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Der sSchftfche Erzähler. Vette ». reichenden Streitkräften, die Zerstreuung des Bourbaki'schen Heeres durch den plötzlichen, mit genialem Weitblick eingelriteten Vormarsch zweier deutscher Korps in der Januarkälte des Jahres 1871 — diese Thaten enthüllten unserm Volke und der Welt den schlachtendenkenden, den kräfte wägenden, den siegbannenden Genius Moltke's. Nicht hoch zu Roß, mit flatterndem Mantel und wehendem Helmbusch, wie andere Kriegs fürsten und Feldherren, stellten wir uns Moltke vor. Ihn sahen wir am liebsten in die Weite blickend, das Fernglas in der Hand, oder über eine Generalstabskarte gebeugt, sinnenden Auges, mit gespannter geistiger Kraft, die Entfernungen mit dein Zirkel messend. Die Schärfe und Klar heit des Denkers, die Kühnheit des Erfinders ist für sein Wesen bezeichnender, als die Haltung und die Schlagkraft des Helden. In ihm hat sich gleichsam die Idee der modernen Kriegfüh rung, der Begriff der neuen Kriegskunst verkörpert. Aber die ungewöhnliche VolkSthümlichkeit, deren sich Graf Moltke erfreute, ist nicht allein aus seinen militärischen Erfolgen zu erklären. Sie ist das Ergebniß eines zugleich harmonischen und bescheidenen Charakters, eines edlen Herzens und einer umfassenden Bildung. Feind aller Prunksucht, wie jedes echte Verdienst, voll Wohl wollen auch für entgegengesetzte Ucberzeugung, immer klar, sachlich und maßvoll, so konnte Graf Moltke auch in der Gesetzgebung von allen Parteien gefeiert und verehrt werden. Die Achtung, welche daS höchste Streben und der höchste Erfolg erheischen, wurde bei ihm zur warmen, herzlichen Verehrung gesteigert durch die Selbstlosigkeit und Lauterkeit seines Wesens. Er konnte sich mit dem Bewußtsein zur ewigen Ruhe legen, daß er nie einen Feind, wohl aber eine ganze Nation zum treuen, dankbaren Freund gehabt, die heute trauernd an seiner Bahre steht, und ihm auch über den Tod hinaus die Treue halten wird. Politische Weltschau. Eine Festwoche liegt hinter uns. Es ist nicht zu viel gesagt, daß in diesem Jahre das Fest des Geburtstages unseres Königs im ganzen Sachseillande mit verdoppelter Herzlichkeit und in ungewöhnlich feierlicher Weife begangen worden ist: Kein Tag dieser Woche ist vergangen, an dem die Zeitungen nicht über festliche Veran staltungen mannigfachster Art zu berichten hatten, die ausschließlich den patriotischen Zweck ver folgten, Zeugniß abzulegen von der hohen Ver ehrung und warmen Liebe, mit der das getreue Sachsenvolk den Landesvater umfaßt. In der Bethätigung seiner königstreucn Gesinnung ist unser Bischofswerda hinter den anderen Städten und Gemeinden des Landes nicht zurück geblieben. Ein edler Wetteifer hatte die Vereine und sonstigen Körperschaften unserer Stadt erfaßt in dem Bestreben, öffentlich Zeug niß abzulegen von den Gefühlen, die in diesen Tagen Aller Herzen bewegten. Mit besonderer Genugthuung aber hat es das Sachsenvolk er füllt, daß auch diesmal Kaiser Wilhelm nach der Residenz unseres Königs geeilt ist, um dem König Albert, dem ihm von allen deutschen Fürsten am nächsten stehenden Bundesgenossen, glück wünschend die Hand zu drücken. Der Reichstag hat nunmehr die zweite Lesung der Arbeiterschutz vorlage zu Ende gebracht. Eine erregte Rede schlacht hat sich noch um den Paragraphen 153 der Gewerbeordnung entspannen. Der bisherige Paragraph stellt Denjenigen unter Strafe, der Andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrverletzung oder durch Berrufserklärung bestimmt oder zu bestimmen versucht, an Koalitionen theilzunehmen, oder Andere durch gleiche Mittel zu hindern versucht, von solchen Koalitionen zurückzutreten. Das Wesentliche der Erweiterung des Paragraphen, welche die Regierungsvorlage vorschlug, bestand darin, daß auch Derjenige mit Strafe bedroht wird, der mit den angegebenen Mitteln es unter nimmt, Arbeiter, welche nicht an der Vereinigung theilgenommeu haben, zur Einstellung der Arbeit zu bestimmen oder an der Fortsetzung oder An nahme der Arbeit zu hindern. Zugleich war das Strafmaaß (bisher Gefängniß bis zu drei Monaten) dahin erhöht, daß Gefängniß nicht unter einem Monat und, wenn die Handlung gewohnheitsmäßig begangen ist, nicht unter einem Jahre cintritt. Außerdem sollten die gleichen Strafvorschriften auf Denjenigen Anwendung finden, welcher Arbeiter zur widerrechtlichen Ein stellung der Arbeit oder Arbeitgeber zur wider rechtlichen Entlassung von Arbeitern öffentlich auffordert. In der Kommission war der Para graph der Regierungsvorlage abgelehnt worden. Im Plenum beantragten die Sozialdemokraten, den Spieß umzukehren und nicht nur Diejenigen mit Strafe zu bedrohen, welche andere an der Theilnahme von Vereinigungen verhindern, son, dern auch Diejenigen, welche vereinbaren, Ar beitern deshalb, weil sie an Vereinigungen theil- genommen haben, die Arbeitsgelegenheit zu er schweren, sie nicht in Arbeit zu nehmen oder aus der Arbeit zu entlassen. Daß der Reichstag diesen Antrag ernst nehmen würde, haben die Sozialdemokraten selbst nicht erwartet. Zwei Tage hat sich der Reichstag mit diesem Para graphen beschäftigt. Das Ergebniß war, daß Alles beim Alten bleibt: Mit 142 gegen 78 Stimmen wurde die von der Regierung bean tragte Verschärfung, und zwar gegen die Stimmen der Konservativen, Freikonservativen und Natio nalliberalen, abgelehnt, und dann der Rest der Vorlage angenommen. Im preußischen Abge ordnetenhause ist es zu einer Verständigung zwischen den beiden konservativen Fraktionen und den Nationalliberalen über die Landgemeinde ordnung gekommen, bei welcher das Zentrum unter Führung des Herrn von Huene eine ziem lich klägliche Rolle spielte. Mit Ausnahme der Zentrumspresse sind denn auch die Blätter der verschiedenen Richtungen darüber einig, daß Herr von Huene die erste Probe auf seine Fähigkeit, die Rolle Windthorst's hinter den Koulissen zu spielen, sehr schlecht bestanden hat. Es wird jetzt auch bekannt, daß Herrn von Huene, ob gleich er die Einladungen zu den Konferenzen von Vertretern aller Fraktionen hat ergehen lassen, in diesen Konferenzen nicht einmal der Vorsitz überlassen worden ist. Die Niederlage, welche er erlitten hat, wird dadurch noch be deutungsvoller, daß sie durch die Deutschkonser vativen bewirkt worden ist. Wie bekannt, hatte Herr von Huene sofort nach Schluß der zweite» Lesung hervorragende und bei den Berathungen der Landgemeindeordnung besonders betheiligte Mitglieder des Abgeordnetenhauses zu Aus gleichsverhandlungen eingeladen, welche indessen eine Einigung nur über redaktionelle Aenderungen erzielten, im Wesentlichen aber scheiterten, weil die Deutschkonservativen sich von Herrn v. Huene, obwohl dessen Anträge im konservativen Sinne abgefaßt waren, keine gebundene Marschroute vor schreiben lassen wollten. Ueber den Kopf des Herrn von Huene hinweg haben sich schließlich