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X- 30, ü. Februar 1929. Redaktioneller Teil. Börsenblatt f. d Dtschn. Buchhandel. nicht die Ruhe und Festigkeit, ihnen Halt zu sein, wie wir möchten. Wir erfahren ein jeder die Not des Heims, die Zer trümmerung des Familiensinnes, an jeden schlich und schleicht sich die Verwirrung des Seelischen, sei es, daß sie ihn selbst zu erwürgen versucht, sei es, daß er solchen überfall auf seinen Nächsten mit ansehen muß. Wir schwanken und sind in der Un rast des immer weiter jagenden, uns mitschleifenden Gehetztseins; tagtäglich tritt neues in uns verwirrend hinein, das wir ein- ordnen müssen, damit es uns nicht wirft — der heutige Mensch ist hossnungsarm und zermürbt. Vielen erscheint seit unserem Unglück fast alles Geschehen sinnlos. Das ist große Gefahr. Gefahr des Volkes und des Dichters, der sein Volk stützen will. Erziehung durch Kunst ist ein vornehmliches Beginnen des Deutschen. Die Stützen, die sich als morsch erwiesen, müssen schnellstens durch feste ersetzt werden; das muß und kann durch Zusammen- rafsung aller reinen Kräfte erreicht werden. Gemüt und Gehirn müssen das Geschehen im Universum wieder erfassen. Der sicherste und volkstümlichste Führer dazu ist das dichterische Buch. Kein dichterisches Buch ist gut, das nicht ein Bild des Universums in uns wirst, das uns nicht erleben läßt, daß wir dazu gehören! Wir haben viele verschiedene Weltanschauungen: ich gebrauchte die Worte: Kosmos, Universum, um nicht anzustoßen. Ob Sie nun dafür fühlen: Gott, Schöpfung, das große Gesetz, Vernunft der Natur usw. — so sehr uns diese Worte trennen, so sehr ist doch jeder, welcher sich Mensch nennen darf, innerlich der Ge wißheit, daß die großen Dinge nicht ohne Sinn sind, daß unser Leben nach einem großen Plane läuft oder laufen soll —, wer das nicht glaubt oder nicht will, der ist ja gar kein Mensch. Das dichterische Buch läßt durch Gestaltung erleben, daß es keine einseitige »Schuld« gibt. Ist uns solches Erkennen nicht nötig? Nie war das dichterische Buch wichtiger als heute! Die heutige Menschheit braucht, in ihrer seelischen Sündslut, als ret tende Arche das dichterische Buch. Wir schwanken aus Unbildung, vornehmlich des Gemütes. Uns fehlt höhere Einigkeit, als viele Gute und Bemühte meinen. Das dichterische Werk läßt erleben, daß das Ringen der Menschheit immer ähnlich unserem Los war, daß alles Menschen leid dem heutigen verwandt ist, daß wir wohl stark belastet, aber nicht isoliert sind. Das dichterische Buch macht übersehender, ge rechter, gelassener und richtet dadurch entschlossener auf die wahren Ziele des Lebens. Nur der Gelassene ist Herr seines Schicksals. Durch das dichterische Buch erkennt der Mensch, daß Partei ungen und Zerklüftungen sind, weil jeder Licht sucht, weil jede Gruppe zu bessern versucht. Ist der Mensch so weit, so ängstigt und ekelt die häßliche Trennung nicht mehr, er erkennt sie als Notwendigkeit, um auf getrennten Wegen vorwärts zu kommen. Das dichterische Buch beendet den offenen und verdeckten Kampf aller gegen alle, es anerkennt das Recht des gepreßten Herzens. Wir wollen durch unser Eintreten für das dichterische Buch dafür obsorgen, daß Hilfe im Krampf der Verzweiflung kommt. Das dichterische Buch macht den Ausnehmenden befähigt, Kultur fortzusetzen und neu anzusetzcn, das dichterische Werk gibt Ge rechtigkeit, die das Gestrüpp aller Nöte niedertritt, es gibt die Liebe zum Kosmos und damit zu allen Menschen und damit zur eigenen Nation. Die noch tiefere Herabsetzung unserer Herzen und aller innigen Freude am Leben ist zu beenden, auch in unserer Zeit ist Ewigkeit, auch wir gehören ihr an; das dichte rische Buch zeigt, daß sie uns nicht fallen läßt. Das dichterische Buch fördern, heißt die Seele aus ihrer Ge fangenschaft befreien, ihr wieder zu ihrem Rechte verhelfen, heißt Deutschland erretten! Wir haben fast alle materiellen Güter ver loren, aber wir können durch das dichterische Buch geistige er werben, die nicht verschossen, nicht abgeschossen, nicht versenkt werden können, die uns nicht als »Reparationen- geraubt wer den können, die nicht Rost und Motten fressen. Wir haben die Reichsmark stabilisiert, wir müssen endlich auch das Mark unseres inneren Reiches stabilisieren. 