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2108 Nichtamtlicher Teil. ^ 60, 14. März 1908. 34. Jahrgang begonnen hat, bietet in diesem Jahr ihren Lesern noch weit mehr als bisher. Sie begnügt sich nicht, eine reich illustrierte, belle tristische Lektüre zu liefern, sondern jede Nummer enthält auch eine Beilage, worin die hervorragenden Tagesereignisse geschildert und mit Bildnissen und Illustrationen veranschaulicht werden. Ihren Leserinnen gibt sie eine reichhaltige, monatlich erscheinende Mode- zcitung, ferner noch eine illustrierte, belletristische und populär wissenschaftliche Monatsrevue, worin auch die neusten hervor ragenden Erscheinungen der russischen Literatur besprochen werden. Die Abonnenten der Niwa erhalten außerdem alljährlich wertvolle Sammlungen von Werken der besten russischen Schriftsteller, unter denen sich bisher Gogol, Shukowskij, Dostojewskis, Gontscharow, Danilewskij, Boborykin, Grigorowitsch und andere befanden. Dem laufenden Jahrgänge wird eine Gesamtausgabe der Werke Anton Tschechows in 16 Bänden (Ladenpreis 1b R.) und 24 Bände vvn Ljeskows Werken (Ladenpreis 10 R.) beigegeben. Die Niwa zählt die besten der jetzt lebenden Schriftsteller Rußlands zu ihren Mit arbeitern; ihre Illustrationen bringen zahlreiche Reproduktionen von Bildern und Zeichnungen russischer Künstler. Berücksichtigt man nun, daß das Jahresabonnement nur 6 R. 50 K. beträgt, so ist es erklärlich, daß die Zahl der Abonnenten bis weit über 200000 gestiegen ist. Der Jahrgang 1903 wird in 250000 Exemplaren gedruckt. Das ist ein Erfolg, der bisher in Rußland unerhört mar und der wohl auch in andern Ländern imponieren kann. Daß ein solches Unternehmen nicht ohne Konkurrenz bleiben würde, ist begreiflich, aber ebenso begreiflich ist es auch, daß diese Konkurrenz-Zeitschriften weder qualitativ noch quantitativ das bieten können, was seit vielen Jahren die Niwa ihren Lesern liefert. An Versprechungen lassen es die Verleger der Konkurrenzblätter nicht fehlen und zuweilen gelingt es ihnen auch durch großartige Reklame Erfolge zu erzielen, denn ein großer Teil des russischen Publikums ist sehr leichtgläubig und schenkt allen Verheißungen Gehör. Da ist z. B. die Zeitschrift »Natur und Menschen«. Sie verspricht für 6 R. jährlich 52 illustrierte Wochennummern, zwölf Monatshefte einer Romanbibliothek (Übersetzungen ausländischer Schriftsteller), zwölf Monatshefte einer Bibliothek für Selbstbildung und schließlich noch Goethes Reineke Fuchs mit den Bildern von Kaulbach. Von diesem Werk hat der Herausgeber der Niwa die Originalbilder vom deutschen Verleger gekauft und eine Pracht ausgabe veranstaltet; das hat aber den Herausgeber der Zeitschrift »Natur und Menschen« nicht verhindert, diese Bilder — natürlich sehr mangelhaft — zu reproduzieren und seinen Abonnenten gratis zu versprechen. — Eine andre illustrierte Wochenzeitschrift »Die Heimat« verspricht ihren Abonnenten für 4 R. jährlich: 1. Vier mal 52 Wochennummern Romane, Novellen, Politik, Feuilleton, eine Rundschau der Tagesereignisse und Humoristisches; 2. 12 Bände einer gemeinnützigen Bibliothek; 3. 14 Bände Romane, unter denen sich auch wieder Goethes Reineke Fuchs (!) mit den Illustrationen von Kaulbach befindet (die selbstverständlich ebenso wie die obenerwähnten nachgedruckt sind); 4. 