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100, 30. April 1S27. Redaktioneller Teil. besah di« Gab« der Einfühlung, wie sie kaum einem anderen Zeit genossen eignete. Eine Einfühlung ln das, was ist, aus der sich die Einfühlung entwickelt in das, was kommen muß, wenn die Kraft fehlt, sich selbst und sich als Volk zu überwinden. Die Deut schen Schriften sind kein Zeitbuch, das nur mlt den Menschen und den Verhältnissen abrcchnet, nur für sie die Nutzanwendungen zieht. Die Deutschen Schriften gehören zu den seltenen Büchern, die Helsen sollen zu gestalten, die diese Gestaltung bei dem Wich tigsten dcginnen: bei den deutschen Menschen, So sind die Deut schen Schriften ein Buch der Erbauung und Erhebung, aber auch ein Buch des Zornes und der Läuterung. Nur wer im Innersten bewegt, der ist auch ein Künder der wahren Werte seines Volkes, ist ihr Erzieher kraft eigenen Rechtes, ohne andere Menschen und Gestalten im übertragenen Sinne als Erzieher herbcirufeu zu müssen. Bücher, die Gipfelbücher sind, sollen nicht nur geistige Leistungen, sie sollen auch Taten sein, um die die Zeit weiter brandet und rauscht, die aber gerade darum aufragen wie Loucht- türmc und Wegtveiser. Zu diesen Tatbüchern gehört Heinrich von Treitschkes Deutsche Geschichte. Sie will nicht reine Wissenschaft sein, nicht eine chronologische Darstellung, noch weniger eine objektive Schilderung. Sie will eine Einheit sein, das Werk einer Persönlichkeit, in dem die schöpfende Kraft ebenso groß und stark ist wie das leidenschaftlich bewegte Herz. Trett'sch- kcs Deutsche Geschichte läßt auf dem schwankenden Untergrund der Kleinstaaterei und der dynastischen Selbstsucht den Staat Preuhen straff aufwachsen, ohne daß er ihm das eigentliche Ziel für die StaatSschöpsung des deutschen Volkes bedeutete. Und wenn wir sür die kleinstaalltche Zerrissenheit heute die parteipolitische Zerrissenheit setzen, so gibt uns die Deutsche Geschichte Treitschkes wieder so etwas wie die Zuversicht, dah sich auch daraus ein machtvoller Staat entwickeln muh, ohne den ein Volk im Herzen Europas nicht leben kann. Es wachsen vielerlei Menschen auf deutscher Erde. Und deutsche Erde war und ist es, über die unsterblich dieLeutevon Seldwyla eiuhcrwandellen, jene Leute, die Gottfried Keller in einer Sprache von biegsamer Kraft holzschnliiartig nachzeichnete. Es sind oberdeutsche Menschen, die die Kunst des Dichters mit den besten, d. h. ewigen Zügen seines Volkes «is- stattet«. Die Zeit, in der die Leute von Seldwyla lebten, ist in Kellers Darstellung eingcsangeN, scheinbar unabsichtlich, aber gerade darum die höchste Offenbarung des dichterischen Genius, wie das auch mit dem Stechlin von Theodor FoNlan« der Fall ist, diesem reifen Alterswerk, reis in der Kunst der Dar stellung, reif in der Nachschöpsung seiner Menschen, die nicht blut lose Schemen sind, auch nicht gedankliche Abstraktionen, sondern echte und vollbSrttg« Menschen. Der Stechlin ist ein Jahrhundert buch. An der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts ist es ge schaffen worden. Es fängt die Zeit und die Menschen auf, wie sie am Ausgang des Jahrhunderts geworden waren, Menschen, wie sie die märkische Erde schuf, selbstsicher und selbstgerecht, llüd nur ein solch selbstsicherer Märker konnte wie der alte Stechlin sagen: Große Zelt ist immer, wenn etwas schief geht. Die sozialen Dramen Ger hart Hauptmanns: Di« Weber, Der Biberpelz, Kollege Crampton und Fuhrmann Herrschest die ihrer ganzen Anlage nach eine gewisse Einheit bilden, sind und bleiben unzerstörbar. Ihr Wert liegt darin, daß sie Menschen aus den sozialen Verhältnissen zu begreifen suchen, dies« Verhält nisse selbst und ihre Rückwirkung aus «die Menschen in dramatische Gestaltung fassen. Daß sie bei aller Freiheit der dichterischen Neuschöpfung echt und wahr find, 'daß sie nicht nur gesehen sind, das macht den Werk >der sozialen Dramen Hauptmanns aus. Eine Ewigkeitsgabe des deutschen Geistes und der deutschen Seele find di« oft llberzarten Empfindungen, die RainerMariaRilke in seinem Sinn den buch eingefchlofsen hat. Und deshalb ge hört es in jode Bücherei, denn unsagbar Tiefstes ist darin mit einer so klangvollen und biegsamer, Sprache gesagt, daß dies die wunderbare deutsche Sprache wieder selbst adelt. Wie schließlich die herrlichste deutsche Dichtung, die wir als Zeitgenossen erleben dursten: Carl Spittelers Prometheus und Epimc- theus. Gedankenties, erfindungs- und