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Nr. SIS. Neunter Jahrg. Montag, 14.Novbr. 1864. Erscheint: Täglich früh 7 Uhr. Inserate werden angenommen: bieAbendSS,Sonn tags bis Mittag- IS Uhr: Marienslraße 18. Anzeig. in dies. Blatte, da» jetzt in 1V,W0 Exemplaren erscheint, finden eine ersolgrciche Verbreitung. Abonnement: Vierteljährlich 2vNgL bei unentgeldlicher Ldi» serung in's Hau-. Durch die Königl. Post vierteljährlich 22 Rga. Einzelne Rummrru 1 Ngr. Tageblatt für Unterhaltung und Mitredacteur: Theodor Drobisch. Inseratenpreise: Für den Raum einer gespaltenen Zeile: 1 Ngr. Unter „Einge sandt" die Zeile r Ngr. Druck und Eigrnthum der Herausgeber: Eiepsch äl Neilhardt. — Verantwortlicher Redactrur: JultUS Nellhaldt« VreSde», dm 14. Novembern — Zur Feier der Vermählung I. Kgl. Hoh. der Prin zessin Sophie, welche, wie man hört, im Januar k. I. statt finden soll, wird im König!. Hoftheater „der Feensee" zum ersten Male gegeben und werden dazu außer einer im Ganzen exquisiten Ausstattung auch Wandeldekorationen gefertigt. Uebrigens soll man auch schon mit Beschaffung der Prin zessinaussteuer beschäftigt sein; sie soll äußerst brillant werden, wie nach geschehenen Ankäufen rc. geschlossen werden kann. Dem königl. Hofe stehen da wieder einmal Freudentage bevor, nachdem ihn viel Leid betroffen. — Das vorgestrige, in Meinholds Sälen abgehaltene Festmahl zu Ehren der Jubelfeier der Dresdner Königlichen Kunstakademie zählte weit über ZOO Theilnehmer. Einem sin nigen Festspiel, die Verherrlichung der Künste in Vergangen heit und Gegenwart darstellend, folgte das durch schwungvolle Toaste gewürzte Festmahl, an dem auch die Herren Staats minister Theil nahmen. In besonders beredter Weise bekun dete Herr Staatsminister von Neust die Theilnahme an die sem seltenen Feste. Auch die heitere Muse fand ihre bewähr ten Vertreter durch die Herren Maler Wegener und Hentze, einen im Druck erschienenen Festscherz mit gewohnter Virtuo sität vortragend. Wir kommen auf die Details dieses Festes noch später zurück. — Am vorvergangenen Sonntag Vormittag 11 Uhr ver sammelten sich die Mitglieder des Gewerb-Vereins zu Glas hütte im Saale des Gasthauses „zur Post" zu einer ernsten und würdigen Feier. — Der junge Verein, vor neun Mo naten erst aus der Taufe gehoben, begann seine gemeinnützige Thätigkeit mit der Begründung einer Gewerbe-Sonntags- Schule. Wie sehr das Bedürfniß geistiger Fortbildung von unserer > Heranwachsenden industriellen Bevölkerung empfunden wurde, dafür bürgt der gewiß erfreuliche Umstand, daß 59 unse rer jungen Leute dieser Feier als zukünftige Schüler des Instituts beiwohnten. — Mit dem Vortrag des herrlichen Liedes unseres Wolfgang Amadeus „Brüder reicht die Hand zum Bunde" begann die Festhandlung, hier anknüpsend ergriff der Vor stand des Vereins, Herr Uhrenfabrikant Großmann das Wort, um seinen jüngeren Brüdern die Bedeutung des, in ihrem Interesse geschaffenen Instituts ans Herz zu legen und dabei die Ueberzeugung anszusprechen, daß in richtiger Erkenntniß des Werthes der, auch dem Gewerbe unentbehrlich gewordenen Wissenschaften die Theilnahme eine gleich rege, ja fort und fort gesteigerte sein möge. Der, in seiner Eigenschaft als Bürgermeister der Feier beiwohnende, durch Begründung der Uhrenfabrication um Glashütte hochverdiente Herr Uhrenfab- ricant Lange, erkannte mit beredten Worten die segensreiche Wirksamkeit des Vereins an, welche durch diesen Act einen würdigen Ausdruck empfing, schilderte in eingehender Weise die in fortwährender Zunahme begriffene Umwälzung unserer gewerblichen Verhältnisse und empfahl den versammelten Schü lern dringend, sowie ihrem Körper die leibliche, ihrem Geiste die geistige zur Entwickelung nothwendige Nahrung nicht vor zuenthalten. Aus einem, hierauf erstatteten Bericht ersehen wir, daß einmalige und fortlaufende namhafte Spenden die materielle