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Zur Berühmtheit Felix Mendelssohn-Barthol dys (1809—1847) hat wesentlich seine Musik zu Shakespeares „Sommernachtstraum" beigetragen Die-Ouvertüre, die er mit 17 Jahren niederschrieb, ist ein genialer Wurf gewesen. Sie wird oft gespielt. Aber die übrigen Nummern dieser Schauspielmusik, die Mendelssohn 1843 komponierte, sind nicht so sehr bekannt. Von ihnen erldingen das Scherzo, das Notturno und der Hochzeitsmarsch. Das sehr leb hafte Scherzo zeigt alle Vorzüge von Mendelssohns Schreibweise: die Mühelosigkeit, die formale Ab rundung, den klaren Klang. Das Notturno bringt die Töne, die alle kennen: es ist so, als hörte man eins seiner Lieder ohne Worte. Der Hochzeitsmarsch hat einen triumphalen Charakter. Man kann sich seinem Glanze und seinem hinreißenden Schwung nicht entziehen. Auf ihn ist es wohl am meisten mit zurückzuführen, daß diese geniale Musik zu dem Schauspiel durch andere Komponisten nicht ver drängt werden konnte. Eines der bedeutendsten Werke Robert Schu manns (1810—1856) ist das Klavierkonzert a-Moll, op. 54. In ihm vereinigen sich alle Tugenden und Vor züge des genialen Romantikers: der große Schwung, der sich aus dichterischen Ideen nährt, die Über schwenglichkeit der Phantasie, die Unruhe eines von vielen inneren Gesichten heimgesuchten Künstlers, die Leidenschaftlichkeit einer glühenden Seele. Der erste Satz fängt mit den gewaltig aufgetürmten Akkorden des Klaviers an, bringt Süße und Glanz, Abbild innerer Kämpfe und Ausdruck der Kraft und Überlegenheit. Das Intermezzo ist ein wunderbares Ineinandergreifen des Klaviers und der Orchester gruppen, einZwiegesangvongrößter Innigkeit. Ohne Pause schließt sich der scherzoartige, zugleich rhyth misch sehr interessant gestaltete Schlußsatz an. Schumann hat in rhythmischer Hinsicht durchaus Eigenwilliges und sehr Ausgeprägtes zu sagen. Er ist innerhalb der Romantik ein Rhythmiker, womit er über den Bereich der Romantik hinauslangt. Schu mann ist also nicht nur reiner Gefühlsmusiker, wie man die Romantiker gern hinstellt, sondern ein schöpferischer Mensch von großer Willensstärke und Lebenskraft. Diese Eigenschaften sind hervor tretende Merkmale gerade dieses Schlußsatzes, in dem die nur Schumann eigene einmalige virtuose Haltung zur Geltung kommt. Hugo Wolf (1860—1903) ist den meisten musik interessierten Menschen durch seine genialen Lieder bekannt geworden. Wenige wissen um seine Or chesterwerke, kaum zu hören ist seine feingeschlif fene, geistvolle Lustspieloper „Der Corregidor“. Die „Italienische Serenade" schrieb er 1893/94. Sie ist von ihm in zwei Fassungen veröffentlicht worden, nämlich einmal für Kleines Orchester, zum anderen für Streichquartett. Hugo Wolf hat mit diesemWerk die Serenadenstimmung des südlich-sinnenfrohen Italien einfangen wollen. Die Serenade ist heiter, lustig, voll von schönen, dem italienischen Volkstum derZeit damals abgelauschten Melodien, belebt vom Tarantella-Rhythmus, der für die italienische Volks musik und für den italienischen Charakter so be zeichnend ist. Die Eingangsklänge mit ihren Quin ten, die so klingen, als stimmte das Orchester seine Instrumente, wiederholen sich auch am Schluß und runden somit das Werk nach musikalischen Ge sichtspunkten ab. Die Musik ist ganz diesseitig, es gibt keine Hintergründe und keine Geheimnisse. Sie ist Ausdruck für ein manchmal aus Hugo Wolf her vorbrechendes Streben nach Klarheit und Ein fachheit. 1822 komponierte Franz Schubert (1797—1828) als 8. Sinfonie in der Reihe seiner 10 Sinfonien die in h-Moll stehende. Seltsam ist, daß er dieses Werk, das er auf der Höhe seiner Meisterschaft, im Voll besitz seines überragenden Könnens niederschrieb, nicht fertig komponierte, sondern daß er nach dem zweiten Satze damit aufhörte. Sie heißt nun die „Un vollendete“ — und wenn irgendwo nur dieses Wort fällt, dann weiß jeder, daß damit dieses Werk Franz Schuberts gemeint ist. Sie ist freilich trotz ihres Un vollendetseins ein vollendetes Meisterwerk. Es gibt kaum einen Menschen, der sich ihrer tiefen Wirkung entziehen könnte. Um so rätselhafter ist, war«^ Schubert aufhörte, an dieser Sinfonie weit^^F zuarbeiten. Man kennt die wahren Gründe nicht, vermutet aber, daß Schubert, der Beethoven und dessen titanisches Schaffen über alles verehrte, der in der Beethovenschen Sinfonie unerreichbare Vor bilder sah, eines Tages die Einsicht hatte, daß er die Größe dieses Meisters nie erreichen könne und deshalb auf Vollendung eben seiner eigenen 8. Sin fonie verzichten müsse. Die Musikwissenschaft steht heute auf dem Standpunkt, daß Schubert in seinen sinfonischen Werken von einer verschwen derischen Fülle der Einfälle ist, daß aber seine Ein fälle überwiegend lyrisch und gefühlsbetont sind, daß er sich in ihnen schwelgerisch verlieren konnte (so daß Robert Schumann von „himmlischen Län gen" sprach), daß ihm die Beethovensche Gabe der Gedankenschärfe und der Aussageknappheit man gelte. Weil seine Themen und Gedanken vorwiegend lyrisch waren, fehlten ihnen die Kontraste, die erst das echte sinfonische Leben ergeben hätten. Viel leicht spürte Schubert diesen Mangel beim Vergleich mit dem angebeteten Beethoven wirklich selbst und unterließ deshalb die Vollendung seiner Achten. Nun — wie dem auch sei — seine Unvollendete ist gerade seine berühmteste Sinfonie geworden. Wo soll man anfangen, die vielen Schönheiten auf^t zählen? Wie Perlen auf einem Faden reihen sich^B Einfälle aneinander — und einer ist schöner als andere. Im ersten Satz ist die vollendete Melodie der Violoncelli zu Hause, eine der schönsten Melodien überhaupt, die, nur aus 2 Motiven aufgebaut, ein so vollkommenes Maß zeigt, daß man sie eigentlich klassisch nennen müßte. Und vom gesamten zweiten Satz, dem langsamen Satz, der nunmehr diesen Torso von Sinfonie abschließt, kann man sagen, daß dies wohl wirklich Sphärenmusik sei. Wo hat man schon solche überirdischen Klänge gehört? Beinahe hätte die Welt von diesem Werke nichts er fahren. Schuberts Freund Anselm Hüttenbrenner hütete das Manuskript eifersüchtig und versteckte es vor der Öffentlichkeit. Erst 1865 wurde die Sin fonie uraufgeführt. Und seitdem ist sie zum geisti gen Besitz aller Menschen geworden. Je mehr man sie hört, desto schöner erscheint sie. Sie müßte eigentlich die „Vollendete“ heißen. Joh. Paul Thilman