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30, 5. Februar 1929. Redaktioneller Teil. Börsenblatt f. b. Dtschn. Buchhandel. spiel eines Volkes studieren können, das durch mehr als zwei Menschenalter hindurch die Wirkung einer intensiven Volksbil dung erfahren hat. Und eine dieser Wirkungen ist es nun, daß dieses Volk heute Schaffende und Empfangende, Dichter und Leser mit gleichen Erlebnissen und gleichem Lebcnsgefühl aus sich hervorbringt, daß eine neue Generation von Dichtern das ganze Volk als Leser und Käufer findet, und daß infolgedessen dieses kleine Volk mit seinen drei Millionen eine »Nationalliteratur besitzt, wozu gehört, daß es sich verlohnt, Bücher zu drucken, und daß Schriftsteller von ihren Honoraren existieren können. Also ein Volk, nicht größer als die Einwohnerschaft der Provinz Sachsen, besitzt eine Nationalliteratur von europäischem Rang! Die liberal-kosmopolitische Generation um Georg Brandes mit ihrer Literatur der aufgeklärten großstädtischen Bildungsschichten ist überwunden von einer neuen Generation von Dichtern, den Skjoldborg, Aakjaer und Andersen Nexö, die selber aus der Bauernhochschule kommen, und deren Bücher vom ganzen Volk, das den gleichen Bildungsweg geht, verstanden und gelesen wer den. Nach Andersen Nexös Romanhelden werden die Jungen von Kleinbauern und Arbeitern »Pelle- genannt. Dieses selbe kleine Volk nimmt auf Subskription eine vielbändige dänische Goethe-Ausgabe auf. Wenn man in die Häuser, auch zu den Klein- und Dünenbauern kommt: überall eine ausgezeichnete Hausbücherei als der Stolz des Hauses! Auch bei uns sind, was man bei den wohlfeilen Klagen über die Entgeistigung unserer Zeit nicht vergessen darf, wichtige An sätze in der gleichen Art vorhanden. Man muß nur den Weg in manche Arbeiterhäuser finden, und man wird staunen, was dort gar nicht so selten an wertvollen Büchern vorhanden ist. In einer Bauernhochschule hörte ich einen jungen Bauern vortreff lich über das Schaffen von Löns sprechen. Im Sommer erlebte ich den Abschluß eines Lehrgangs des Volkshochschulheims, das ein deutscher Dorfpfarrer für die deutschen Kolonisten in Galizien geschaffen hat: es waren beste deutsche Bücher, die sich diese schlichten Mädchen kauften, um sie mit in ihre Dörfer und Höfe in Galizien und Wolhynien zu nehmen. Oder man beobachte doch einmal, wie eifrig und was in der 4. Eisenbahnklasse gelesen wird. Ich habe seit Wochen die Augen offen gehalten, und es verlohnt sich wirklich, zu bemerken, was in der Holzklasse der Personen- und der V-Züge, was in den Polsterklassen gelesen wird. Denen, die über die Kulturlosigkeit des Volkes ihr Urteil fertig haben, sind solche Beobachtungen nur zu empfehlen. Volksbildungs arbeit, der neue Deutschunterricht, Jugendbewegung, Gewerk schaftsschulung sind auf dem besten Wege, einen neuen Bildungs stand hervorzubringen. Bor kurzem lasen zwei meiner Reise genossen, die ich ganz zufällig auswähle, Tolstois »Leinwand messer- und Hesses »Roßhalde»; als ich jedoch an den Stand der nächsten kleinstädtischen Bahnhofsbuchhandlung herantrat, lagen dort die »Erotik und Kultur des romanischen Weibes» und die »Halbwelt von heute-, merkwürdige Produkte einer staatlich ge förderten Kulturpflege. Ich glaube, daß sich alle Volksbildner, ob »neutral- oder »gebunden«, protestantisch oder katholisch oder sozialistisch, darüber einig sind: daß der Staat, der Buch und Bildung finden will, erst einmal hier mit Kontrolle und Richt linien für aufbauende Kulturarbeit einsetzen sollte! Freilich haben Sie wohl schon gemerkt, daß ich bei alledem nicht von dem Buch schlechthin spreche, sondern vom guten Buch. Die Voraussetzung für alle Besprechungen, die der Ret tung des deutschen Buches gelten, sollte überhaupt die ganz scharfe Betonung des Satzes sein, daß es zwar »Mann ist Mann heißt, daß aber »B u ch n i ch t g l e i ch B u ch- ist. Dabei ist »gut» durchaus kein formal-ästhetisches Werturteil, sondern gemeint ist die menschliche Echtheit, die Tatsache, daß hinter dem Buche ein Kerl steht, dem es ernst mit seiner Sache ist, auch dann, wenn er uns die in unserer Zeit so notwendige Freude vermitteln will. Zu den ganz verkehrten und verhängnisvollen Vorurteilen ge hört dies, daß für das Volk das gute Buch »zu schwer» sei. Richtig ist nur so viel, daß wir allerdings eine Bildungsliteratur einer volksfremden Schicht besitzen, die nicht Durchleuchtung und Gestaltung des schaffenden Lebens ist sdenken Sie an die Worte Julian Schmidts, die Gustav Freytag programmatisch