die Kartcllparteien zusammengefunden und ein Kompromiß abgeschlossen, das die Zentrumspartei matt setzt. Dem alten Windthorst würde der gleichen nicht passirt sein, meint die „Freisinnige Zeitung". Jedenfalls liegt ein eklatantes Miß lingen des Huene'schcn ersten Versuches vor, als Führer des Zentrums eine ausschlaggebende Rolle im Abgeordnetenhaus zu spielen. Herr von Huene hat übrigens mit dem verstorbenen Führer des Zentrums nur Eins gemein: die Trivialität des Inhalts seiner Reden. Aber > die Trivialität allein thut es nicht; Windthorst besaß noch andere Eigenschaften, welche Herrn von Huene abgehen; und ander seits besitzt dieser eine, die der verstorbene Windt horst nicht hatte und die leicht nachtheilig wirkt: er läßt es die anderen Parteien merken, daß er ihnen seinen Willen aufzuerlegen gedenkt. Solche Absicht verstimmt und führt zu Niederlagen, wie er soeben eine bei dem ersten Austreten als Führer erlitten hat. Im rheinisch-westfälischen Kohlenrevier gährt cs wieder einmal höchst be denklich. Vorläufig ist es nur zu theilweisen Ausständen gekommen, aber man befürchtet im Dahlhauseuer und Bochumer Bezirk den Aus bruch eines allgemeinen Ausstandes. Die Streik bewegung nahm ihren Anfang in der Mitte der vorvergangenen Woche auf der Zeche „Eintracht Tiefbau" bei Steele a. d. Ruhr, und zwar legte die gesammte Belegschaft des Schachtes II die Arbeit nieder. Die Streikenden stellten die nachstehenden Forderungen: 1) Anerkennung der Delegirten und in Streitigkeitsfällen Verhandlung mit denselben; 2) Dauer der Seilfahrt nur Vs Stunde, wenn sie länger dauert, muß die übrige Zeit auf Kosten der Förderschicht gehen; 3) Wiederbezahlung des Metergeldes wie früher; 4) Nichtschließen des Fahrschachtes weder oben noch unten; 5) Rückgängigmachung des Abzuges, überall da, wo am 14. April das Gedinge ge kürzt worden ist; 6) das hohe Bestrafen (3 Mk.) gegen willkürliche Feiern soll wegfallen; 7) freies Wctterlampenöl; 8) neue Kaue und 9) Nicht pumpen beim Schichtenwechsel. Auch auf der Zeche „Ver. Sellerbeck" kam es zum Ausstande, jedoch fand derselbe bereits wieder sein Ende. Bedenklicher dagegen war der Ausbruch eines Ausstandes auf der Zeche „Fröhliche Morgen sonne" bei Wattenscheid, welche der Zeche „Ein tracht Tiefbau" benachbart ist. Denn alsbald schlossen sich demselben die nachfolgenden. Zechen an: „Hasenwinkel" (Bochumer Verein), „fried licher Nachbar", „Baaker Mulde", „Holland", diese alle im Bezirk Dahlhausen, ferner „Zentrum" im Bezirk Gelsenkirchen. Die Bergarbeiter legten zum Theil die Arbeit nieder, ohne irgend welche Gründe anzugeben, hier und da wurde erklärt, man streike „aus Liebe zu den Kameraden" auf „Fröhliche Morgensonne" und „Eintracht Tief bau." Jnsgesammt dürften bisher etwa 15,000 Bergarbeiter die Arbeit eingestellt haben. Bemerkt wurden vielfach sozialdemokratische Agitatoren, welche die Arbeiter in den Wirthschaften mit Schnaps bewirtheten und sie zum Niederlegen der Arbeit aufforderten. Den Leitern des Zen tralvorstandes der Bergarbeiter sollen, wie be hauptet wird, die theilweisen Streiks nicht sehr gelegen gekommen sein, da sie beschlossen hatten, zunächst noch die Organisation zu vervollkommnen. Ob der Ausstand unter solchen Umständen um sich greifen und eine große Ausdehnung gewinnen wird, läßt sich in diesem Augenblicke nicht voraussehen. Die Erfahrung von 1889 hat ge lehrt, daß im Kohlenbezirke eine derartige