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STEINSAAL Ausführende: Igor Strawinski geb. 1882 Jean Fran^aix geb. 1912 Joseph Haydn 1732 - 1809 Ludwig van Beethoven 1770 - 1827 DEUTSCHES HYGIENE - MUSEUM Dienstag, 16. Oktober 1962, 19.30 Uhr ZUR EINFÜHRUNG 1. Kammermusikabend der Kammermusikvereinigung der Dresdner Philharmonie Günter Sicring, Violine; Günther Schubert, Violine; Herbert Schneider, Viola; Erhard Hoppe, Violoncello; Johannes Walter, Flöte; Heinz Butowski, Oboe; Werner Metzner, Klarinette; Helmut Radatz, Fagott 3 Stücke für Streichquartett (1914) Zum 80. Geburtstag (17. Juni 1962) Quartett für Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott Zum 50. Geburtstag (23. Mai 1962) Allegro Andante Allegro molto Allegro vivo Streichquartett op. 54 Nr. 3 E-Dur Allegro Largo cantabile Mcnuctto-Allcgretto Finale-Prcsto Pause Streichquartett op. 59 Nr. 1 F-Dur Allegro Allcgrctto vivace e sempre schcrzando Adagio molto e mesto Theme russe, Allegro Igor Strawinski - wie hat ihn die zeitgenössische Kritik schon genannt: Impressionist, Expressio nist, Polytonaler, Primitivist, Snob, chaotischer Konstruktivist, Eklektiker. Derartige Schlag worte resultieren aus der Spezifik des Schaffensweges Strawinskis. Dieser Komponist nämlich verschmolz in den einzelnen Stadien seiner Entwicklung künstlerische Eindrücke verschieden ster Art mit Eigenem, so daß er sich fast in jedem seiner zahlreichen Werke, die nahezu alle Gattungen umfassen, wandelte, ein anderes Gesicht zeigte und dennoch immer er selbst blieb. Sein Freund Picasso nannte diese Erscheinung einmal geistreich den „Salto mortale ins Unge wisse“. Dabei hat Strawinski fest umrissene Ansichten vom Wert der Tradition, wovon er sagt, sie sei „nicht Zeuge einer abgeschlossenen Vergangenheit; sic ist eine lebendige Kraft, welche die Gegenwart anregt und belehrt . . . Man knüpft an eine Tradition an, um etwas Neues zu machen. Die Tradition sichert auf solche Weise die Kontinuität des Schöpferischen“. Dennoch hat ihn diese Einsicht nicht davor bewahrt, sich von der nationalen Tradition seiner russischen Heimat zu lösen, so daß er ein Hauptvertreter des Kosmopolitismus in der Musik wurde und im Spätschaffen vor allem seiner ohnehin starken Vorliebe zum Konstruktiven allzu breiten Raum ließ. Bezeichnend ist die Formulierung Heinrich Strobels: „Strawinski zieht in seinem Werk noch einmal das Fazit der gesamten europäischen Musikentwicklung von der Gregorianik bis zu den umwälzenden Neuerungen, die er selbst im ,Sacrc du Printcmps' und in anderen Werken gefunden hat.“ Sein Frühschaffen, das bis in die Zeit des ersten Weltkrieges reicht, stand noch ganz im Banne der nationalrussischcn Tradition Mussorgskis und seines Lehrers Rimski-Korsakow, Ballettwerke wie „Feucrvogel“ (1910), „Petruschka“ (1911) und „Frühlings opfer“ (1913), die das Ballett als selbständige Kunstform fast neben die Oper rückten, gehören trotz aller impressionistischen und expressionistischen Einflüsse hierzu. Doch dann begann Stra winski mit fast jedem seiner Werke zu überraschen, machte er sich doch die verschiedensten Stilcinflüsse zu eigen: den Jazz, die mittelalterliche Musik, den Stil des 18. Jahrhunderts, Per- golesi, Bach, Lully, aber auch Weber, Rossini, Tschaikowski, neuerdings auch Anton von We bern und sein spezifisches Reihensystem. Die stilistische Wandlungsfähigkeit, die vitale, sugge stive Rhythmik und ein ganz eigenes klangliches Profil sind die Hauptmerkmale der Musik Strawinskis, seiner „neoklassizistischen“ Haltung. Der Komponist, seit 1945 amerikanischer Staatsbürger, gehört fraglos zu den bedeutendsten, wenn auch widerspruchsvollsten Erscheinungen unter den Gegenwartsmusikern der bürgerlichen Welt. Die Ausstrahlung seiner Künstlerpersönlichkcit, seiner stilistischen Neuerungen auf die Musik unseres Jahrhunderts ist eminent. In diesem Jahr gedachte die Musikwelt des 80. Ge burtstages dieses berühmten Musikers am 17. Juni. Dieser Anlaß auch führte den greisen Meister in den vergangenen Wochen erstmalig seit 1914, dem Jahre, in dem er endgültig in die