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DRESDNER PHILHARMONIE Mittwoch, den 8. Februar 1978, 20.00 Uhr Donnerstag, den 9. Februar 1978, 20.00 Uhr Festsaal des Kulturpalastes Dresden 6 AUSSERORDENTLICHES KONZERT Dirigent: Milan Horvat, SFR Jugoslawien Solist: Oleg Kagan, Sowjetunion, Violine Anton von Webern 1883-1945 Passacaglia für Orchester op. 1 Peter Tschaikowski 1840-1893 Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 35 Allegro moderato Canzonetta (Andante) Finale (Allegro vivacissimo) PAUSE Antonin Dvorak 1841-1904 Sinfonie Nr. 6 D-Dur op. 60 Allegro non tanto Adagio Scherzo, Furiant (Presto) Finale (Allegro con spirito) MILAN HORVAT, 1919 geboren, zählt zu den prominentesten jugoslawischen Dirigenten. Er studierte zunächst Klavier an der Musik akademie in Zagreb, entschied sich jedoch später für die Dirigentenlaufbahn. 1945 be endete er seine Studien und promovierte außerdem zum Doktor der Rechtswissen schaft. Seine künstlerische Laufbahn begann 1946 als Leiter des Sinfonieorchesters von Radio Zagreb. Anschließend leitete er als Chefdirigent über fünf Jahre das Sinfonie orchester von Dublin, und von 1956 bis 1969 stand er den Zagreber Philharmonikern vor. Mit diesem Orchester unternahm er zahl reiche Tourneen durch Europa und Amerika. 1969 wurde Milan Horvat zum Chefdirigente.n an das neugegründete österreichische Rund funksinfonieorchester in Wien berufen. Der Künstler machte durch viele erfolgreiche Gastdirigate in ganz Europa von sich reden. Seit 1970 wirkt er regelmäßig bei den Salz burger Festspielen mit, leitete dort auch einen Dirigentenkurs. Zahlreiche Rundfunk- und Schallplattenaufnahmen produzierte der Dirigent, dem viele Auszeichnungen in sei nem Heimatland zuteil wurden (so u. a. 1949 Staatspreis 1. Klasse der SFR Jugoslawien, 1957 und 1961 Preise des jugoslawischen Komponistenverbandes und des Verbandes der ausübenden Künstler). Bei der Dresdner Philharmonie gastierte er bereits im Jahre 1975. OLEG KAGAN, der Solist unseres heutigen Konzertes, der an die Stelle des ursprüng lich verpflichteten Michail Waiman getreten ist, der tragischerweise während einer Kon zerttournee durch Schweden im Dezember 1977 ganz plötzlich verstarb, wurde 1946 ge boren. Von 1953—1959 besuchte er die Musik schule des Konservatoriums in Riga, von 1959—1965 die Musikschule des Konservato riums Moskau und studierte von 1965—1969 am Moskauer Konservatorium bei B. Kusne zow und David Oistrach. Von 1969—1971 ab solvierte er eine Aspirantur an diesem Insti tut. Er errang den 4. Preis des III. George- Enescu-Wettbewerbs in Bukarest 1964, den 1. Preis des Sibelius-Wettbewerbs in Hel sinki 1965, den 2. Preis des Tschaikowski- Wettbewerbs Moskau 1966 und den 1. Preis des III. Bach-Wettbewerbs Leipzig 1968. Seit 1971 ist Oleg Kagan, der einer der hervor ragendsten jüngeren Vertreter der sowjeti schen Geigerschule ist, Solist der Moskauer Philharmonie. Gastspiele führten ihn in viele Länder Europas und nach Japan. Der Künstler ist nicht nur ein international er folgreicher Solist, sondern auch ein geschätz ter Kammermusikspieler, der besonders seit 1973 das Duospiel mit Swjatoslaw Richter pflegt. Diese intensive Zusammenarbeit mit Swjatolaw Richter zeitigte bereits mehrere gemeinsame Schallplattenproduktionen (Vio- linsonaten von Mozart und Beethoven). Mit der Dresdner Philharmonie konzertierte Oleg Kagan 1968 sowie 1977 zur Beethoven-Ehrung der DDR in Berlin und Görlitz. ZUR EINFÜHRUNG Der Österreicher Anton von Webern, als Komponist der wohl konsequen teste Schüler Arnold Schönbergs, in den Jahren 1921 bis 1934 angesehener Dirigent der Wiener Arbeiter-Sinfoniekonzerte, seit 1923 auch des W.ener Arbeiter-Singvereins, 1945 von einem amerikanischen Besatzungssoldaten er schossen, erlebt seit den 50er Jahren eine erstaunliche