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2. ZYKLUS-KONZERT JOSEPH HAYDN UND DER KLASSIZISMUS Sonnabend, den 3. Oktober 1981, 20.00 Uhr Festsaal des Kulturpalastes Dresden Sonntag, den 4. Oktober 1981, 20.00 Uhr Dirigent: Johannes Winkler Solist: Bohuslav Matousek, CSSR, Violine Igor Strawinsky 1882-1971 Orpheus — Ballett in drei Bildern I. Klage des Orpheus (Lento sostenuto) — Air de danse (Andante con moto) — Tanz des Todesengels (L'istesso) — Zwischenspiel — II. Tanz der Furien (Agitato in piano) — Air de danse (Grave) — Zwischenspiel (L'istesso tempo) — Air de danse (L'istesso lempo) — Pas d'action (Andantino leggiadro) —Pas de deux (An dante sostenuto) — Zwischenspiel (Moderato assai) — Pas d'action (Vivace) — III. Apotheose des Orpheus (Lento sostenuto) Wolfgang Amadeus Mozart 1756-1791 Konzert für Violine und Orchester A-Dur KV 219 Allegro aperto Adagio Rondo (Tempo di Menuetto — Allegro) PAUSE Joseph Haydn 1732-1809 Sinfonie Nr. 102 B-Dur Largo — Vivace Adagio Menuett (Allegro) Finale (Presto) Das Konzert am 3. Oktober 1981 wird von Radio DDR II, Sender Dresden, mitgeschnitten und am 24. November 1981 im Rahmen des „Dresdner Abends" gesendet. ßOHUSLAV MATOUSEK, Jahrgang 1949, war Schüler I. Pekelskys und V. Snitils an der Prager Akademie der musischen Künste. Seit seinem 10. Lebensjahr konnte er mehrmals erste Preise bei nationalen Wett bewerben der CSSR erringen. 1965 wurde er Sieger des Rundfunkwettbewerbes um die beste Interpretation zeitgenössischer tschechischer Musik. 1969 erweckte er als Teilnehmer des UNESCO-Wettbewerbes in Paris die Aufmerksamkeit von Yehudi Menuhin. Mit aus gezeichneten Ergebnissen absolvierte er im Sommer 1969 einen internationalen Interpretationskurs bei Arthur Grumiaux in Zürich, bei dem er sich erneut 1972 — nach dem Abschluß seines Studiums in Prag — sowie auch bei Nathan Milstein in Zürich fortbildete. 1970 wurde ihm beim Tibor-Varga-Wettbewerb in Sion (Schweiz) der „Außerordentliche Preis der Jury" zuerkannt. 1972 errang er im Internationalen Instru- mentalisten-Wettbewerb des „Prager Frühlings" den I. Preis. Im gleichen Jahre musizierte er erstmalig mit den Dresdner Philharmonikern unter Hans Swarowsky und gastierte auch 1976 bei dem Orchester. ZUR EINFÜHRUNG Die altgriechische Sage von Orpheus, der die bösen Kräfte der Unterwelt durch seinen Ge sang zu bezwingen vermochte, jedoch der schweren Prüfung, seine verstorbene Eurydike nicht anblicken zu dürfen, nicht gewachsen war, ist in vergangenen Jahrhunderten häufig als Sujet für Opern und Ballette verwendet worden. Auch Igor Strawinsky, dessen 100. Ge burtstag im Juni nächsten Jahres Anlaß ver stärkter Pflege seines reichen Lebenswerkes in der vor uns liegenden Konzertsaison in aller Welt sein wird, schrieb im Jahre 1947 ein Bal lett „Orpheus", angeregt und uraufgeführt 1948 von Georg Baianchine und dem New York City Ballet. Das Libretto des Werkes schuf ebenfalls der Komponist. Eberhard Rebling hat es folgendermaßen skizziert: „1. Bild: Regungslos trauert Orpheus um Eury dike. Seine Gefährten bekunden ihm ihr Mit leid. Er ergreift seine Lyra und klagt in einer Air de danse (Andante con moto) sein tiefes Leid. Da erscheint der TodesengeL Er verspricht Or pheus, ihn in die Unterwelt zu geleiten, um seine geliebte Eurydike wiederzufinden. Er führt ihn durch die Schatten des Tartarus (Zwischen spiel) in den Hades. 