beziehungsreich rauscht sie in einer wundervollen mächtigen Sprache ab. Kennwort: War' es ein Sohn. Frau H. Axt, Holzmindcn. Zwar bin ich nur eine einfache Frau, schriftstellerisch eine »un gelernte Arbeiterin» dazu und kann gewiß nicht in Wctibetvevb treten mit all den gelehrten Abhandlungen, mit denen das Preis- richkerkollegium für diesen Wettbewerb überschüttet ivcrden wird (wobei ich nicht unterlassen kann, diesem Preisrichtcrkolle- gium, wenn es gewissenhaft arbeitet, mein Bedauern auszu sprechen, da ihm meines Dafürhaltens eine Arbeitsleistung zuge- mntet wird, die es zu nebenhergehendcr eigner Arbeit untauglich machen muß, da diese ehrenamtliche Tätigkeit cs am Ende über Jahre hinaus beschäftigen wird) . Aber trotzdem reizt es mich, kurz meine Vorschläge zu sagen, wobei ich, als leider Kinder lose, von dem mir lieben Gedanken ausgehc, einem in die Fern« ziehenden jungen Kinde, sei cs Sohn oder Tochter, das Beste init- zugobcn, was unsere Dichter und Denker uns seil Goethe und Schiller gegeben haben. »Die >2 Bücher, die in jede Bücherei ge hören», das ist ein Begriff, den sich wohl joder, dcr'darüber nach denkt, näher umschrieben wünschte. Sollen sie wissenschaftlicher Art sein? Darf Kunstgeschichte gestreift ivcrden? . Unterhaltungs- Icktüre lm höheren Sinne? Lyrik? Jedenfalls 'sollen es doch Wohl rein deutsche Bücher sein. Am einfachsten würde es sein, jedesmal einen Auswahlband des Dichters vorznschlagcn, den man für unentbehrlich hälft aber damit dürfte die Ausschreiberin dieses Preisausschreibens nicht einverstanden sein, und so ist man ge zwungen, sich einen bestimmten Standpunkt zu wählen, von dom aus die Auswahl zu treffen ist, und da ist der meinige: das ins Leben hinaus ziehende junge Kind, dom noch elterlicher Rat un sichtbar in seiner Bibliothek zur Seit« stehen und in guten und schlimmen Stunden das Rechte zu tun Helsen möchte. Daß wir wünschen würden, di« Zahl 12 um ein beträchtliches überschritten z» 'sehen, ist klar; aber cs soll sich ja nur um l2 Bücher einer größeren Bibliothek handeln. Beträchtlich ins Gewicht fallend ist, daß die heutige Jugend einen ganz anderen Geschmack sich ange eignet hat, oder vielmehr von ihm infiziert ist als wir, und daß wir somit in der großen Gefahr, sie zu langweilen, nur hoffen können, daß Ihr mit zunehmender Erfahrung die Einsicht kommt, daß wir es gut gemeint haben und unsere unsichtbaren Finger zeige nicht wertlos waren. Da wir ihm vor allen Dingen das Deutschfein recht ins Herz Pflanzen möchten, so sei dem Sohn vor allem Gustav Freytags -Soll und Haben- empfohlen, der ihm in feinem Anton Wohlgemukh den auf sich selbst ange wiesenen jungen Mann zeigt, wie er durch Streben nach Tüchtig keit, Erinnerung an die heimatlichen Vorbilder, Sitte, Anstand und Dankbarkeit mit zunehmender Weltkenntnis und Unterschei dungsvermögen sicher au Abgründen und Versuchungen vorbeige führt wird und sie instinktiv Überwindet. Zum sonntäglichen Aus ruhen an landschaftlich schönem Fleck, sich erholend von dem Ge triebe eines Kontors odet einer Bank, des Hörsaals oder einer Fabrik, möge er sich dann Mörlkes Idylle »'Mozart aus der Reise nach Prag» vom Bücherbrett nehmen, und ihm, der vielleicht aus harmonischer Häuslichkeit kommt, voll Stolzes ist, nun seinen eigenen Weg machen zu dürfen, aber nun doch durch di« Unruhe und vde der täglichen Umgebung ein leichtes unbe wußtes oder nicht eingestandenes Heimweh empfindet, möge dabei fein, als ob wir ihm liebend übers Haar strichen. Kellers Grüner Heinrich, diesem Träumer und Schwärmer, dem er vielleicht die Leute von Seldwyla oder die Züricher Novellen in dem Wunsche nach Abwechslung vorziehen würde, den er über, als Kellers bedeutendstes Werk, nicht versäumen darf, ist schon äußer lich ein schwererer Ballast und bleibe mehr den Winterabenden Vorbehalten. Dagegen werden ihm Fontanes »Wande rungen durch die Mark» lebhafter die Augen öffnen für die ihm umgebende Natur und ihn aufmerken lassen auf überall zu ihm sprechende preußische Geschichte, ihre Werksteine und Schön heiten. Wird er weiter westlich verschlagen, ins Weferland, so wird er schon ganz von selbst zu Raabe greifen und ln feinem »H u ng e r p a st o r- oder «Schüdderlnnp» dessen milden, abge klärten, Niedersächsischen Humor in aller Tragik der Geschehnisse lieben lernen. Anschließend würde er vielleicht Ricarda Huchs Riefenkaleidofkop geschichtlicher Gestalten vom Drelßlg- S07