1 Abreißkalender; 5. 1 kalendarisches Nachschlagcbuch und 6. 8 Bilder in Farben druck, über deren Format und Ausführung die Redaktion wohl weislich schweigt. Wir müssen uns leider auf diese wenigen Bei spiele einer höchst anfechtbaren Konkurrenz beschränken, obwohl wir zu diesem interessanten Thema noch andere drastische Beispiele an führen könnten. (Schluß folgt.) Der Roman einer Prinzessin. Mit gütiger Erlaubnis der Verfasserin entnehmen wir der Wiener »Neuen Freien Presse« folgende gerade jetzt interessante Mitteilung: Ein tragikomischer Beitrag zur Geschichte der literarischen Zensur findet sich in dem handschriftlichen Nachlasse des bekannten Berliner Verlegers Alexander Duncker, der durch die heute, vornehmlich in Preußen, auf der Tagesordnung stehenden Zensur- vcrbote wie eine Parodie auf aktuelle Ereignisse anmutet. Im Jahre 1851 — das Buch trägt die Jahreszahl 1852 — erschien in Alexander Dunckers Verlag ein zweibändiger Roman: «Eglantine« von der Prinzessin * *; einer jener Frauennamen, für welche die fruchtbare Gräfin Hahn-Hahn mit ihren schwülstigen Salonromanen vorbildlich gewirkt hat, und die um die Vierziger- und Fünfziger-Jahre des vorigen Jahrhunderts in unheimlicher Überfülle den Markt zu überschwemmen drohten. Diese »Eglantine« der einst weilen noch in Anontzmität gehüllten »Prinzessin« spielt selbst verständlich , gleich den Hahnschen Salon- und Reiseromanen, ausschließlich in der aristokratischen Gesellschaft, doch weht schon so etwas wie ein gesünderer - wenn ich so sagen darf — modernerer Zug durch das überaus harmlose Buch, und schüchtern liebäugelt die anonyme Prinzessin mit einem ge funden Bürgertum, das der Gräfin Hekuba war. Sie spielt es in bescheidnen Einsätzen gegen die schlechten Elemente des heruntergekommenen märkischen Adels aus und stellt in dem Halbbruder eines genußsüchtigen Grafen einen phantastischen Weltbeglücker hin, der für das Volk waghalsige Wünsche, als da sind: »Preßfreiheit, öffentliches und mündliches Gerichts verfahren, freies Wahlrecht und National-Vertretung, Vernichtung des Kapitals durch Arbeitsnachweisungs - Anstalten«, im Busen trägt und am Ende aller Enden als Blousenmann am 18. März 1848 sein halbblaues Blut für die Sache des Volkes vergießt, lind dies alles unter dem Namen, oder vielmehr unter dem Titel einer Prinzessin! Das ging dem damaligen Kabinetts-Sekretär Friedrich Wilhelms IV., Marcus Carsten Nikolaus Niebuhr — einem Sohn des berühmten Philologen Berthold Niebuhr — im Nebenamt Mitarbeiter der »Kreuzzeitung«, ungefähr ebenso empfindlich auf die Nerven, als heute den Berliner literarischen Zensoren die ketzerischen Anwandlungen Paul Heyses, und kurz entschlossen, machte er sich daran, dem Verleger der gefährlichen -Eglantine« sein gefoltertes moralisches Gewissen zu enthüllen: -Euer Wohlgeboren wollen verzeihen, wenn ich trotz der geringen Bekanntschaft, die ich leider bisher die Ehre gehabt habe, zu haben, mir die Freiheit nehme, Sie auf die Uebelstände aufmerksam zu machen, welche daraus hervorgehen, wenn gerade Sie, als Hof-Buchhändler und Ritter des Haus-Ordens, Werke wie die »Eglantine« verlegen. Das Gift der llnsittlichkeit in den staats- und gesellschaftsfeindlichen Prinzipien kann nicht ein dringlicher verbreitet werden, als