach Ägypten verkauft worden und gewann dort als Günstling des herrschen den Pharao an Macht und Einfluß im Land, die er in kluge Politik umzusetzen verstand. Als in Kanaan, dem Land seiner Väter (Jakob - Isaak - Abraham) eine Hungersnot aus brach, holte er seine Brüder und deren Kinder mit allem Hab und Gut nach Ägypten. Nach seinem Tod — er starb im Alter von 110 Jahren — wuchs das israelitische Volk zahlenmäßig be trächtlich an und errang durch Regsamkeit und Fleiß in dem ihm zugewiesenen Landstrich (Go sen) relative Selbständigkeit. Mit dem Macht antritt eines neuen Pharao begann die grau same Unterdrückung der Israeliten durch die Ägypter aus Furcht, die Machtverhältnisse der beiden Völker könnten sich umkehren. Mose wird zum Führer der Israeliten berufen. Sein Sprecher ist sein Bruder Aaron. Beide werden mehrfach beim Pharao vorstellig, for dern Glaubensfreiheit, Entlastung von der Fronarbeit und schließlich den Auszug des Vol kes aus dem Land. Doch als Arbeitssklaven sind die Israeliten den Ägyptern nicht ent behrlich. Sie werden vertröstet und verstärkt zu Diensten gepreßt. Nun kommen über das Land die 10 Plagen, die Schrecken unter der Bevöl kerung verbreiten, es an den wirtschaftlichen Ruin führen und seine Bevölkerungszahl radi kal vermindern: Das Wasser im Lande verwan delt sich in Blut (Schlamm?), Scharen von Frö schen, Stechmücken und Ungeziefer plagen Menschen und Vieh, Pest und Schwarze Blat tern raffen die Lebenden dahin, Hagel und Heuschreckenschwärme vernichten die Ernte, Finsternis bedeckt das Land, und schließlich sterben alle Erstgeborenen bei den Menschen und Tieren. Erst danach erzwingen die Ägypter von ihrem Pharao die Erlaubnis für das israeli tische Volk, das Land zu verlassen, weil sie in jenem die Ursache aller Bedrängnis sehen. Die öffentliche Meinung wandelt sich derart, daß die Israeliten nun förmlich aus der ehemaligen Stätte ihrer Zuflucht hinausgedrängt werden. Dieser Umstand veranlaßt sie, den Ägyptern abzufordern, ihnen auf die Reise silberne und goldene Wertgegenstände und Kleidung aus dem persönlichen Besitz mitzugeben. Gegen den Willen seines Volkes schickt der Pharao den Flüchtenden seine Soldaten nach. Moses und seiner Schar gelingt die glückliche Flucht durch das Rote Meer, während Pharao und das ägyptische Heer in den Fluten ertrinken. „Da nun Mose seine Hand reckte über das Meer, ließ es der Herr hinwegfahren durch einen starken Ostwind die ganze Nacht, und machte das Meer trocken; und die Wasser teileten sich voneinander. Und die Kinder Israel gingen hinein, mitten ins Meer auf dem Trocknen; und das Wasser war ihnen für Mauern zur Rechten und zur Linken. Und die Ägypter folgeten und gingen hinein ihnen nach, alle Rosse Pharaos und Wagen und Reiter, mitten ins Meer. Da reckte Mose seine Hand aus über das Meer, und das Meer kam wieder vor morgens in seinen Strom, und die Ägypter flohen ihm entgegen. Also stürzte sie der Herr mitten ins Meer, daß das Wasser wiederkam und bedeckte Wa gen und Reiter und alle Macht des Pharao, die ihnen nachgefolget waren ins Meer, daß nicht einer aus ihnen übrigblieb.“ (2. Buch Mose, 14. Kapitel, Vers 21—23, 27 und 28). „Israel in Ägypten" steht unter Händels Ora torien einzigartig da, ebenso wie der „Messias" in seiner Art einzigartig ist. Es hat wenig dra matische Züge, keine individuellen Charaktere. Das ganze Oratorium ist ein ausgedehntes, lose verknüpftes Epos, das Volk Israel einziger Handlungsträger. In ihrer Großartigkeit bie ten die Chöre eine reiche Mannigfaltigkeit der Stimmung und der Technik, von leidenschaftli cher Intensität bis zu zarter Demut, von schlich ter Rede bis zu grandiosem Jubel. Jedes Kunst mittel der Chorkomposition wird verwendet: Chorrezitativ und -arioso, Fuge und Doppel fuge, durchkomponierte dramatische Vertonung usw. Einige dieser Chöre stellen nicht nur in Händels riesigem Schaffen, sondern in der ge samten Chorliteratur etwas Außergewöhnliches dar. „Israel in Ägypten" ist in gewissem Sinne ein „Chorkonzert" besonderer Art. Die Chöre I« ben keine Verbindung untereinander, bild™ aber stellenweise bestimmte Gruppen, diedurch Wiederholung oder suitenähnlichen Aufbau zu sammengeschlossen sind. Bemerkenswert ist auch die Rolle des Orchesters, das sogar in polyphonen Chorsätzen selbständig und leben dig bleibt. Neben der musikalischen Sprachge walt der Chöre haben die Arien keinen leich ten Stand, und doch geben sie im Gesamtrah men des Werkes Ruhepunkte, gleichsam Atem pausen zwischen der massiven Darstellung der biblischen Vorgänge durch die Chöre. Die Trauer- und Dankchöre glänzen in hymnischer Pracht und Erhabenheit, wogegen die musika lische Schilderung der Plagen konkret bildhaft, oft sogar tonmalerisch ist. Man kann im Or chester Hagelkörner niederprasseln, Fliegen und Mücken summen, Frösche hüpfen hören. Doch gibt Händel nicht nur eine Nachahmung von Naturerscheinungen musikalisch wieder. Sein Verdienst ist es, realistischen Ausdruck in die Musik hineingetragen zu haben. Fast ins Gigantische wachsen die Chorwirkungen im zweiten Teil des Oratoriums. „Moses' Gesang" ist Ausdruck des überschwenglichen Dankes des Volkes für seine Errettung. Künstlerische Efl heitlichkeit und planmäßigen architektonisch™ Aufbau erhält dieser imposante Akt dadurch, daß Händel seinen Einleitungs- und Schlußge sang thematisch verknüpft, ihn dadurch unter einen großen Bogen stellt. Bei aller Monumentalität wirken die musikali schen Mittel denkbar einfach und natürlich und auf diese Weise wahrhaft volkstümlich. So sei anläßlich unserer Aufführung dieses großarti gen Oratoriums an Beethovens Wort erinnert, der Händel als „den unerreichten Meister aller Meister" feierte und hinzufügte: „Geht hin und lernt, mit wenig Mitteln so große Wirkungen hervorzubringen."