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Avrr? eiticzo Lefev. Mutmaßliche Witterung: Mild, veränderlich. Der Reichstag setzte die Beratung des Kolonialetats fort. Die vier Vertreter der Blockparteien haben den Auftrag er halten, über die Frage der Besitzsteuer bis Montag mittag zu einer Verständigung zu gelangen: die süddeutschen Regierung gen stehen dem Plan einer Rcichseinkommcn- oder Reichs vermögenssteuer immer noch ablehnend gegenüber. Im Preußischen Abgeordnetenhaus wurde in fortgesetzter Beratung des Etats des Innern der Fall Sckiücking erörtert. Fürst Bülow sprach sich einer Deputation des Bundes der Landwirte gegenüber für die Erhaltung des Großgrund besitzes in der Ostmark aus. Das englische Heeresbudget für 1909/10 beläuft sich auf 27135 000 Pfund Sterling gegen 27159 000 Pfund Ster ling 1908/09. In Mantes bei Paris wurden bei einem Einbruch Schmuck- fachen im Werte von 300 000 Mark geraubt. Im türkischen Vilajet Siwas hat ein Erdbeben in vielen Dörfern schweren Schaden angerichtet. Neue Hoffnung auf Frieden »nicht sich in üen europäischen Kabinetten geltend, trotzdem die Spannung zwischen Oesterreich-Ungarn und Serbien noch nichts von ihrer Schärfe verloren hat. Aber man ist aus dem besten Wege, durch gemeinsame diplo matische Vorstellungen in Belgrad den serbischen Don- anichottcrien die kriegerische Spitze zu nehmen oder wenig stens, falls es dennoch zu einer blutigen Auseinandersetzung kommen sollte, den Brand zu lokalisiere». Die Hanptgcsahr bestand vor einigen Tagen darin, dag man über Ruh la nds Haltung nicht klar sehen konnte. Es war zu befürchten, daß das Zarenreich, teils den ans Stärkung feines Einflusses aus dem Balkan gerichteten Bestrebungen, teils panflawistischen Strömungen folgend, sich im Falle eines Krieges zwischen Oesterreich und Serbien aus Seite des letzteren stellen würde. Damit wären aber unter Um ständen Komplikationen entstanden, die den europäischen Frieden anss äußcvstc gefährdet hätten. Ist cs der Vorteil der weitverzweigten Bündnissysteme, daß sie bis zu einem gewissen Grade durch das Schwergewicht ihres politischen und militärischen Machteinslnsses kriegerischen Verwicklun gen Vorbeugen, so liegt anderseits die Gefahr vor, das; sich Zusammenstöße zwischen einzelnen Mächten heute leichter als früher zu einem allgemeinen europäischen Kriegsbrand aus- rvachscn können, weil die VertragSmüchte sich zu weit reichender gegenseitiger Unterstsitzung verpflichtet haben. Das gilt vom Dreibund ebenso, wie für den Zweibund zwischen Frankreich und Rußland. Käme cs, wie noch immer nicht ganz ausgeschlossen, zu einem serbisch-öster reichischen Kriege, so bliebe er an sich eine zwar bedauerliche, aber belanglose Episode, jedoch nur so lange, als Rußland sich zurückhält und nicht zugunsten Serbiens eingrcift. Mit dem Moment, wo das Zarenreich die Partei Serbiens er greifen würde, wären die Folgen unabsehbar. Deshalb gehen auch die Bemühungen der Mächte folgerichtig dahin, es überhaupt zu keinem Kriege kommen zu lasse». Das ist aber nur möglich, wenn Serbien mit aller Energie zur Vernunft gebracht wird. Die Aussichten aus Erfolg in dieser Hinsicht haben sich insofern gebessert, als Rußland sich bereit erklärt hat, bei der gemeinsamen Aktion der Mächte in Belgrad solidarisch mitzuwirke», ivaS