Zukunft des Unternehmens gesichert haben und daß auch durch die dankenswcrthe Schenkung von 40 Bändchen wissenschaftlicher Werke seitens des Herrn Bürgermeister der Grundstein zu einer Bibliothek gelegt wurde. — Dem Lehrcr- amt haben sich in uneigennützigster Weise die hiesigen Herrn Lehrer, wie einige tüchtige industrielle Kräfte bereitwilligst unterzogen. — I'. Nachdem Hr. vr. Semler seine diesjährigen Vor träge über „Deutsche Poesie" mit „Tristan und Isolde" be gonnen hatte, folgte Sonnabend, den II. dies., der zweite, welcher Christ von Grimmelshausen's Simplicius Simplicissimus behan delte. Die Einleitung zu diesem, den spanischen Schelmenromanen nachgebildeten, bedeutenden deutschen Roman, der streng im Volksleben wurzelt, geschah mit der Biographie des Dichters, der Characteristik seines Humors und der Vergleichung des Simplicissimus mit Eschenbach's Parzival. Den Inhalt des von Grimmelshausen um 1609 in 6 Büchern geschriebenen Romans, erläuterte Herr vr Semler in von ihm gewohnter klarer Weise, und hob dabei die in diesem Werke liegenden Eigen tümlichkeiten, vorzüglich Humor und Kraft, paffend hervor. Ebenso war der Hinweis auf das lebendige Gemälde der un heilvollen Zeit während des dreißigjährigen Krieges, welches im Simpl, liegt und daß der erwähnte Roman gleichsam die erste deutsche Robinsonade ist, vom Vortragenden besonders be rücksichtigt worden. Im nächsten, Sonnabend den 19. dies., stattfindenden Vortrag, wird Herr Or. Semler Göthe's Wer- ther's Leiden besprechen. — Aus der Fluth der Kalender ragt auch dießmal, wie in früheren Jahren, der Ameisenkalender hervor. Die im vergangenen Jahre hervorgegangene Auflage von 60,000 Exemplaren ist auch dießmal wieder nöthig geworden, indem nicht nur Bestellungen von Rußland, sondern auch, trotz der kriegerischen Zustände in Amerika, bedeutende Verlangzettel von Neu-Orleans eingegangen sind. Würde sich, wie oft ge wünscht worden, der Ameisenkalender bequemen, die Sonn- und Festtage roth zu druckeq und die Witterung-Vorher- sagung nach dem hundertjährigen Kalender wieder einführen, so könnte sich sein Absatz um tziele Tausend vermehren. Von diesen Dingen aber hat er abgesehen, und wenn hier und da von einem Dörfler die Rede ertönt: ich kann mich bester in roth und schwarzen Druck finden, so zwingt dieß dem Ver ständigen nur ein Lächeln ab. Die Witterungsbestimmung nach dem hundertjährigen Kalender ist Unsinn, und aus diesem Grunde wird der Ameisenkalender meist auch nur von gebil deten und sich dem Fortschritt anschließenden Landleutrn begehrt. — Nach den „Münchener Nachrichten" soll auf Befehl des Königs von Bayern eine Opernschule in München ge gründet werden unter Leitung Richard Wagner's und unter Beiziehung des Gesanglehrers Friedrich Schmitt in Leipzig, Verfassers der großen Gesangschule für Deutschland. — Im Zweiten Theater wird in den nächsten Tagen die Soubrette Frl. Weirauch Tochter des beliebten Komikers und Poffendichters Weirauch, debutiren. — Die seit mehreren Wochen hier stark aufgetretenen Kinderkrankheiten, Masern rc. wollen noch nicht recht weichen, manche Schule hat starke Lücken in ihren Bänken. Doch ist deren Verlauf bei nur einigermaßen angemessener Behandlung der kranken Kinder so mild, daß Sterbefälle zu den Selten heiten gehören. — -p Oeffentliche Gerichtsverhandlung vom 12. Novbr. Zwei kleinere Hauptverhandlungen kündigt für heut das schwarze Bret an. Dev, Gerichtsdiener bringt ein Paquct alter Wäsche in den Saal' und breitet den Inhalt behutsam auf dem Gerichtstisch auseinander. In der ersten Sitzung handelt sich's um einen Diebstahl. August Ferdinand Stenze! wird um halb 10 Uhr aus der Haft vorgeführt. Er ist erst 19 Jahre alt, aus Frauenstein gebürtig, der Sohn eines bereits verstorbenen Fleischergesellen, evangelisch und Dienstknecht. Er war schon zweimal in Untersuchung. Einmal in Dippoldis walde wegen