2. Bild: Mit einem wilden Tanz empfangen die Furien den vom Todesengel geleiteten Orpheus in der Unterwelt (Agitato in piano). Sie be drängen ihn immer mehr. Da ergreift Orpheus seine Lyra und beginnt zu spielen (Air de danse, Grave). Die gequälten Seelen der Furien wer den dadurch zutiefst gerührt und beschwören Orpheus, seinen Trostgesang fortzusetzen. Die gebändigten Furien legen Orpheus eine Binde über die Augen und führen Eurydike herbei (Andantino leggiadro — Piü mosso). In einem Pas de deux (Andante sostenuto) vereinigen sich die beiden Liebenden. Aber Orpheus kann der Versuchung nicht widerstehen, entgegen dem Gebot die Binde von den Augen zu reißen und seine Eurydike anzuschauen, die im glei chen Augenblick tot zu Boden fällt Während eines zweiten Zwischenspiels erscheint die erste Szene wieder. Der verzweifelte Orpheus ist aus dem Hades zurückgekehrt, und Bacchanten greifen ihn an. In einem wütenden Tanz (Viva ce) stürzen sie sich auf Orpheus und reißen ihn in Stücke. 3. Bild: In einer apotheotischen Szene erscheint Apollo, der göttliche Herr der Musen, ergreift die Lyra des Orpheus und läßt dessen Gesang himmelwärts steigen (Lento sostenuto)." Die Partitur des „Orpheus" gehört der soge nannten neoklassizistischen Schaffensperiode Strawinskys an, die 1920 mit dem Ballett „Pulci nella" einsetzte, das in unseren Zyklus-Konzer ten ebenfalls noch aufgeführt wird, und drei Jahrzehnte bis 1950 umspannte. In dieser Schaf fensphase nützte er bei Wahrung bestimmter personalstilistischer Grundzüge schöpferisch Stilmittel des Mittelalters, der Bach-Händel- Zeit, der Wiener Klassik (insbesondere Haydns) sowie des 19. Jh., lieferte freilich alles andere als das, was der Neoklassizismus des 20. Jh. — und Strawinsky war sein führender musikali scher Repräsentant — willentlich oder unabsicht lich vorspiegelt: die Harmonisierung von Widerx Sprüchen durch Konstruktion einer scheinba* heilen, „klassischen" Welt. Strawinskys Wen dung zum Klassizismus brachte im Streben nach Objektivierung und Sachlichkeit des Ausdrucks, in der Besinnung auf klassisches Maß und glä serne Klarheit auch einen Zug zu emotionaler Kühle und Distanziertheit mit sich. Diese distan zierte, bewußt emotionsarme neoklassizistische Darstellungsweise kennzeichnet auch seinen „Orpheus". Auf die Frage, weshalb all seine nach Themen der griechischen Mythologie ent worfenen Werke, also auch „Orpheus", häufig punktierte Rhythmen verwendeten, verwies der Komponist auf seine Absicht, in Anlehnung an typische Konstruktionsprinzipien,, eine neue Musik nach dem Vorbild der Klassik im 18. Jh. zu schaffen". So vermittelt die Partitur des „Or pheus" gewissermaßen den Aspekt eines dop pelt gespiegelten Klassizismus. Bestimmend für die Musik dieses „Nummern balletts" sind einfache, prägnante melodiöse Gesten, die zur Ausdruckswelt der Oper ten dieren — die Tänze des Orpheus heißen nicht zufällig Arien —, thematische Ökonomie und maßvolle klangliche Darstellung. Nur in der Tutti-Attacke des zweiten „Pas d'action" (Tanz« mit ausgesprochenem Handlungscharakter; ge-5 meint ist die Szene, in der die Bacchanten Or pheus in Stücke reißen) wird das fast durchweg vorherrschende gedämpfte, dabei durchsich tige orchestrale Klangbild durchbrochen. Häu fig tritt die Harfe — die Lyra des Orpheus sym bolisierend — hervor. Sie rahmt das Werk übri gens mit eingangs phrygisch absteigenden, am Ende dorisch aufsteigenden (also altgriechi schen) Skalenmotiven ein. Zur Darstellung der Schrecken der Unterwelt setzte Strawinsky — wie einst Monteverdi — schwere Blechbläser ein. Archaisch, altmeisterlich fast wirkt die kurze Fuge der „Apotheose des Orpheus", mit der das Werk verklingt.