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Agitation zu finden gewohnt war, heute auch, wenn gleich noch in vereinzelten Fällen, aus Kreisen laut werden, welche sonst allezeit für eine freiheitliche Staatsentwickelung eingetreten sind. Es fällt uns nicht ein zu bestreiten, daß die allzuhastig betriebene Reformgesetzgcbung, welche nach der großen nationalen Umwälzung des Jahres 1866 von der Regierung Hand in Hand mit einer vorzugsweise von frei sinnigen Anschauungen beherrschten Volksvertretung geschaffen wurde, das Anwachsen der Socialdcmotratie erleichtert hat, aber nicht infolge einer aus dieser Gesetzgebung selbst sich ergebenden unvermeidlichen Nothwendigkeit, sondern weil die Pflichten vernach lässigt wurden, welche der neue Zustand der Ge- sammlheit auferlegte. Man hat das Grundübel unserer Zeit in dem unseligen „Gehen lassen, wie es will" zu finden geglaubt. Dies Wort ist richtig, aber iu einem andern Sinne, als es in der Regel gemeint wird. Nach der vulgären Auffassung hat die Gesetz gebung überall den Grundsatz des Geschehenlassens proclamirt, hat sie die Staatsgewalt in ihren noth- wendigsten und nützlichsten Functionen beschränkt und gelähmt. Die Sache liegt aber umgekehrt, der Vorwurf des unseligen laisser ksürv trifft Diejenigen, welche sie auszusühren hatten. Die Selbstthätigkeit des Bürgerthums, welche in einem freien Staats wesen gefördert wird, läßt sich nur in sehr kleinem Maße durch Gesetze erzwingen. Warum ist die energische Abwehr, mit welcher das Bürgerthum in den letzten Tagen an verschiedenem Orten aus eigenem Antriebe und ohne alle Hilfe der Polizei der socialdemokratischen Propaganda entgegentrat, nicht geübt worden, als man diese gefährliche Be wegung noch im Keime hätte ersticken können? Aber nicht minder berechtigt ist die Frage, ob die moderne Gesetzgebung durch die dazu berufenen Organe richtig, in ihrer ganzen Strenge und mit aller Entschiedenheit gehandhabt worden ist? Es bedarf nur eines einzigen Blickes auf die Art und Weise, wie diese Handhabung der Gesetze in der allerjüngsten Zeit geschieht, um zu erkennen, daß «S früher nicht so der Fall gewesen. Nein, wenn den Gesetzgeber ein Vorwurf trifft, so Ist es der, daß es sich vornehmlich über das bei uns vorhandene Maß des Verständnisses für die Bürgerpflicht und Wer trägt die Schuld? Die Tage der Pfingsten sind vorüber, aber eine eigentliche Festfreude haben sie in diesem Jahre Wohl Niemandem gebracht. In den Gotteshäusern wurden wir zur Buße aufgefordert und wahrlich, die Buße thut uns Deutschen Noth! Aber das erste Erforderniß ist, daß sie ernsthaft und aufrichtig sei, das zweite, daß sie nicht den unbefangenen Blick trübe und damit der Anfang neuer Fehler werde. Man kann nicht sagen, daß diese Merkmale an allen Kundgebungen der letzten Tage wahrzunehmen sind; nur zu häufig zeigen dieselben, offen oder ver steckt, eine Neigung, die eigene Schuld zu vermindern und andere für die traurige innerpolitische Situation verantwortlich zu machen. Wie viel oder wie wenig immer die Unter suchung schließlich über die Verbindungen Nobiling'S ergeben mag, seine ruchlose That ist unter allen Umständen ein furchtbarer Beweis, wohin der socialistische Fanatismus führt und führen muß; ganz abgesehen von der Billigung, die der Königs mord, nach Ausweis der betreffenden Verhaftungen, in erschreckend zahlreichen Fällen in den von der socialdemokratischen Agitation verhetzten Volksschichten gefunden hat. Um was allein es sich handelt, ist die Frage, wer an dem Anwachsen der socialistischen Gefahr bis zu dieser erschreckenden Höhe die Schuld trägt. Wir haben bereits unsere Ueberzeugung dahin ausgesprochen, daß keine unter den verschiedenen Schichten der Gesellschaft, allein keine unter den politischen Parteien an sich, keine unter den mit der Erziehung des Volkes beschäftigten Einrichtungen und Corporationen speziell die Verantwortlichkeit, sondern daß die Gesammtheit: Staat, Kirche und Volk das Heranwachsen der Socialdemokratie ver schuldet hat. Wo aber bei der Untersuchung der Ursachen nationaler Krankheitszustände politische Nebenabsichten verfolgt werden, da ist alle Mühe aussichtslos, den Gegner in loyalem Meinungsaus tausche zu überzeugen. Nach dieser Richtung hin ist die Wahrnehmung überaus betrübend, daß die haßerfüllten Anklagen gegen die „liberale Gesetzgebung", welche man bisher nur in den Parteiorganen der altconservatlven und particularistischen Reaction sowie der ultramontanen jvreümddrrißigstkr 3«hr-an, Bischofswerda, Stolpen und Umgegend. Amtsblatt -er Kgl. Amtohauptmanüschaft VN- -er Kgl. Schvlinspection zu Kauhen, sowie -es Königlichen Gerichteamteo vn- -es Sta-trathes zu Kischofswer-a. Diese Zeitschrift erscheint wöchentlich zwei Mal, ^tittwoc»iS und SoanadensS und kostet einschließlich der Sonn abend« erscheinenden „belletristischen Beilage" vierteljährlich 1 Mark öS Pfg. (IS Ngr.). Inserate werden di« Dienltag« und Freitags früo S Uhr angenommen.