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Mittwoch, den 27. November 1974, 19.30 Uhr im Festsaal des Kulturpalastes Dresden Konzert der Dresdner Philharmonie Dirigent: Henryk Czyz, VR Polen Solistin: Shizuka Ishikawa, Japan — Violine Dmitri Schostakowitsch geb. 1906 Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 54 Largo Allegro Presto Peter Tschaikowski 1840-1893 Pause Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 35 Allegro moderato Canzonetta (Andante) Finale (Allegro vivacissimo) Igor Strawinsky 1882-1971 Suite „Der Feuervogel" (1919) Introduktion und Tanz des Feuervogels Tanz der Prinzessinnen Tanz des Kastschei Wiegenlied und Finale Henryk Czyz, der hervorragende polnische Dirigent und namhafte Kom ponist, wurde 1923 geboren. Obwohl die Unterweisungen im Klavier- und Violinspiel und in der Kompositionslehre im frühen Kindesalter begannen, studierte er nach dem Abitur zunächst Jura, ehe er sich 1943 endgültig für die musikalische Laufbahn entschied. Die Studienfächer Komposition (bei T. Szeli- gowski) und Dirigieren (bei W. Bierdiajew) absolvierte er 1952 an der Musik hochschule von Poznan mit Auszeichnung. Seine Dirigentenlaufbahn begann er an der Oper von Poznan. Danach vervollkommnete er seine Ausbildung bei G. Fiteiberg. Bis 1963 wirkte er als Chefdirigent der Philharmonie Lodz und war auch am Warschauer Opernhaus sowie bei den Rundfunkorchestern von Katowice und Bydgoszcz tätig. Bis 1968 leitete er die Krakower Philharmonie: an der Musikhochschule dieser Stadt widmete er sich jahrelang auch pädago gischen Aufgaben. Seitdem gastierte er bei den prominentesten Orchestern der Welt, besonders in den skandinavischen Ländern, in Frankreich, in Großbritan nien, in der BRD, Westberlin, in Argentinien, Brasilien und in der DDR. Henryk Czyz erhielt in Würdigung seiner künstlerischen Verdienste hohe polnische und internationale Auszeichnungen. Shizuka Ishikawa, die junge japanische Geigerin, machte auch in der europäischen Musikwelt von sich reden, als sie 16jährig den 1. Preis des Wettbewerbes „Concertino Praga" 1969/70 gewann. Die Künstlerin stammt aus Tokio, begann dort unter der Anleitung von Prof. Suzaki im Alter von vier Jahren mit dem Violinspiel, das sie später bei Prof. Saburo Sumi weiterstudierte, und errang schon Wjährig den 1. Preis des Wettbewerbes aller japanischen Musikschulen. Drei Jahre später wurde sie 1. Preisträgerin des Wettbewerbes von Radio Bunka Hoose in Japan. Im Alter von 16 Jahren nahm sie ihre Stu dien bei Prof. Marie Hlounova an der Prager Akademie der Musischen Künste au'. Naci, ihrer erfolgreichen Teilnahme am IV. Internationalen Wieniawski- Wettbewerb 19/2 in Poznan — sie errang die Silbermedaille, den 2. Platz — begann ihre Konzerttätigkeit in der CSSR, in Dänemark, Spanien, den Nieder landen, der VR Polen und der BRD. Der Tschechoslowakische Rundfunk und Supraphon verpflichteten sie bereits zu zahlreichen Aufnahmen. ZUR EINFÜHRUNG Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 54, ein nur dreisätziges Werk, 1939 vollendet und in Leningrad mit der dortigen Philharmonie unter Mrawinski uraufgeführt, ist eine Art Fortsetzung der 5. Sin fonie des Komponisten. Der erste Satz (Largo) entwickelt Gedanken, die dem trauervollen Largo der „Fünften" verwandt sind, wenn sie auch anders ausge drückt werden. Der Satz ist monolhematisch (nur mit einem Thema) angelegt. Er ist auf einer Variationsfolge cufgebaut. Dabei findet eine in sich versun kene, schwermütige Nachdenklichkeit ihren intensivsten Ausdruck. Im Gegensatz zum Largo der 5. Sinfonie herrschen in diesem Largomonolog größere Ruhe der Darstellung, einsichtsvolles Verzichten und Objektivität des Ausdrucks. Durch strömte die 5. Sinfonie ein noch lebendiges, eben erst durchlittenes Gefühl, so äußert sich hier die objektive Aussage des überwundenen. Schostakowitsch entwickelt eine weite sinfonische Bewegung in einem einzigen melodischen Atem. Er folgt darin dem von ihm so