es bekannt lich anfänglich ablehnte. Zu diesem erfreulichen Wandel wird »eben der Rücksicht ans die gänzlich unzulängliche mili tärische und finanzielle Kriegsbereitschaft vornehmlich die Einsicht in Rußland mit bcigetragen habe», daß Deutsch land und Frankreich unter allen Umständen gewillt sind, den Frieden aufrechtzuerhalten. Beide Nationen be finden sich hierbei in einer seltenen Nebereinstimmung und jetzt wird cs auch eher erklärlich, weshalb man deutscher seits um jeden Preis die Marokko-Frage endlich aus der Welt geschafft wissen wollte. Der Hinblick auf die Orient- Krisis hat ein entscheidendes Wort dabei m i tg esp r o ch e n : man wollte die Reibungen beseitigen, denn wäre der Ncizzustand zwischen Frankreich und Deutschland chronisch geworden, so hätte die Orient-Frage mit ihrem kritischen Drum und Dran wahrscheinlich schneller als allgemein angenommen wird zu einem unheilvollen Kriegsbrand geführt. Wenn nicht alles täuscht, wird unS der Friede erhalten bleiben, denn, wie die Dinge liegen, befindet sich die Entscheidung Uber Krieg und Frieden aus dem Kontinent in den Händen Deutschlands und Frank reichs. Wenn beide auf ihre Verbündeten in diesem Geiste ernstlich einwirke», so werden wir auch über die jetzige unbehagliche Situation glatt hinivegkommen. Daß Deutsch land in Wien unter der Hand Schritte unternommen hat, um Oesterreich-Ungarn zu größtmöglicher Nachgiebigkeit zu bewegen, ist selbstverständlich, wenn auch aus begreiflichen Gründen in der Oesscntlichkcit darüber nichts verlautet. Wie an dieser Stelle schon einmal ausgeführt, würde eine Hcreinzichung Deutschlands in einen allgemeinen Krieg wegen der Annexion Bosniens und der Herzegowina wenig Beifall in der Nation finden, um so weniger, als Fürst Bülow im Reichstage seinerzeit ausdrücklich erklärt hat, daß er von Oesterreich-Ungarn nicht vorher über den be absichtigten folgenschweren Schritt in Kenntnis gesetzt, sondern ebenso wie die anderen Mächte gewissermaßen vor ein kalt, aeeompii gestellt worden sei. Ist dem also, so hat Oesterreich-Ungarn Grund genug, auch seinerseits alles auszubictcn, um einen Krieg vermeiden zu Helsen, bei dem für Deutschland leicht der Büuduissall cintreten könnte — einer Sache wegen, die uns im letzten Grurrde nicht sonderlich interessiert idenn was haben wir von der Annexion BoSnicnS?!i und derentwegen wir von Wien aus vorher nicht einmal um Rat gefragt worden sind, ob wohl das eigentlich selbstverständliche Pflicht gewesen wäre. Frankreich hat gleichfalls ein hohes Interesse daran, in Rußland zum Frieden zu raten, denn an die 11 Milliarden guten französischen Geldes stecken i» russischen Anleihen. Man hat in Paris bereits einen Truck aus Rußland aus geübt, denn es ist ausfällig, daß die Emission der neuesten russischen Anleihe in Frankreich zwar schon längst erfolgt, aber noch immer nicht abgeschlossen ist. Dieses retar dierende ' Verhakten der französischen Fiuauzkrcise hat offenbar seinen Grund in der Absicht, eine wirksame finan zielle Pression auf Rußland zugunsten des Friedens aus- zuttbcn. Es handelt sich also setzt vornehmlich darum, ob mau in Belgrad zur ruhigen Einsicht gelangen wird oder aber va bongue spielen will. Oesterreich-Ungarn ist bereit, den Serben wirtschaftliche Zugeständnisse zu mache», lehnt aber nach wie