mehrerer Diebstähle, da erhielt er 6 Wochen Gefängniß, ein anderes Mal in Pirna, da wurde er freige sprochen. Zuletzt diente er bei einem Gutsbesitzer in Streh len, früher bei dem Gutsbesitzer Dreßler in Sobrichau. Im letzteren Grundstück war er bekannt. Dahin ging er in der Nacht des 25. September 1864, in der Absicht zu stehlen. Das Gehöfte war offen und da im Kuh- und Pferdestärke sich noch beschäftigte Leute befanden, so versteckte er sich vorläufig im Hose, bis Alles ruhig war. Dann stieg er eine Treppe hinauf in die Kammer, wo die Knechte schliefen und stahl dort Sachen im Werthe von 7 bis 8 Thalern, Kleider und Geld, eine Jacke, 1 Paar Hosen, 3 Hemden und 1 Thlr. 26 Ngr. 5 Pfg baar. Er gesteht Alles bereitwilligst zu. Die Verletzten, der 19jährige Dienstknecht Wilhelm August Schramm und der ebenso alte Pferdejunge Earl August Lucas erhalten heut ihre Sachen wieder zurück, nur das Geld nicht; denn das hat Stenzel verausgabt. Herr Staatsanwalt Heinze beantragte kurz die Bestrafung Stenzels auf Grund des Verweisungser kenntnisses. Bald darauf verkündete der hohe Gerichtshof das Urtel, das auf 6 Monate und 2 Wochen Arbeitshausstrafe lautete. — Die Nachfolgerin Stenzels auf der Anklagebank ist die unverehelichte Johanna Eleonore Pauline Tanner aus Bischofs werda, eine lange, hagere Gestalt. Die Sprache ist eine ge bildete, die Geständnisse sind offen,* nur in Bezug auf einzelne Kleinigkeiten leugnet sie. Sie befand sich den ganzen vorigen Winter in der dringendsten Noch. Sie hatte ein Kind ge boren außer der Ehe, hatte cs 8 Monate lang an der Brust und verdiente während der Zeit keinen Pfennig. Der Vater des Kindes gab ihr nur Anfangs einiges Geld, später nichts mehr Sie wurde krank, ihrer Armuth wegen konnte sie kei nen Arzt consultiren. Sie weint heut beständig. Heutist sie wegen Diebstahls wieder angeschuldigt, den sie bei 2 Frauen verübt haben soll. Nur der Geldbetrag, den sie entwendet, ist nicht gering. Sie nähte einmal in der Woche und zwar schon seit 4 Jahren bei einer gewissen Sonnthal. Der stahl sie aus einem un verschlossenen Schubkästchen 20 Thlr. 5 Ngr. in zwei zehn- thälerigen Kassenanweisungen. Sie giebt es zu und sagt, sie hätte gar nicht so viel nehmen wollen, hätte auch gar nicht gewußt, daß es 20 Thlr. seien, was sie genommen. Sie hätte es dann gern wieder in den Schubkasten gelegt, aber da kam der Lehrer, der dem „Fräulein" Stunde gab. Außer dem soll sie dort noch entwendet haben: 2 Hemden, l Paar Frauenhosen, Strümpfe, Kaffeeservietten, Handtücher, 1 Scheere, 1 Gardine, 1 Bettüberzug, 1 Päckchen Borte, Zeugreste, eine Partie Seife, eine Nagelfeile, einen silbernen Fingerhut im Werthe von 4 Ngr. Die 50jährige Frau Friederike Sonn thal erkennt ihre Sachen wieder, sie liegen alle vor dem Ge richtshöfe da; denn eS ist Alles »biedererlangt, außer dem Gelde. Die Kleider hatte sie auf dem Leihhause versetzt, das Geld für sich verwendet, da sie in dringendster Noth Bei einer gewissen Wallerstein nähte sie auch, dort fehlt- mr Unterrock. Die Tanner will ihn nur aus Versehen mitge nommen und dann erst behalten haben. Mit den SO Thaltrn bezahlte sie auch unter Anderem den rückständigen Zins. Herr Staatsanwalt Heinze verwendet sich sehr für die Tanner. Er hebt am Schluß seiner Rede besonders die Noth, die Krank heit der Angeklagten hervor, den geringen Verdienst, die große Sorge für ihr neugebornes Kind. Er beantragt ihre Bk- sttafung. Die gestohlnen Sachen sind zumeist noch unver- schlechtert; denn sie lagen auf dem Leihhause. Sie erhielt 5 Monate und 2 Wochen Arbeitshaus. * In Sachen Franz Müller's hat der deutsche RechtS- Schutzverein der Königin eine Petition, wegen Aufschub der Hinrichtung, eingereicht. In der Schrift sind alle Momente,' welche für Müller's Unschuld sprechen, scharfsinnig zusammen gestellt Dieselbe meldet u. A. daß der Hausirer, welcher allem Anscheine