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HÖHEPUNKT IM SCHAFFEN Die 4. Sinfonie in e-tnoll von Johannes Brahms (1833—1897) ist als einer der Höhepunkte in seinem Schaffen anzusehen. Brahms war in den Jahren des Entstehens dieses Werkes (1884—1886) auf der Höhe seiner Meisterschaft angelangt. Seit je liebte er das Spiel mit musikalischen Formen, wohl aus dem Gefühl heraus, sich innerhalb des allgemeinen Formzerfalls der Romantik zu sichern. Brahms stellte sich beim Schaffen der 4. Sinfonie selbst ein Problem, das der strengsten Formgebundenheit, um aber gerade dadurch im Schöpferischen eine große Freiheit zu gewinnen. Es ist unmöglich, die Fülle satztech nischer Einzelheiten aufzuzählen, die buchstäblich vom ersten bis zum letzten Takt dieses großen, schwerblütigen Werkes festzustellen sind. Die Kenner stehen mit Staunen vor dieser Kunst, vor dieser Meisterschaft des Handwerklichen, vor diesem Wissen um die Geheimnisse des Schaffens. Aber man merkt der Musik nicht an, daß sie so viel Zucht und Überlegung, so viel Kunstreichtum und aus dem Nachdenken Entstandenes enthält. Denn trotz des stark reflektierenden Einschlages macht sie den Ein druck eines geschlossenen Ganzen, ruft sie die Wirkung eines Organismus hervor. Freilich wirkte sie nicht sofort so auf die Zeitgenossen und Freunde des Meisters. Der ihm sehr zugetane berühmte Musik kritiker Hauslick sagte nach dem ersten Anhören, er habe den ganzen Satz über die Empfindung gehabt, als ob er von zwei schrecklich geistreichen Leuten durchgeprügelt würde. (Woraus man ersehen kann, daß sich sogar Kritiker im ersten Augenblick irren können.) Im ersten Satz verarbeitet Brahms mit größter Kunst zwei Themen. Die Sinfonie beginnt sofort mit dem ersten, weitgespannten Thema. Demgegenüber ist das zweite sehr kurz, es ist den Holzbläsern und Hörnern übergeben und spielt in der gesamten Verarbeitung und Durchführung nicht die Rolle wie das wichtigere erste Thema. Der zweite Satz erblüht in einer Fülle melodischer Schönheiten (Klarinetten gesang, Violoncelli), die aber eine gewisse Melancholie nicht bannen können. Das Scherzo' ist demgegen über sehr derb und energisch, ja beinahe wild. Brahms schreibt zwar giocoso (fröhlich, heiter) drüber — aber es ist die etwas schreckliche, bärbeißige Heiterkeit eines grimmigen Alten. Der 4. Satz ist zunächst ein technisches Kunststück. Als Chaconne aufgebaut, hört man 32 mal das Thema, aber immer verändert, mit einer solchen Kunst der Variation ausgestattet, daß nicht einen Augenblick lang irgendwelche Lange weile auftritt. Zugleich ist aber dieser Satz auch von einer solchen geistigen Konzentration, daß Ehr furcht und Staunen erweckt wird vor dem Höhenflug, zu dem menschlicher Geist fähig ist. Dieser Satz ist nicht nur in Brahmsens Schaffen, sondern im menschlichen Schaffen überhaupt ein Höhepunkt. Auch das Konzert für Violine und Violoncello mit Orchester, op. 102, aus dem Jahre 1887, verlangt eine starke geistige Bereitschaft. Nicht nur, daß es Anforderungen an die geistig und technisch ebenbürtigen Solisten stellt, sondern auch wegen seiner polyphonen Struktur an die Hörer. Brahms greift die Musizier praxis des Concerto grosso wieder auf, wobei er die beiden Soloinstrumente als ein gleichwertiges Concer tino dem Tutti gegenüberstellt. Der erste Satz beginnt mit einer viertaktigen Orchestereinleitung, in der das Hauptmotiv des Satzes festgelegt wird, worauf ein breites Rezitativ der Soloinstrumente folgt, ehe der eigentliche sinfonische Beginn anhebt. Und damit fängt ein so gelöstes und gar nicht grüblerisches Musizieren an, das ganz vergessen läßt, daß Brahms eigentlich ein verschlossener und pessimistischer Mensch war. Vor allem ist das zweite Thema von anmutiger Stimmung. Der zweite Satz ist wohl am besten mit einer Romanze zu vergleichen, schlicht in ihrer Haltung, warm in ihrer Stimmung. Der Schlußsatz sprudelt über von Laune und Übermut, von Keckheit, Fröhlichkeit und Kraft. Wie so oft, spricht Brahms dies in ungarischen Rhythmen’und Anklängen aus. Die zwei Werke auf dem-Höhepunkt des Schaffens von Johannes Brahms zeigen ihn imVollbesitze einer Meisterschaft, die es vermag, alle Seiten seines Wesens zu offenbaren auch jene, die er so gern versteckte. Johannes Paul Thilman Vorankündigung: Brahms-Zyklus, 8. Abend am 14. Juni 1950, „Abschied vom Leben Dirigent: Prof. Heinz Bongartz Solist: Dietrich Fischer-Dieskau, Berlin (Bariton)