Renaissance in west europäischen Ländern, während er zu Lebzeiten mit seiner esoterischen Kunst in zunehmende Isolation geriet. Neben der Vokal- und Orchestermusik nimmt die Kammermusik in seinem Schaffen weiten Raum ein. Bereits sein erstes bedeu tendes Werk, die Passacaglia für Orchester op. 1 aus dem Jahre 1908, komponiert zum Abschluß der Lehre bei Arnold Schönberg, zeigt bereits den charakteristischen Tonfall, die unüberhörbare Eigenart des Komponisten, seine Neigung zu kontrapunktischer Planung, zu polyphoner Verästelung der ein zelnen Stimmen, ohne daß hier schon jene später für Webern bezeichnende Tendenz zu extremer aphoristischer Kürze der Form und zur sogenannten „Kiang- farbenmelodie" (Aufteilung einer musikalischen Linie auf mehrere Instrumente) ausgebildet wäre. Mit 15 Minuten Aufführungsdauer blieb die Passacgalia seine längste Komposition. Deutlich ist die geistige Herkunft Weberns an diesem Stück erkennbar: die späte Romantik. In die Zukunft der Webernschen Entwicklung ver weist jedoch schon das im dreifachen Piano anhebende, von Pausen durchbro chene Thema der Passacaglia, die gleichsam aus dem Nichts hervorwächst, sich zu vielfält.gen tönenden Formen zusammenfügt und wieder ins „Unhörba.e", ins „Nichts" zurücksinkt, vergleichbar einem Kreislauf von Werden und Vergehen. Ein „Meisterstück vollster Authentizität" nannte Theodor W. Adorno die Kompo sition. „Die Passacaglia ist, wie die Form es will, ein bis in die letzte Note hinein auskomponiertes, dabei unendlich expressives Stück, farbig und doch von ernstestem Ton. Die neudeutsche Schule, der sie durch ihren harmonischen und farblichen Reichtum und ihre leidenschaftlich ausgreifende Melodik zugehört, kennt nichts, was zugleich so schmucklos, effektlos gehalten wäre, obwohl es einmal sogar — dies eine Mal in Weberns Leben — üppig rauscht. Wie es selbst verständlich ist, ruft die Passacaglia, besonders am Anfang, von fern das Finale aus der Vierten Sinfonie von Brahms herauf. Aber sie ist weit lockerer, straussisch aufgelöster. Das Material stammt aus der bis zum äußersten erweiterten, harmo nisch in selbständigen Stufen des Chromas fortschreitenden Tonalität des Schön berg aus der Zeit des Zweiten Quartetts." Peter Tschaikowski, der große russische Meister, schrieb wie Beethoven und Brahms lediglich ein Violinkonzert, das allerdings wie deren Werke gleichfalls zu den Glanzstücken der internationalen Konzertliteratur gehört. Das in Ausdruck und Stil charakteristische, eigenwüchsige Werk, in D-Dur stehend, wurde als op. 35 Anfang März 1878 in Clärens am Genfer See begonnen und be reits Anfang April vollendet. Tschaikowski widmete das ausgesprochene Virtuosen stück ursprünglich dem Geiger Leopold von Auer, der es aber zunächst als un spielbar zurückwies und sich erst viel später für das Werk einsetzte. Die Urauf führung wagte schließlich Adolf Brodski am 4. Dezember 1879 in Wien unter der Leitung Hans Richters. Unfaßbar will es uns heute erscheinen, daß das Werk vom Publikum ausgezischt wurde! Die Presse war geteilter Meinung. Der gefürchtete Wiener Kritiker Dr. Eduard Hanslick, Brahms-Verehrer und Wagner-Feind, be ging mit seiner Rezension des Tschaikowski-Konzertes wohl einen seiner kapital sten Irrtümer. Er schrieb u. a.: „Da wird nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebleut. Ob es überhaupt möglich ist, diese haarsträu benden Schwierigkeiten rein herauszubringen, weiß ich nicht, wohl aber, daß Herr Brodski, indem er es versuchte, uns nicht weniger gemartert hat als sich selbst. . . Tschaikowskis Violinkonzert bringt uns zum erstenmal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken (!) hört." Haarsträubend, schauerlich mutet uns heute dieses Fehlurteil Hanslicks an, das der Komponist übrigens jederzeit auswendig aufsagen konnte, so sehr hatte er