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5272 Nichtamtlicher Teil. ^ 120, 26. Mai 1906. hatten, der Gewerkschaft jedoch nach acht Tagen mitgeteilt, daß die Ausgesperrten die Arbeit am 8. Mai zu den alten Bedingungen wieder aufnehmen könnten. Darauf stellten die Gehilfen die Forderung, diejenigen, die nicht gefeiert hatten, und die inzwischen eingestellten Hilfskräfte zu entlassen. Da diesem Ansinnen nicht entsprochen wurde, so traten die Buch binder in den Streik ein, dessen Leitung über 15 Firmen die Sperre verhängte. Die Bewegung griff gleichzeitig nach Leipzig über, wo sich die Gehilfen weigerten, die sogenannte Streikarbeit für Berlin zu verrichten, und infolgedessen ent lassen wurden, so daß in Leipzig zurzeit etwa 2200 und in Berlin rund 1100 im Ausstand sind. Aber auch in Stuttgart hat der Streik begonnen. Das Ganze erscheint als eine Kraft probe der Arbeitnehmer und zugleich als ein Schatten, den die Erneuerung des vor drei Jahren bis zum 31. August 1906 vereinbarten Tarifs vorauswirft. Den Buchbindereibesitzern dürfte die Bewegung gerade jetzt, zu Beginn der flauen Geschäftszeit, nicht so ungelegen gekommen sein, wie sie es im Herbst zweifellos sein würde. Immerhin wird, wenn nicht alle Anzeichen trügen, sich ein hartnäckiger Kampf ent spinnen, der mit um so größerer Hartnäckigkeit auf beiden Seiten geführt werden wird, als die Tariferneuerung im Hintergründe steht. Dem Fernstehenden ist es nicht leicht, sich aus den Be richten der Tagespresse ein objektives Urteil zu bilden, denn »von der Parteien Gunst und Haß verwirrt«, stehen sich Behauptung und Behauptung schroff gegenüber. Und auch über die frühern Vorgänge in der Lohn- und Tarifbewegung in der deutschen Buchbinderei fehlte es bis vor kurzem an einer zusammenfassenden Darstellung. Da ist es denn ein günstiger Zufall, daß Ende vorigen Jahres ein Werk er schienen ist, das unter anderm auch ein Bild der Entwicke lung der Tarifbewegungen in der deutschen Buchbinderei vermittelt. Sein Titel ist: Marx, vr. Paul, Die Unternehmerorganisationen in der deutschen Buchbinderei. Ein Beitrag zur Frage der freien Interessenvertretungen im deutschen Erwerbs leben. (Lex.-8ft xv, 259 S. u. 5 Tabellen. Tübingen, I. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Preis 6 ^ 60 H). Das Buch stellt sich als die erste Folge der im Jahre 1902 in demselben Verlage erschienenen »Entwickelungs geschichte der Deutschen Buchbinderei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts« von vr. Bernhard Harms vor, der als dritter Teil noch eine Untersuchung über die Organi sation der Arbeitnehmer im Buchbindergewerbe folgen soll. Auf Grund reichhaltigen statistischen Materials unterwirft der Verfasser zuerst die objektive Organisationsfähigkeit der Selbständigen, sodann die modernen Innungen und ihre Tätigkeit einer eingehenden Untersuchung, worauf der Bund deutscher Buchbinderinnungen und die Landesverbände verschiedener Bundesstaaten und Provinzen nach ihrer Ent stehung und Wirksamkeit ausführlich behandelt werden. Besonderes Interesse nimmt im Hinblick auf die gegen wärtige Bewegung die Darstellung der bisherigen Ent wickelung und Tätigkeit des »Verbandes Deutscher Buch bindereibesitzer« in Anspruch — der wir nachstehend im wesentlichen folgen —, weil dieser es ist, der mit dem »Deutschen Buchbinderverband«, der Gehilfenvertretung, den Tarif vereinbart hatte, dessen Erneuerung in drei Monaten erfolgen soll. Der Buchbindereibesitzer-Verband wurde 1900 gegründet und bezweckt nach seiner Satzung, »unberechtigte Bestrebungen der Arbeitnehmer, die darauf gerichtet sind, die Arbeits bedingungen einseitig vorzuschreiben, und insbesondre die zu diesem Zwecke geplanten und veranstalteten Ausstände ge meinschaftlich abzuwehren und in ihren Folgen unschädlich zu machen, die gemeinsame