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EINFÜHRUNG Friedrich Smetana : „Die Moldau", Sinfonische Dichtung für großes Orchester aus „Mein Vaterland". —• Zwei Quellen entspringen im Schatten des Böhmerwaldes: die eine warm sprudelnd, die andere kühl und ruhig. Die lustig in dem Gestein dahinrauschenden Wellen derselben vereinigen sich und erglänzen in den Strahlen der Morgensonne. Der schnell dahineilende Waldbach wird zum Flusse Vlata, der, immer weiter durch Böhmens Gaue dahinfließend, zu einem gewaltigen Strome anwächst. Er fließt durch dichte Waldungen, in denen das fröhliche Treiben einer Jagd immer näher hörbar wird und das Waldhorn erschallt, er fließt durch wiesenreiche Triften und Niederungen, wo unter lustigen Klängen ein Hochzeitsfest mit Gesang und Tanz gefeiert wird. In der Nacht belustigen sich die Wald- und Wassernymphen beim Mondenschein auf den glänzenden Wellen desselben, in denen sich die vielen Burgfesten und Schlösser als Zeugen vergangener Zeiten widerspiegeln. In den Johannisstromschnellen braust der Strom, durch die Katarakte sich windend, und bahnt sich gewaltsam mit schäumenden Wellen den Weg durch die Felsenspalte in das breite Flußbett, in dem er mit majestätischer Ruhe gegen Prag weiter dahinfließt, bewillkommnet vom ehrwürdigen Vysehrad, worauf er in weiter Ferne vor den Augen des Tondichters entschwindet. Im Jahre 1879 hat Antonin Dvorak sein großes Violinkonzert in a-Moll, op. 53, kom poniert. Der bedeutendste Geiger der damaligen Zeit, Josef Joachim, hatte sich bereit erklärt, die Violinistimme zu überprüfen. Bis 1882 haben die beiden an dem Werke gefeilt. Dvoräk schreibt in einem Briefe: „Die Umarbeitung lag volle zwei Jahre bei Joachim! Er selbst war so liebens würdig, die Prinzipalstimme einzurichten; nur im Finale muß ich noch etwas ändern und an manchen Stellen die Instrumentation milder machen." Die Überarbeitung hat dem Werke nicht geschadet, es hat seine Frische und Ursprünglichkeit, die fast alle Werke Dvoräks auszeichnen, bewahrt. Das Violinkonzert ist dreisätzig; der erste und zweite Satz folgen ohne Pause aufeinander. Die Anlage ist sinfonisch. Der erste Satz zeigt die beiden, dem Sonatenschema entsprechenden gegen sätzlichen Themen, das selbstbewußte, energische erste Thema und das süße, lyrische zweite. Der langsame zweite Satz steht in einer zarten, poetisch-verhaltenen Stimmung, er fließt über an melodischen Gedanken, er guillt über von Gefühl, das sich in einer Fülle schönster Melodien aussingt, die dem Volke abgelauscht sind. Der Schlußsatz ist im großen gesehen ein Rondo, wobei das Ritornell oder der Refrain im Rhythmus des tschechischen Volkstanzes Furiant gehalten ist, das heißt, daß Synkopen auftreten, die für den Furiant charakteristisch sind. Als Mittelteil wählte Dvorak die rhythmische Form der Dumka, eines anderen rassigen Volkstanzes der Tschechen. Das bedeutet Taktwechsel aus dem Drei-Schlag-Takt in den Zwei-Schlag-Takt. Dieser Gegensatz macht den Schlußsatz so interessant, so würzig, so zündend. Dvoräk ist ein Beispiel für die Kraft eines im Volke wurzelnden und aus dem Volkstum schöpfenden Komponisten. Peter Iljitsch Tschaikowski (1840—1893) hat sich zu seiner 5. Sinfonie in e-Moll ein mal in einem Notizheft selbst geäußert, und man kann diese Bemerkung als Hinweis auffassen, gleichsam als das Motto, das über diesem Werke stehen könnte. „Vollständige Beugung vor dem Schicksal oder, was dasselbe ist, vor dem unergründlichen Walten der Vorsehung." Mit der Sin fonie, die seine drei letzten großen Sinfonien einleitet, war Tschaikowski nicht zufrieden, weil sie dem Inhalt einen zu breiten Raum gönnt und dabei die künstlerische Form etwas vernach lässigt. Dafür spricht die Briefstelle: „Nach jeder Aufführung meiner neuen Sinfonie empfinde ich immer stärker, daß dieses Werk mir mißlungen ist. Die Sinfonie erscheint mir zu bunt, zu massiv, zu künstlich, zu lang, überhaupt unsympathisch." Wir wundern uns über die Schärfe des eigenen Urteils, wir bewundern seine schonungslose Selbstkritik, die wir heute nicht mehr teilen. Das Werk ist viersätzig. Im ersten Satz leitet ein Thema das Ganze ein, welches gewissermaßen als Leitmotiv in allen vier Sätzen immer wieder erscheint. Der eigentliche erste Satz bringt die beiden sehr gegensätzlichen Themen, die die Form der Sonate verlangt. Der zweite Satz versucht, von dunklen Klängen zu lichten Höhen emporzuschwingen, der Schluß verklingt in Ruhe und Harmonie. Der dritte Satz heißt „Valse", also ein eleganter, weltmännischer Walzer mit fran zösischem Einschlag, der ein einziges Wiegen und Gleiten darstellt. Der Schlußsatz, das Finale, ist ein toller Wirbel der verschiedensten Stimmungen: ein aufreizender Tanz, ein eilig hastender Galopp, ein jauchzender Wirbel, ein hemmungsloses, brutales Gestampfe, das am Schluß in eine schmetternd-glänzende Fanfare mündet, die dem düsteren Werk einen überraschenden, aber um so wirkungsvolleren optimistischen Ausgang verleiht. Johannes Paul Thilman