Schweiz übersiedelte, um dann über Frankreich (1920/39) in die USA zu gelangen, in seine Heimat. Inwieweit die ehrende Aufnahme, die er in der Sowjetunion fand, seine Eindrücke und Erlebnisse ihn bestimmen werden, sie auch künstlerisch widerzuspiegeln, eventuell gar dort wieder anzuknüpfen, wo er sich zuletzt mit russischer Folklore auseinandergesetzt hatte (in dem Ballett „Les noccs“, „Die Bauernhochzeit“, 1922, oder in dem „Scherzo ä la Russe“), bleibt abzuwarten. Die Kammermusik begegnet im umfangreichen und vielseitigen Schaffen Igor Strawinskis nur •vereinzelt. Er kommt von anderen klanglich-geistigen Räumen und Zielen her, so daß ihm kammermusikalisches Gestalten im eigentlichen Sinne weniger gemäß ist. Etwas anderes ist seine kammermusikalischc Musizierhaltung, die im größten Teil seines Oeuvres spürbar ist. Für Streichquartcttbcsetzung schrieb er im Jahre 1914 drei ungemein kurze Stücke, die, Ernest Ansermet zugeeignet, 1929 auch als Orchester-Etüden erschienen. Auch in der ursprünglichen, heute erklingenden Fassung tragen diese Stücke deutlich den Charakter von Studien, was dazu mal den Widerspruch der Fachkritik auslöste („wenn sich das einbürgert, dann ist das Ende nah . . .“, im Hinblick auf die Gattung des Streichquartetts zu verstehen). In der Orchester bearbeitung haben die einzelnen Stücke bezeichnende Titel, die auch für die Quartettfassung heranzuzichcn sind. So handelt es sich beim ersten Stück um einen Tanz, dessen ostinat vor getragene Melodie (in der ersten Violine) und Begleitformeln (in den übrigen Instrumenten) von der russischen Folklore geprägt sein könnte. Der zweite Satz, „Exzcntric“ überschrieben, ist in der Tat eine etwas überspannte, dabei dicht gearbeitete Ausdrucksstudie, die in erster Linie von motorischen Kräften getragen wird. Als ein zartverhaltener, mehr nach innen als nach außen gewandter Hymnus erweist sich das dritte Stück mit seinen aparten akkordlichen Reizen. Der französische Komponist Jean Francaix konnte am 23. Mai dieses Jahres seinen 50. Geburts tag feiern. Nach seinen Studienjahren in Paris (Komposition bei N. Boulanger und Klavier bei I. Philippe) lebte er in seiner Vaterstadt Le Mans, heute in der Nähe von Paris. Der Künstler, der auch schon in Dresden weilte und mit den Philharmonikern konzertierte, ist nicht nur als fruchtbarer Komponist, sondern auch als Pianist von außergewöhnlicher Begabung hervorge- treten. Unter seinen französischen Komponistenkollcgcn hat sich in Deutschland kaum einer so zahlreiche Freunde gewonnen wie er. Immer häufiger kann man seinen Ballettschöpfungen, seinen konzertanten Werken, vor allem aber seinen geistvollen Kammermusiken begegnen. Diese Vorliebe für seine Musik erklärt sich aus ihren liebenswürdig-gewinnenden Eigenschaften, ihren typisch französischen „Tugenden“ wie Anmut und Klarheit, Eleganz und Beschwingtheit, spielerische Grazie und Ironie, ohne daß der urtümliche Witz und Humor in Witzelei, die unterhaltend-entspannte Wesensart in bloße Unterhaltungskost umschlägt. „Man kann den Stil seiner Musik“, so sagt Serge Morcux, „als den eines Mannes mit klaren Ideen und heller Seele bezeichnen. Er ist rein und so durchsichtig, daß man auf den ersten Blick seine Tiefe schlecht erkennt. Von Grund auf französisch, ist er apollinisch und nicht dionysisch. Sein Witz ist ohne Schroffheit, heiter und raffiniert. Es ist der Stil eines Musikers, dessen von vornherein einfache Probleme sich auf glückliche Weise lösen, dank den musikalischen und geistigen Anlagen, der Herkunft und der Erziehung.“ Auch das auf unserem heutigen Programm stehende Quartett für Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott (1954/55) ist ein „typischer“ Frangaix. Es ist in einem unverkennbar eigenen Tonfall geschrieben, einfallsreich, von natürlicher, diatonischer Melodik (die sich mehr in kurzen Motiven als in langen Mclismcn äußert, nicht im entfern testen etwas mit der Sprödigkeit der Zwölftöner zu tun hat), farbig, pikant im Humor, rhyth misch lebendig und von knapper, charakteristisch geprägter Form. Ein nicht geringer Vorzug