hochverehrten deutschen Altmeister Jo hann Sebastian Bach, wobei sich natürlich seine musikalische Gestaltungsweise auf ganz anderer Ebene bewegt. Besonders im Mittelteil treten deklamatorisch- re’itativische Züge, die hier charakteristisch sind, stark hervor. Das Largo ver klingt in tragischer Schicksalsergebcnheit (Erinnerung an überstandene Leiden). Im Kontrast zu diesem grüblerischen, lyrisch-philosophischen Largo versetzen uns die beiden folgenden Sätze in die Welt lichter Daseinsfreude. In diesen Sätzen ist alles schimmernd, strahlend, alles trägt uns in unübersehbare, son nendurchflutete Weiten. Der zweite Satz (Allegro), überaus reich an Ideen, Klangfarben und Rhythmen, ist ein zauberhaftes Scherzo, eines der besten von Schostakowitsch. Das erste Thema schwebt sanft wie ein Lüftchen in den zier lichen Rhythmen eines schnellen Menuetts oder Walzers vorüber. Im zweiten Thema, zurückhaltender in der Bewegung, kommt der Walzer- oder eigentlich Ländlercharakter noch deutlicher zur Geltung. Das dritte Thema, breit und schwungvoll, erklingt im Zwiegespräch der Celli und Kontrabässe mit den Violi nen. Bemerkenswert für das ganze Stück ist die Leichtigkeit der polyphonen Handschrift. Für das glanzvolle, funkelnd instrumentierte Finale hat Schostakowitsch eine schlichte, melodienreiche Sprache gefunden. Man empfindet diese Musik ais ein frohes Spiel des schöpferischen Bewußtseins, das sich von der Last der Vor urteile und Verirrungen befreit hat: „Die Welt ist schön!" sagt der Komponist. Das Hauptthema erinnert, seinem rhythmischen Charakter entsprechend, an einen Galopp. Neue thematische Bildungen, die den schelmisch-flatternden Grundcharakter unterstreichen, bereichern die Entwicklung. Ebenso schelmisch und anmutig ist das zweite Thema. Der Mittelteil des Finalsatzes beginnt mit einer schweren, stampfenden Bewegung der Bässe. Vor diesem Hintergrund hebt sich eine Episode ungehemmter Fröhlichkeit ab. Mit einem stürmischen, keine Schranken kennenden Lauf endet dieses lebensfrohe, humorgewürzte Finale. Peter Tschaikowski, der große russische Meister, schrieb wie Beet hoven und Brahms lediglich ein Violinkonzert, das allerdings wie deren Werke gleichfalls zu den Glanzstücken der internationalen Konzertliteratur ge hört. Das in Ausdruck und Stil charakteristische, eigenwüchsige Werk, in D-Dur stehend, wurde als op. 35 Anfang März 1878 in Clärens am Genfer See be gonnen und Ende April desselben Jahres endgültig fertiggestellt. Tschaikowski widmete das ausgesprochene Virtuosenstück ursprünglich dem Geiger Leopold von Auer, der es aber zunächst als unspielbar zurückwies und sich erst viel später für das Werk einsetzte. Die Uraufführung wagte schließlich Alexander Brodsid am 4. Dezember 1979 in Wien unter der Leitung Hans Richters. Unfaß bar will es uns heute erscheinen, daß das Werk vom Publikum ausgezischt wurde! Die Presse war geteilter Meinung. Der gefürchtete Wiener Kritiker Dr. Eduard Hanslick, Brahms-Verehrer und Wagner-Feind, beging mit seiner Rezension des Tschaikowski-Konzerts wohl einen seiner kapitalsten Irrtümmer. Er schrieb unter anderem: „Da wird nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebleut. Ob es überhaupt möglich ist, diese haarsträubenden Schwierigkeiten rein herauszubringen, weiß ich nicht, wohl aber, daß Herr Brodski indem er es versuchte, uns nicht weniger gemartert hat als sich selbst. . . Tschai kowskis Violinkonzert bringt uns zum erstenmal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken (!) hört". Haarsträu bend, schauerlich mutet uns heute dieses Fehlurteil Hanslicks an, das der Komponist übrigens jederzeit auswendig aufsagen konnte, so sehr hatte er sich darüber geärgert, während das Konzert inzwischen längst zu den wenigen ganz großen Meisterwelken der konzertanten Violinliteratur zählt. Das Werk wird durch eine kraftvolle Männlichkeit im Ausdruck, durch eine straffe Rhythmik gekennzeichnet und ist betont musikantisch ohne Hintergründig-