vor alle territorialen Ansprüche Serbiens kategorisch ab. Letztere sind auch durchaus unbegründet, wie von allen Mächten zugegeben wird, denn es können in Belgrad keine legitimen Rechtstitel auf Gebietsteile Bosniens oder ö^r Herzegowina geltend gemacht werden. Das einzige, was die Serben mit ihrem halsstarrigen Verhalten erreiche» dürsten, ist, daß sie sich auch die Er langung wirtschaftlicher Vorteile verscherzen, wenn sic cS zum Kriege mit Oesterreich treiben. Serbien steht mit seinen Finanzen schon letzt so schlecht und würde sich durch einen Krieg dermaßen ruinieren, daß cs fraglich ist, ob Oesterreich überhaupt auf die Zahlung einer Kriegsent schädigung rechnen könnte. Um so weniger wird dann aber auch zu verlangen sein, daß man in Wien den Serben obendrein noch wirtschaftliche Vorteile zubilligt. Das sollten die Exaltados in Belgrad bedenken, wenn sie überhaupt noch vernünftiger Gedanken fähig Pnd. Leider hat die Er klärung, mit der das neue Ministerium vor die Skupsch- tina getreten ist, kein Nachlassen der frivolen kriegerischen Stimmung in Serbien verraten. Hoffentlich gelingt es aber der bevorstehenden gemeinsamen diplomatischen Aktion, die erhitzten Köpfe etwas abzukllhlen und ihnen die ganze Torheit ihres Treibens recht eindringlich zu Gemttte zu führen. Es wäre in der Tat ein Unding, wenn die Serben sich gegen den Willen Europas mausig machen und einen Krieg heranfbcschwören dürsten, dessen Kreise sich im vor aus nicht bestimmen lassen. Nochmals die Kommissionsanträge zur Reichsfinanzreform. Zwischen dem Reichskanzler, dem Ncichöschatzsekretär und Len Parteiführern schweben unausgesetzt Verhand lungen. Die Finanzkommission tritt etwa DienStag erst wieder zu einer Sitzung zusammen. Von hervorragender nationaler Seite wird uns geschrieben: „»Die Deutschen wollen in der Politik partvut immer da hinaus, wo kein Loch ist", dieser Ausspruch eines Eng länders scheint in Sachen -er NcichSfinanzreform wieder zur traurigen Wahrheit zu werden. Alle Parteien sind mit den verbündeten Negierungen darüber einverstanden, daß die unumgängliche Erhöhung der Verbrauchs abgaben mit einer Vermehrung der Abgaben vom Besitze Hand in Hand gehen möchte. Als Abgaben vom Besitze kommen — a priori betrachtet — nur die Besteue rung der Erbschaften und die lausende Besteuerung des Vermögens der Lebenden in Betracht. Ta die letztere teils als allgemeine oder partielle Vermögenssteuer, teils als Grund- und Gebäude-, Gewerbe- und Kapitalrentenstcucr von den Bundesstaaten und Gemeinden bereits reichlich in Anwendung gebracht wird und die Möglichkeit einer etwaigen Erhöhung und Fortentwicklung dieser Steuern den Bundesstaaten und Gemeinden Vorbehalten bleiben muß, wenn anders sie ihren Kulturaufgaben gerecht wer den sollen, so sind die verbündeten Negierungen zu dem ungemein naheliegenden, ja sich ganz von selbst ergeben den Vorschläge gelangt, die Besteuerung des Besitzes für Reichszwecke in der Form einer Erweiterung der Erb schaftssteuer durchzusühren. Dieser Vorschlag bezweckr keineswegs eine kühne Neuerung, mit der sich das Reich auf ein noch unbekanntes Steuergebiet hinauswagen würde. Tie Besteuerung der Nachläße auch in der Hand der Abkömmlinge und des Ehegatten des Erblassers ist in allen Kulturstaaten außerhalb des Deutschen Reiches von