wenn ein solches Werk unter dem Namen einer -Prinzessin» und unter der Firma eines Hof- Buchhändlers ausgeht. »Man mag über den Adel in seinem jetzigen Zustand denken wie man will, so muß man, wenn man nicht neue Revolutionen herbeiführen will, ihn nicht lächerlich und ver ächtlich machen, wie es in der -Eglantine« geschieht, sondern ihn zu bessern und zu seinem Berufe zurückzuführen suchen. Die Darstellung in der »Eglantine« ist aber auch unwahr und ver leumderisch. Wenn einzelne solcher Caricaturen, wie sie dort geschildert werden, auch Vorkommen, ist der Stand in Preußen in seiner Gesammtheit ein ganz anderer. Solche Caricaturen passen auch nicht dem Adel, sondern dem Reich thum überhaupt an. Der märkische und pommersche Adel hat mit jenen Caricaturen fürwahr auch nicht die geringste Ähn lichkeit. Wenn aber eine »Prinzessin« mit Hilfe eines Hof buchhändlers solche Caricaturen als Proben der Art des preußischen Adels vorführt, dann glauben natürlich die vielen Leute, die unseren Adel nicht kennen, und die Menschen, die ihn nicht kennen wollen, daß das Wahrheit und unser Adel wirklich so corrumpirt sei. »Aber auch abgesehen von der politischen Seite der Sache, ist es sehr übel, wenn ein Buch von so unsittlicher und lüsterner Richtung unter dem Namen einer »Prinzessin« geht. Sehr Viele glauben ohne weiteres, die Prinzessin vvn Preußen*) sey die Verfasserin: Die Einen freuen sich hämisch darüber, die Andern sind tief betrübt. »In letzter Beziehung möchte es Ew. Wohlgeboren Pflicht seyn, den Namen üer Anonymen zu veröffentlichen, damit die Verleumdung ihren Halt verliert. Verzeihen Ew. Wohlgeboren diese meine freimüthigen Aeußerungen. Aber ich spreche nicht bloß mein llrtheil aus, sondern das viel wichtigerer Personen, und glaube, daß ich eine Pflicht gegen Sie hiermit erfülle. »Mit vollkommenster Hochachtung Ew. Wohlgcboren er gebenster Niebuhr. Charlottcnburg, den 20. December 1851.« Der Einfluß, den Niebuhr damals auf den König ausübte, muß indeß nicht so stark gewesen sein, als der frisch gebackene Kabinettssekretär selbst ihn schätzte und er zwei bis drei Jahre später in der Tat zu Tage trat, als der geadelte Kabinettsrat seine Machtstellung in bedenklicher Weise im Interesse der Reaktions partei ausnützte. Das ergötzliche Gegenspiel des Niebuhrschen Entrüstungsschreiüens, ein Brief der aus ihrer Anonymität her vortretenden Autorin, der Prinzessin Amalie von Schleswig- Holstein, einer Tante der deutschen Kaiserin, läßt ganz im Gegenteil darauf schließen, daß der König an dem unschuldig an gefeindeten prinzeßlichen Geistcskind sein unverhohlenes Wohlge fallen gefunden hatte. Die Prinzessin schrieb um zwei Monate später an Duncker: »Euer Hochwohlgeboren! Durch ein längeres Unwohlsein daran verhindert, war es mir nicht möglich, Ihnen schon früher Ihr geehrtes Schreiben vom 4. d. M. zu beantworten und Ihnen meinen Dank für die 2 Ex. der Eglantine zu sagen, welches ich hiemit gethan haben will. »Die Zeitungs-Notiz, deren Euer Hochwohlgeüoren erwähnen und die mich, oder vielmehr die in Dresden lebende Herzogin von Holstein als Verfasserin der Eglantine nennt, habe ich ge lesen, und bin auch durch dieselbe zu der Ueberzeugung gelangt, daß es mit meiner Anonymität so gut als vorbei ist. Allein *) Spätere Kaiserin Augusta.