138 Durch Unterstützung des dichterischen Buches und seiner Ur heber, ohne diese kein dichterisches Werk, ist die Inflation der Seelen in Deutschland zu beenden. Sie muß bald beendet werden, sonst erklären sich die Seelen in ihrer Verwirrung endgültig den Vernichtungskrieg, dann fällt unser Letztes. Das dichterische Buch bietet sich, in äußerster seelischer Not, als am besten geeigneter Friedensvermittler an! Das ist die g r o ß e B e d e u t un g des dichterischen Buches in unserer Zeit! Buch und Volksbildung. Von Regierungsrat vr. Reinhard Buchwald, Geschäftsführer des Vereins »Volkshochschule Thüringen- und Vorsitz, des »Reichsverbandes der deutschen Volkshochschulen-. Meinem Berliner Referat lagen kurze Aus zeichnungen zugrunde, die inzwischen sowohl in der Tagespreise als auch in dem Protokoll des Reichsministeriums des Innern ver öffentlicht worden sind. Soweit es nachträg lich möglich ist, versuche ich hier den voll ständigen Vortrag, wie er frei gehalten wurde, niederzuschreiben. Freilich kann das nur mit der Einschränkung geschehen, baß nun einmal »eine Rede keine Schreibe« ist. R. B. Der Herr Reichsminister hat sich in liebenswürdiger Weise als den guten Vater aller kulturellen Bestrebungen bezeichnet, der allen seinen Kindern gleiche Liebe zeige. Nach Kunst und Wissen schaft kommt nun durch mich an dieser Stelle die Volksbildung zu Worte; nicht nur das jüngste, sondern auch das zurückgesetzteste und unansehnlichste seiner Kinder. Und es nimmt sogleich das verbriefte Recht jüngster Sprößlinge für sich in Anspruch: weniger formvoll und diplomatisch zu sprechen, auf die Gefahr hin, der Schrecken der hier versammelten großen Familie und ihres Vaters zu werden. So beginne ich denn sogleich mit einer Umkehrung meines Themas: anstelle der -Bedeutung des Buches für die Volksbil dung-, wie das mir gestellte Thema lautet, spreche ich zunächst von der »Bedeutung der Volksbildung für das Buch«; aber ich werde alsbald auch ans dieses letztere kommen. Was beide For men von vornherein verbindet, ist ja dieses: daß Volksbildung und Buch aufs engste z u s a m m e n gehören, gegenseitig auf einander angewiesen sind. Die Vertreter der freien Volksbildung — insbesondere der volkstümlichen Büchereien und der Volkshochschulen, in deren Namen ich spreche — sehen durchaus die heutige Notlage des deutschen Buches. Sie sind überzeugt von der Bedeutsamkeit des Buches im Kulturorganismus eines Volkes; es wäre ja auch eine Torheit, daran zu zweifeln. Sie sind bereit, an ihrem Teil an der erstrebten Gesundung mitzuarbeiten; ist es doch ihr eigenstes Interesse, das hier auf dem Spiele steht. Sie glauben aber zu sehen, daß die Krankheit tiefer sitzt, als man wohl allgemein an zunehmen geneigt ist, und haben die allergrößten Zweifel an der Wirkung einer reklamemäßig aufgezogenen Kundgebung. Der Notstand ist tief begründet, und läßt sich nur durch tiefgreifende Mittel beheben. Die Volksbildner möchten darauf hinwirken, daß die wahren Ursachen erkannt, und daß die wirklich wirksamen Mittel angewandt werden. Daher also meine Umkehrung des Themas, und mein erster Leitsatz: WerdemBuchehelfenwill, mußderVolks- bildung helfen, und zwar in ihrer gediegensten Form, die eindringliche Bildungsarbeit am einzelnen Volksgenossen ist. Den Beweis für diese Behauptung liefert uns Dänemark, das klassische Land der Volkshochschulen. Was uns aber an Däne mark so überaus wichtig ist, ist weniger die besondere Richtung, die der Gründer der dänischen Volkshochschulen, der Bischof Grundtvig, seinen Bauernhochschulen gewiesen hat, als vielmehr die Tatsache, daß wir in Dänemark das große geschichtliche Bei-