vor »Soll und Haben» gestellt hat!), sondern die Privatnöte einer abge sonderten, geistigen Schicht spiegelt. Das kann höchste Qualität besitzen, ist aber Standeskunst. Jedoch unsere Volksbüchereien beweisen, daß es eine volksnahe Literatur von höchster Qualität gibt, und daß diese sich Wohl durchzusctzen vermag. Sind doch beispielsweise in der Stadtbücherei in Hagen in Westfalen die am meisten vorhandenen und gelesenen Werke die »Amalie Diet rich- von Charitas Bischofs, Freytags »Ingo und Jngraban- und Scotts »Jvanhoe«; in Stettin sind die meistgelesenen Autoren Zola, Andersen Nexö, Heye, Jack London, Polen; und Hans Grimm; in Leipzig war 1923 »Das Gemeindekind- der Ebner- Eschenbach das meistgelesene Buch; in der Arbeitsrwohnsitzge- meinde Lützschena lesen junge Arbeiter und Brauereiarbeiter am meisten abermals die Ebner-Eschenbach, dazu Jack London, Heye und Kummer (»Eines Arbeiters Weltreise«). Das sind alles weder völlig frei entstandene, wild gewachsene Leserwünsche (diese würden ganz anders aussehen und vermutlich einigermaßen an die Listen der »meistgekauften Bücher» erinnern, sich also dem gangbaren Durchschnitt nähern); noch sind es aufgeredete Ideale, nämlich -Empfehlungen- der Büchereileute; sondern wie es in der Büchereitheorie gelegentlich ausgedrückt worden ist, herzu leiten »aus der Diagonale dieser Kräfte«. Wie wirkt nun die Volksbildung heute für das Buch, d. h. für das wertvolle Buch unmittelbar, abgesehen davon, daß sie mittelbar, wie wir sahen, die allgemeine kulturelle Voraussetzung für das Buch schafft? Der Ort für diese spezielle Arbeit ist die volkstümliche Bücherei. Wenn wir daher zuerst behaupteten, daß man das Buch nur dadurch fördern könne, daß man einer ge diegenen Bildung im ganzen Volke den Boden bereite, so ist dies nun dahin zu spezialisieren, daß Förderung des Buches in erster Linie Förderung des volkstümlichen Büchereiwesens sein muß. Dazu gehört freilich, daß wir aufs allerenergischste von der gar nicht oder ^um guten Teil ungenügend und schlecht unterrichteten Öffentlichkeit an eine besser zu unterrichtende Öffentlichkeit appellieren. Es ist deshalb mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen, daß die heutige Volks bücherei alles andere ist als eine aus öffentlichen Mitteln unter haltene Leihbibliothek, alles andere auch als ein verwässerter Aufguß oder ein Anhängsel der wissenschaftlichen Bibliothek. Sie ist ein Bildungsinstrument, das die großen Kulturgüter der Nation und der Menschheit für jeden Volksgenossen als Bildungsgut, d. h. als Baustein zur Gestaltung feiner persönlichen Wesensart bereitstellt und übermittelt. Sie hat die doppelte Aufgabe: die Auswahl des Wesentlichen aus der für den Laien verwirrenden und unübersehbaren Masse des Produzierten zu treffen, und dann an den rechten Leser das rechte Buch heranzubringen. Sie tut dies auf Grund einer ausgebildeten und wissenschaftlich fun-, dierten Lehre, die in einer neuen soziologisch unterbauten Leser kunde und in einer neuen Literaturkundc besteht. Der Bolks- bibliothekar von heute ist zum Volksbildner, ja zum führenden Bolkserzieher geworden. Ich spreche hier nicht pro -iomo; aber gerade weil ich nur Volkshochschulmann bin, muß ich die außer ordentlichen Leistungen der deutschen Volksbücherei nachbarlich anerkennen und rühmen. Freilich weiß ich, daß noch längst nicht alle deutschen Büche reien von der neuen Entwicklung berührt sind; wobei mir ihr Anschluß an die eine oder andere der nebeneinander hergehenden Richtungen letzten Endes unwesentlich erscheint. Für eine volle Entfaltung sind aber namentlich auch die öffentlichen Unter stützungen noch viel zu gering. Der Durchschnitt auf den Kopf der Bevölkerung der erfaßten Städte im Reich ist heute 23,5 Pfg., in den sächsischen Großstädten sind es 35 Pfg., 1914 waren es ebenda erst 9 Pfennig; abermals ein Zeichen, daß die geistige Be wegung heute marschiert. Freilich schwanken die Kleinstädte noch heute zwischen 0 und 31 Pfg. Das Seminar für Buchhandels betriebslehre an der Handelshochschule in Leipzig, dessen Unter suchungen ich hier benutze, faßt seine Ergebnisse so zusammen: »Es sind Zahlen, die sehr zu denken geben und beweisen, welch großes Arbeitsfeld hier, d. h. in den Kleinstädten, gerade für die volkstümlichen Büchereien noch brach liegt.« Kommt man in die Lesehalle einer dänischen Stadt von 20 000 Einwohnern, so trifft man mindestens drei Fachleute als hauptamtliche Beamte, und außerdem noch das nötige technische Personal; in ganz 139