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102. 4. Mai 1906. Mchtamtücher Teil. 4453 ,liker eine elektrische Bahn ohne die Erfindung der Dynamo maschine durch Werner Siemens bauen kann, vermag ein Romanschriftsteller ohne geistige Verarbeitung früherer ähn licher Hervorbringungen ein neues Werk zu schaffen. Von denjenigen, die die Welt vorwärts bringen, steht der eine stets auf den Schultern des andern. Gewiß sind ihnen die finanziellen Früchte ihrer Tätigkeit vollauf zu gönnen; aber auf eine unverhältnismäßige Ausbeutung durch ihre Erben können sie aus vorstehenden Erwägungen einen begründeten Anspruch nicht erheben. Wie die Erde ein Anrecht auf den Leib hat, der er entstammt, so hat die Allgemeinheit grundsätzlich ein Anrecht auf die Werke, die das Genie aus der ihm überlieferten Kultur der Allgemeinheit heraus hervor gebracht hat. Es fragt sich also nur noch, was eine angemessene und was eine unverhältnismäßige Ausbeute ist. Nach einem 1819 gemachten Vorschlag von buchhändlerischer Seite hat das preußische Urheberrechtsgesetz von 1837 die heute noch gültige Schutzfrist für Werke der Literatur eingefllhrt. Man glaubte, durch eine Schutzdauer von dreißig Jahren nach dem Tode des Urhebers zwischen den berechtigten Interessen des Autors und den ebenso berechtigten Volksinteressen die richtige Mitte getroffen zu haben. Nebenbei bemerkt, haben nur die belle tristischen Schriftsteller von der Ausschließlichkeit des Druck rechts an einer über diese Schutzfrist hinausgehendcn ein Interesse; denn wenn es auch außer allem Zweifel steht, daß manche wissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen mehr Geist und mehr Arbeit erfordert haben und für den geistigen Fortschritt der Nation von ungleich größerer Be deutung gewesen sind als Hervorbringnngen der Roman schriftsteller, so kommt die Möglichkeit des Abdrucks eines wissenschaftlichen Werks dreißig Jahre nach dem Tode des Autors gar nicht mehr in Frage. Wer wird nach zwanzig Jahren, wenn es nicht aus naturwissenschaftlich-geschichtlichen Gründen geschieht, die epochemachenden Veröffentlichungen des Professors Herz noch lesen? Ich möchte die Frage, ob die Buchhändler, die, wie schon oben angeführt wurde, an der Schutzfrist ein verschieden artiges Interesse haben, damals den rechten Ausgleich der Jnteressenverschiedenheit gefunden haben, entschieden be jahen, Was zunächst den Autor betrifft, so bedeutet die heutige Schutzfrist einen Zeitraum, der gewöhnlich so weit über ein Menschenalter hinausgeht, daß man sich unbedenk lich mit der Festlegung einer bestimmten Frist von fiinstig Jahren seit Erscheinen des Werks einverstanden erklären könnte, abgesehen davon, daß eine nicht von Zufälligkeiten abhängige Festsetzung der Schutzfrist der heute gütigen vor zuziehen wäre, Professor Köhler sagt in dem eben erschiene nen ersten Teil seines Werkes über das »Urheberrecht an Schriftwerken und Verlagsrecht«: »Wäre die Frist vom Erscheinen des Werkes zu be messen, so entstünde das Ergebnis, daß das Werk zu Leb zeiten des Autors gemeinfrei werden könnte; namentlich würde dies von Jugendwerkcn, von Werken der ersten Mannheit gelten .... Solche Verhältnisse wären nun nicht gerade unleidlich — es ist nicht das schlimmste, was den armen Autoren widerfahren kann —, aber doch nicht gerade empfehlenswert: besser noch, man überläßt es dem Autor, so lange er seine gesunden fünf Sinne hat, neue Bearbeitungen seiner Werke zu veranlassen; ob schon ich schließlich nichts dagegen hätte, etwa eine Frist von 50 Jahren von der Zeit des ersten Erscheinens zu be stimmen: dann könnte der 78 jährige, mit einer gewissen freudevollen Wehmut dem zusehen, daß die Werke, mit denen er im Jugendmute die Sporen verdiente, wie durch eine Wiedergeburt neu erwüchsen. Ähnliches bestimmt ja auch das italienische Autorgesetz.« Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. 