altershcr geltendes Recht, und kein Mensch denkt daran, sie abzuschafsen. Die von den verbündeten Negierungen ausgestellten Grundsätze für eine der Billigkeit und Ge rechtigkeit entsprechende Durchführung der Reform müssen zur Anerkennung gelangen. Die Parteien des Reichstags mögen sich nicht darüber täuschen: Tie Vor schläge, die s i e gemacht haben, um eine Besteuerung -es Besitzes für Rcichszweckc hcrbeizustthre», sind völlig un annehmbar. ^ In erster Linie gilt dies von dem Vorschläge der N a - tionallibcralen ans Einführung einer Reichsver- mögcnsstcuer. Die Vermögenssteuer ist neben der Ein kommensteuer. zu deren Ergänzung sic dient, das Prototyp einer direkten Steuer. Als solche erfordert sic alljährliche oder doch in zwei- oder dreijährigen Perioden sich wieder holende allgemeine Veranlagungen aller Steuerpflichtigen. Diese allgemeinen Veranlagungen setzen bekanntlich einen großen Apparat von Behörden und Kommissionen in Be wegung und erfordern auf Schritt und Tritt eine Mit wirkung der Gemeinden. Soll eine solche Steuer für Rcichszweckc erhoben werden, so muß das ganze Benin- lagnngs-, Rechtsmittel- und Erhebungsvcrfahren unter eingehende Kontrolle des Reiches gestellt werden, und diese Kontrolle würde zu einer derartigen Durchsetzung des Organismus der Einzelstaaten mit Reichsorgancn führen, daß die Einzclstaaten, wie der Reichskanzler Fürst Bülow sehr zutreffend erklärt hat, hierdurch tatsächlich mediatisiert werden würden. Es gibt Fanatiker des Einheitsstaates, die dies nicht bedauern würden. Diese sollten sich aber ver gegenwärtigen. daß nicht nur die Einzclstaaten, sondern auch die — ebenso wie die Einzclstaaten auf direkte Steuern angewiesenen — FKmeinden und vor allen Dingen die Steuerzahler selbst unter dem Drucke einer Neichsver- mügenssteucr aufs schwerste zu leiden haben würden. Der preußische Finanzminister, Freiherr non Rheinbaben, hat, schlagfertig wie immer, bereits daraus hingcwiesen, daß die Aufbringung von 150 Millionen jährlich im Wege der Rcichsvermögensstcncr für das preußische Steuergebirt einem Mprozentigen Zuschlag zur preußischen Ergä»- znngssteucr gleichkvmmen würde. Auf das Königreich Sachsen würden von de» anszubringcnden 150 Millionen »ach dem Matzstabc des Vermögens vielleicht 15 Millionen entfallen: das. wäre rund das Doppelte des gesam ten Auskommens an sächsischer G rund- seinschlicß- lich Gcbäudc-j st euer und E r g ä n z u n g s st c u e rl Ungangbar ist auch der von der Reich spart ei vorgcschlagenc Weg. Danach sollen die vom Besitze z» erhebenden 150 Millionen »ach Maßgabe einer einheitlichen, rcichsgcschlich geregelten Veranlagung des Vermögens der Zensitcn aus die einzelnen Bundes staaten umgelegt und von diesen entweder ans Grund dieser reichsgesetzlichen Veranlagung oder durch andere, den Besitz oder die höheren Einkommen belastende Steuern aufge bracht werden. Es liegt aber ans Ser Hand, daß dieser Vorschlag nichts ist als eine zwitterhafte Mißbildung zwischen Matrikukarbeiträgen und RcichSvcrmögens- oder Ncichscinkommensteuer, mit dem Zwecke, die Steuerquellen der Einzclstaaten und Gemeinden in das gähnende Loch des Reichsdefizits zu leiten, ohne Rücksicht darauf, daß auf diese Weise auS einer Rcichssinanznot eine nicht minder verderbliche Finanznot der Einzelstagten und Gemeinde«