nach die Gegenstände an Müller verkauft habe, aufgefunden sei. Darauf wird die Aussage eines Eisen« bahnbeamten angeführt, welcher in der Station Hackney Wick, als der Zug um 10 Minuten vor 10 Uhr am Abend des 9. Juli dort ankam, einen Mann in außergewöhnlicher Hast aus steigen und forteilen sah und in Müller diesen Menschen nicht erkennen konnte; und diesem folgt die Angabe eines (bisher noch nicht verhörten) Zeugen, der etwa hundert Schritte von dem Orte, wo Mr. Briggs Leichnam gefunden worden, einen Menschen, dessen Gesicht und Anzug mit Blut bedeckt gewesen, habe wegeilen sehen, und aus der Zusammenstellung dieser letzten Aussagen wird auf die Folgerung gedeutet, daß die beiden Menschen identisch mit den von Mr. Lee in dem Coups bei Mr. Briggs gesehenen Individuen und die Thäter des Verbrechens gewesen seien. Eine weitere neue Zeugenaus sage wird angeführt, laut welcher am Abend des 9. Juli um 1 l Uhr ein Mann in sehr aufgeregter Weise eine schwere und altmodische goldene Uhr in 8t 6eroßos in ttis Lg sl (dem Ma trosenviertel Londons) zum Kauf angeboten habe; die Polizei habe von diesem Factum Kenntniß erhalten, cs aber nicht weiter untersucht und dem Zeugen nicht einmal die Uhr Mr. Briggs zur etwaigen Jdentificirung vorgelegt. Da es nicht bewiesen sei, daß Müller jemals auf jener Bahn gereist sei, da auch die Anklage ihm keine Prämcditirung zuschreibe, d» es nicht wahrscheinlich sei, erstens daß er, ein Schneider geselle, erster Classe fahren, zweitens daß er, ein Mensch von kleiner ud schwächlicher Statur, einen starken Mann, wie Briggs, allein angreifen würde, so stellt die Schrift als die viel wahrscheinlichere Hypothese hin, daß Mr. Briggs, der Burcauches eines Bankhauses, das Opfer eines von geübten und geschulten Londoner Dieben voraus- berechneten Anschlages geworden sei. Es schließen sich daran die (schon vor mehreren Tagen erwähnten) von Herrn Pools in Edmonton, von einem Apotheker in der Nähe von Hackney Wick und von dem Schenkwirt!) John Bennett in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli beobachteten Vorfälle und der Schluß, indem er sich gegen eine Verdächtigung der Jury verwahrt, weist auf den Criminalfall des Dr. Smethurst hin, der gleichfalls schon zum Tode verurtheilt war, dessen Ver anlagung sich aber darauf als unbegründet erwiesen habe> und drückt die zuversichtliche Hoffnung aus, daß ein ähnliches Resultat der Gewährung des in dem vorliegenden Falle nach gesuchten Aufschubes folgen werde. Wie man in der „Times" lies't, erschienen am 8. November vor dem Polizeirichtcr Ellison in der Worshigstreet kurz vor dem Schluffe der Amtsgeschäfte mehrere Personen, um Aussagen zu Müller's Gunsten zu de- poniren. So bekundete Herr Andrä Massen«, Baron de Ca- nino aus Paris, Nur de Richelieu, daß am Abend des 9. Juli, als er auf dem Wege nach Mile-End irre gegangen und an die Eisenbahn zwischen der Hackney-Wick- und Bow- Station gerathen war, er sich von einem Arbeiter dort habe zurechtweisen lassen; „während dessen kam ein Mann, der von Kopf bis zu Fuß blutig war und sehr schwankte, so daß ich zu dem Arbeiter, der bei mir war, sagte, der sehe gerade aus, wie ein Mörder, oder wie einen, den man habe morden wollen, worin mein Begleiter mir beistimmte. Als der blutbedeckte Mann unserer ansichtig wurde, wich er aus und lief nach dem Canal zu." Die andern Personen waren die schon vor der Jury im Zcugenverhör erschienenen Eheleute Blyth, welche nochmals erklärten, daß die Kleider und der Hut Müller's, die sie ganz genau gekannt habe, nach wie vor dem 9. Juli unverändert dieselben gewesen seien und nichts Auffälliges gezeigt hätten, als ob sic gewaschen oder sonst wie gesäubert worden wären. Der im Coupii gefundene Hut habe Müller nie gehört, auch nie gehören können, da derselbe seine Sachen gut schonte und einen derartig verlumpten Filz nie hätte tragen mögen. , ' St 44