78. Jahrgang. Man kann in der Tat in dem gesetzlichen Schutz zu weit gehen. Wohin das führt, sehen wir gegenwärtig an der sozialen Gesetzgebung Kreise, die ihrer kulturellen Be deutung nach nicht hierzu berufen sind, spielen die erste Rolle; nach ihnen richtet sich alles im Reich und neben den angeb lich sozial Hilflosen und Unterdrückten sind es die physisch Schwachen, denen die ängstlichste Sorge gilt. Eben die Er wägung ist's, meint Ibsens vr. Rank, die die Gesellschaft zu einem Krankenhause macht Aber in Wirklichkeit ist es in unseren Fällen nur ein Kokettieren mit der Schwachheit. Erfolgreiche Schriftsteller haben nicht nötig, zu petitionieren, und tun es auch nicht; und was das beliebte verkannte, darbende Genie betrifft, so wird ihm kein Mensch auf eine hundertjährige Schutzfrist ein Darlehn von 20 Mark geben. Die ersten Nachkommen des Autors haben aus solchen Werken, die den Ablauf der Frist erleben, innerhalb dieser unter gewöhnlichen Umständen so viel herausgezogen, daß von einem mangelnden Äquivalent für die geleistete Arbeit ihres Vorfahren wohl kaum noch die Rede sein kann. Es gibt im Gegenteil kein körperliches Eigentum, das sich so gut verzinst, wie es das »geistige« in diesem Fall zu tun pflegt Wenn eine kräftige Erbschaftssteuer aus Gründen der allgemeinen Gerechtigkeit nur gebilligt werden kann — schon vor fünfundzwanzig Jahren setzte Max Nordau in seinen »Konventionellen Lügen der Kulturmenschheit« das Kultur- und Fortschrittswidrigc der Erbschaft auseinander — so ist nicht einzusehen, daß die in klingendes Gold sich übersetzenden vererbten Urheberrechte nicht nur frei ausgehen, sondern sogar noch verlängert werden sollten An eine Abschaffung des Erbrechts ist in unfern Verhältnissen nicht zu denken; eher würden wir noch den Engländern in den Be strebungen der Bodenreformer Nachfolgen; aber man könnte sich heute doch schon zu dem Standpunkt aufschwingen, daß die Erbschaft nicht der Faulheit und dem Müßigang Vor schub zu leisten berufen ist, sondern — abgesehen von anderm — der Ermöglichung der guten Ausbildung der Geisteskräfte der Nachkommen. Dazu bedarf es aber noch nicht einmal dreißig Jahre nach dem Tode des Vaters, d. h. in dieser Be ziehung genügt unser Gesetz, von allen besonderen Er wägungen abgesehen, vollauf den moralischen Ansprüchen, die an das Erbrecht gestellt werden können. Wie verschwindend klein ist überhaupt die Zahl der Schriftsteller, die ein Interesse an der Verlängerung der Schutzdauer haben! Aus den letzten zehn Jahren sind eigent lich nur fünf: Heine, Grillparzer, Stifter, Reuter und Mörike zu nennen. Alle andern freigcwordenen Schriftsteller sind von minderer Bedeutung. Aber hat nicht die Nation ein Recht, diese ihre Dichter kennen zu lernen und die Kultur- werte sich nutzbar zu machen, die ihre Werke in sich schließen? Wird doch selbst der Krieg mit Hinblick auf die Wahrung des Kulturideals gerechtfertigt (Adolf Lasson), und verlangt er doch von Hunderttausenden die Hingabe des Kostbarsten, was sie besitzen! Niemand der Gesetzgeber vertritt hier die Ansicht, daß die Durchschneidung des Lebensfadens ein Vor recht der Atropos sei und die Menschen sich hüten sollten, ihr in das Handwerk zu pfuschen. Ist das Recht zu leben vielleicht minder wichtig als das sorgsam geschonte Recht der Erben eines Autors, ein Buch allein auszubeuten? Ich will übrigens damit nur zeigen, daß viel bedeutsamere Ein griffe in die persönlichen Interessen, wo die Kultur es er heischt, durchaus nicht vereinzelt dastehen. Was die Festsetzung der Dauer des Urheberrechts mit Bezug auf die Allgemeinheit anlangt, so scheint mir die gegenwärtige Frist auch in dieser Beziehung heute noch durch aus angemessen. Wenn die Werke veraltet sind — und selbst das zu einer bestimmten Zeit gelesenste Buch verfällt diesem Schicksal —, hat natürlich ihr Freiwerden keine Be- 583