Interessen berührenden Ange legenheiten zu beraten und die bezüglichen Beschlüsse zur Geltung und Ausführung zu bringen, sowie die berechtigten Interessen der im Buchbindereigewerbe und verwandten Ge schäftsbetrieben Deutschlands beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen zu schützen und zu fördern«. Über ein Vierteljahrhundert vor der Gründung dieses Verbands, bereits 1873, zielte ein Buchbinder- ausstand in Leipzig auf Lohnerhöhung und Festsetzung eines Tarifs hin. Er hatte freilich nur insofern Er folg, als die Prinzipale für sich einen Akkordtarif ausarbeiteten. Dieser sollte indessen niemanden verpflichten, sondern nur als Leitfaden für die Berechnung der Arbeiten dienen. Ein dreizehn Jahre später von der Gehilfenschaft vorgelegter Tarif wurde nicht angenommen, führte aber im folgenden Jahre, 1887, zu Verhandlungen, die auch zum Abschluß gebracht wurden. Da die Arbeitnehmer jedoch zu schwach waren, auf Einhaltung des Tarifs mit Erfolg zu bestehen, so war ihm nur ein Scheinleben beschicken; wer ihm keine Neigung entgegenbrachte, kehrte sich nicht an ihn. Diese Zustände führten allmählich dazu, daß der Buchbinder verband erstarkte und 1896 sich mit Erfolg an den neuen Verhandlungen zu beteiligen vermochte. Das Hauptziel dieses Arbeitnehmerverbandes war von vornherein auf die gänzliche Beseitigung des Stücklohns gerichtet, weil man in der Akkordarbeit eine bequeme Gelegenheit zur Aus nutzung der Arbeitskraft durch den Arbeitgeber zu erblicken glaubte. Jedoch vollzog sich im Laufe der Jahre, nach und nach, eine Wandlung der Anschauungen, bis endlich der Verbandstag von 1900 in Berlin die Forderung einer Tarif festsetzung auch für die Stückarbeit für ganz Deutschland auf stellte, wozu die Erfolge der Buchdruckergehilfen nicht un wesentlich beigetragen hatten. Der glänzende wirtschaftliche Aufschwung Mitte der neunziger Jahre und die Agitation des Buchbinderverbands brachten 1896 in fast allen wichtigeren Städten Arbeits einstellungen, um die Forderungen auf Verkürzung der Arbeits zeit, Festlegung eines Minimallohns und Beseitigung der Überstunden oder 25 Prozent Lohnaufschlag dafür durch zusetzen. Zumeist wurde dieses Ziel auch erreicht. Da aber solchen nur lokalen Vereinbarungen naturgemäß nicht überall Geltung verschafft werden konnte und sich auch, namentlich in Berlin und Stuttgart, vielfach die Absicht zeigte, der An erkennung der abgerungenen Zusagen auszuweichen, so machte der Buchbinderverband von neuem mobil und forderte dazu auf, überall da, wo die Anerkennung der Forderungen noch nicht erreicht war, sie nach und nach durchzudrücken. Während es so allerorten wieder zu gären begann, war in Leipzig in den Verhandlungen der Gehilfenschaft mit dem neu gegründeten Buchbindereibesitzer-Verein 1897 ein neuer Tarif vereinbart worden, der für drei Jahre gelten sollte. Darin waren neunstündige Arbeitszeit, Minimalstunden lohn für männliche Arbeiter 38 H, für geübte weibliche 20 H und für Überzeit- und Sonntagsarbeit entsprechende Auf schläge festgesetzt und beiden vertragschließenden Teilen die Pflicht auferlegt, »für die allgemeine Durchführung dieses Tarifs mit allen gesetzlichen Mitteln zu wirken«. Der Tarif lief mit Ende August 1900 ab, und die Zwischenzeit wurde von dem Buchbinderverband benutzt, die gleichen Wünsche der Buchbinder außerhalb Leipzigs erneut geltend zu machen. Der Buchbinderverbandstag 1900 verlangte vor allem die Ausdehnung des Leipziger Tarifs auf alle Städte, Fest legung einer Maximalarbeitszeit, eines Minimallohns, Besserbezahlung der Überzeitarbeit, wie der Stückarbeiten. Den Prinzipalen von Leipzig, Berlin und Stuttgart wurden ziemlich gleichlautende Vertragsentwürfe zur Grundlage für die Verhandlungen vorgelegt. Gleichzeitig teilte der Buch binder- (Gehilfen-) Verband dem neuen »Verband Deutscher