Volltext Seite (XML)
DRESDNER PHILHARMONIE Donnerstag, den 9. April 1970, 20 Uhr Festsaal des Kulturpalastes Dresden 10. AUSSERORDENTLICHES KONZERT^ Dirigent: Kurt Masur Solist: Ralph Kirkpatrick, USA, Cembalo Klavier Eino Tamberg geb. 1930 Toccata für Orchester op. 31 Allegro Uraufführung Johann Sebastian Bach 1685-1750 Konzert für Cembalo und Orchester f-Moll BWV 1056 Allegro moderato Largo Presto Wolfgang Amadeus Mozart 1756-1791 Joseph Haydn 1732-1809 PAUSE Konzert für Klavier und Orchester F-Dur KV 413 Allegro Larghetto Tempo di Menuetto Sinfonie Nr. 103 Es-Dur (mit dem Paukenwirbel) Adagio — Allegro con spirito Andante Menuetto Finale (Allegro con spirito) Der amerikanische Cembalist und Musikforscher RALPH KIRKPATRICK wurde im Jahre 1911 in Leominster (Massachusetts) geboren. Er studierte an der Harvard University sowie in Europa bei Nadja Boulanger, Wanda Landowska, Arnold Dolmetsch, Günther Ramin und Heinz Tiessen. Seit 1933 wurde er in Eu ropa und in den USA durch Konzertreisen und Schallplattenaufnahmen als einer der hervorragendsten Cembalisten der Gegenwart bekannt und erhielt mehrfach hohe Auszeichnungen. Seit 1940 lehrt er an der Yale University, die ihn 1956 zum Professor ernannte. 1964 erhielt er eine Ehrenprofessur der Berkeley University (Kalifornien). Ralph Kirkpatrick gab wertvolle Urtextausgaben heraus und ver faßte eine grundlegende Arbeit über Domenico Scarlatti (1953). Bei der Dres dner Philharmonie war er erstmalig im Jahre 1968 zu Gast. ZUR EINFÜHRUNG Eino Tamberg wurde am 27. Mai 1930 in Tallinn, der Hauptstadt der Estnischen SSR, geboren. Seine musikalischen Studien absolvierte er am Konser vatorium seiner Heimatstadt und beendete sie im Jahre 1953. Sein Lehrer in Komposition war der namhafte estnische Komponist Eugen Kapp. Nach dem Stu dium ging Tamberg als Tonregisseur an den Estnischen Rundfunk. Mit dem Ora torium „Für die Freiheit des Volkes" op. 1 (1950) beginnt die Werkliste des estni schen Tonsetzers, zu deren wichtigsten Titeln die Suite „Fürst Gabriel" op. 2 (1955), das Concerto grosso op. 5 (1956), die Sinfonischen Tänze op. 6 (1957), das Streichquartett op. 8 (1958), die Ballett-Sinfonie op. 10 (1959), das Szenische Oratorium „Mondschein" op. 17 (1962), das Ballett „Der Knabe und der Schmet terling' op. 20 (1963) und die Oper „Das eiserne Haus" op. 23 (1965) gehören. Die von Kurt Masur angeregte und diesem auch zugeeignete Toccata für sinfonisches Orchester op. 31 schrieb Eino Tamberg, der heute zu den führenden estnischen Komponisten gehört, im Oktober 1967. Es ist ein vir tuoses, fantasieartiges Stück, in dem Passagenwerk mit akkordischen und kontra- punktischen Abschnitten wechselt. Das ganze Werk entfaltet sich aus dem kraft vollen Anfangsmotiv, der thematischen Keimzelle der Komposition. Im mittleren Teil der Toccata, beginnend mit einem Klaviersolo, begegnet eine freigehand habte Zwölftontechnik. Bei Johann Sebastian Bachs Klavierkonzerten (der Meister verwen dete bis zu vier Soloinstrumente) handelt es sich in den meisten Fällen um Über tragungen von Violinkonzerten, zum Teil von fremder Hand stammend. Aus der artigen Transkriptionen ist die Gattung des Klavierkonzertes überhaupt entstan den. (Unter dem Klavier verstand man in der Bach-Zeit natürlich nicht den mo dernen Hammerfiügel, sondern das Cembalo, dessen Saiten nicht „angeschla gen", sondern „angerissen" wurden). Von den sieben erhaltenen Klavierkonzer ten Bachs für ein Soloinstrument und Orchester sind das Konzert in d-Moll (BWV 1052) und das heute erklingende in f-Moll (BWV 1056) am bekanntesten ge worden; aber gerade diese Werke, besonders das erste, werden von einigen Forschern als nicht „echt" bezeichnet. Möglicherweise hat der Komponist hier, wie es zu seiner Zeit allgemein üblich war, fremde Kompositionen auf seine Weise umgearbeitet, vor allem kontrapunktisch bereichert. Als sicher wurde fest gestellt, daß das f-Moll-Konzert, wie sich unzweifelhaft aus der Art des Werkes ergibt, die Übertragung eines Violinkonzertes darstellt (wahrscheinlich in g-Moll), dessen Vorlage allerdings nicht aufgefunden wurde. Doch ungeachtet aller Echtheitsproblematik, die in erster Linie die Fachwelt beschäftigt, ist auch dieses Konzert ein herrliches; substanzreiches Musikstück, das in vielen Details die unverkennbaren Züge der Bachschen Handschrift trägt. Ein ständig wiederkehrendes, kraftvoll-prägnantes Thema, das zu Beginn sogleich im Tutti vorgestellt wird, bildet das Fundament des ersten Satzes. Der kurze zweite Satz (Largo) besteht aus einer zusammenhängenden, reich mit Ornamen tik verzierten und stark figurierten Kantilene des Soloinstrumentes, die durch eine sparsame, durchsichtige Pizzicato-Begleitung der Streicher gestützt wird. Dieser Satz wurde von Bach übrigens auch als Instrumental-Einleitung zu seiner Kantate Nr. 156 („Ich steh' mit einem Fuße im Grabe") verwendet, wo er das ausdrucks volle, gesangliche Largo-Thema der Oboe anvertraute. Unmittelbar leiten dann die Violinen in das mit auffallenden dynamischen Kontrast-Effekten versehene abschließende Presto über, das sich weniger durch prägnante Thematik als durch brillanten motorischen Elan und kontrapunktische Arbeit auszeichnet.