Be wegung wie ein Flugfeuer mit „elementarer Ge walt" die Massen zu ergreifen im Stande ist. Genaue Kenner der dortigen Verhältnisse ver sichern, daß sich auch nicht im Entferntesten eine Vermuthung aussprechen lasse, wie die Dinge in den nächsten Tagen aussehen werden. Die Aus dehnungsfähigkeit des einmal ausgebrochenen Streikfiebers sei unberechenbar. Vernunstsgründe und die ökonomische Lage verlören in einem solchen Augenblicke allen Einfluß auf die Ent schließungen der Menge. Das österreichische Abgeordnetenhaus hat am Donnerstag seine dringendste Arbeit der Session verrichtet, indem es ohne Debatte die Bewilligung des vorläufigen Budgets ausfprach. Im Adreßausschuß ist es zu einer Einigung der verschiedenen Parteien nicht gekommen, was haupt sächlich in der Wahl des Polen Bilinski zum Redner zum Ausdruck kam. Die Deutschliberalen schlugen Plener vor, die ehemalige Rechte ging aber zusammen, und selbst die Jungczechen stimmten für Bilinski. Damit ist nun aller dings die Abfassung einer gemeinsamen, von allen Parteien vertretenen Adresse noch nicht unmöglich geworden. Es kommt eben darauf an, welches Gesicht der Adreß-Entwurs, den Herr Bilinski im Prinzip schon fertig haben soll, tragen wird. Zweifellos zieht die Regierung einen möglichst farblosen Entwurf vor; alle Parteien sollen ihre Sonderwünsche jetzt zurück halten, wenn auch die Regierung ihnen keines wegs zumuthet, auf diese gänzlich zu verzichten. Die darauf bezüglichen Ausführungen deS Ministerpräsidenten Grasen Taaffee konnten doch unmöglich für die Deutschliberalen allein gelten; vielmehr muß die Regierung auch dafür zu wirken suchen, daß die autonomistischen Parteien sich jene Zurückhaltung auferlegen. Geschieht das, so ist es immer noch wahrscheinlich, daß eine Adresse aller Parteien (mit Ausnahme der Jungczechen) zu Stande kommt, über dererr Werth man sich freilich keinen Illusionen hin geben darf. Inzwischen ergießt sich über das Haus eine Fluth von Sonderanträgen, was offenbar zeigen soll, daß auch die Abgeordneten nicht weniger als die Regierung vom Reform eifer erfüllt sind. Am 19. April haben in Frankreich je drei Ergänzungswahlen für den Senat und für die Deputirtenkammer stattgefunden. Für den Senat galt es, zwei Republikaner und einen Monarchisten zu ersetzen. Es wurden abermals zwei Repu blikaner und ein Monarchist gewählt. Bemerkens werth aber bleibt immerhin, daß die Republikaner in allen drei Departements und selbst in der Maine-et-Loire, wo der Monarchist durchkam, mehr Stimmen als bei den letzten Hauptwahlen erhielten. Die republikanische Strömung greift somit auf immer weitere Kreise über. Dieselbe Erscheinung wurde auch in jenen drei Wahl bezirken beobachtet, wo Deputirtenwahlen statt fanden. Es wurde allerdings nur ein Repu blikaner endgiltig gewählt und eS sind noch zwei Stichwahlen erforderlich. In einem Wahlbezirke stehen sich aber nur Republikaner gegenüber, da der im Departement Jndre-et-Loire von den Monar chisten aufgestellte Kandidat Vikomte Foy seine Partei im Stiche ließ und das republikanische Programm annahm. Nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen Parnelliten und Antiparnelliten hat das eng lische Unterhaus den ersten Artikel der irischen Landankaufsvorlage mit 247 gegen 126 Stimmen angenommen. Der Artikel verfügt die Verwendung des RcichSkreditS für die Zwecke des Landankaufs durch Ausgabe von Bodenpfandbriefen, für welche-