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1166 Nichtamtlicher Theil. 68, 24. März. Nichtamtlicher Theil. Die Fortschritte von Grimm's Wörterbuch.*) Die Vollendung der ersten Hälfte von der ersten Abtheilung des vierten Bandes von Grimm's Wörterbuch erinnert uns an die Pflicht, dieses Nationalwerkes wieder einmal mit einiger Aus führlichkeit zu gedenken. Ueber die Bedeutung und den Werth dessel ben hat dieKritik längst entschieden; ihrUrtheil lautet in Betreff der letzten wie der ersten Lieferungen: es leistet, was irgend möglich war, und mehr, als Viele erwartethaben werden. Es gibt eine außerordent lich reiche Fülle von Sprachgebilden und Bedeutungen solcher; aber absolute Vollständigkeit erreicht es nicht und konnte es nicht erstre ben. Denn unermeßlich ist im Deutschen die Menge von Wort verzweigungen und Wortverwendungen, täglich entwickelt sich Neues in dem Schöpfungsprozeß der Sprache, nie tritt ein Still stand ein, und so ist ein Verzeichnen aller Gattungen dieser Thätig- keit des Nationalgeistes ungefähr ebensosehr ein Ding der llnmög- keit, wie das Zählen der Blätter eines Waldes. Aber das Men schenmögliche ist geleistet worden, und wenn das riesige Werk voll endet sein wird, werden wir in ihm einen Schatz besitzen, wie kein anderes Volk aus Erden. Wann aber wird es vollendet sein? Der folgende Blick auf die Geschichte des Unternehmens mag geeignet sein, Anhaltepunkte zur Beantwortung dieser Frage zu geben und manche Bedenken, die in den letzten Jahren im Hinblick aus das langsame Fortschrei ten einzelner Abtheilungen entstanden sein könnten, in erfreulichster Weise zu zerstreuen. Die Weidmannsche Buchhandlung regte vor etwa vierzig Jah ren den Plan zu einem großen Wörterbuche an. Die Vertreibung der Gebrüder Grimm von ihren Göttinger Lehrstühlen gab ihnen Muße, zur Ausführung desselben zu schreiten. Die Regierung Preu ßens stellte das nationale Unternehmen, indem sie den beiden Haupt arbeitern an demselben eine sorgenfreie Stellung gewährte, unter günstige Sterne. Vierzehn Jahre dauerten die Vorbereitungen, welche das gewaltige Werk erforderte. Regste Betheiligung war die Antwort, welche auf die Aufforderung der Gebrüder Grimm zur Mitarbeit durch Sammlung von Stoff von Seiten der Philologen Deutschlands erfolgte. Auch andere Gelehrte, darunter Groß- und Kleindeutsche, Liberale und Conservative, Schwaben, Ostpreußen, Hannoveraner u. a. wirkten mit bereitwilligem Fleiße durch Aus ziehen der ihnen zugewiesenen Schriftsteller für das Wörterbuch mit. Wie ein kleiner Berg schichtete sich das ans diesem Wege gewonnene Material auf; denn es mögen nicht weniger als eine Million jener Zettel von bestimmter Länge und Breite eingegangcn sein, auf welche diese Gehilsen ihre Excerpte zu schreiben gebeten waren. Bolle sechs Monate hindurch nahm das Sortiren der Beiträge nach dem Alpha bet die Thätigkeit der beiden damit Beauftragten in Anspruch, und jetzt erst konnte» die Verfasser des Wörterbuchs mit ihrer eigent lichen Arbeit beginnen. Die Verzeichnisse der Quellen, aus denen das ihnen übersandte Material geschöpft war, umfaßten dreiund- vierzig enggcdruckte Spalten größten Formats. Dafür erkannte man aber auch in dem Werke, als 1852 seine erste Lieferung erschien, sofort eine Leistung, die auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft einzig dasteht und in keinem Wörterbuche der Welt etwas auch nur entfernt Ebenbürtiges neben sich hat. Es war ein Bild vom Leben unserer Sprache seit der Zeit Luther's, wo jedes Wort seine beson dere Geschichte hatte, ein Werk, das sich die Ausgabe gestellt, den ge summten Organismus der deutschen Sprache in seinem Werden, seinem Fluß, seinen tausend und abertausend Neu- und Umgestal- *) Aus den „Grenzboten". tungen in den letzten vierthalb Jahrhunderten dem deutschen Volke anschaulich zu machen, und das diese Aufgabe zu erfüllen begonnen hatte. Es war ein Ereigniß in der Geschichte unserer Literatur. Der Fortgang entsprach dem Anfang. Rasch erhob sich in den nächsten beiden Jahren der Bau aus seinem Fundamente. 1854 war der erste Band (1824 Spalten), 1860 der zweite (1776 Spal ten), 1862 der dritte (1S04 Spalten) vollendet. Darüber hinaus erschien bis zum Herbst des nächsten Jahres nur ein Hest. Während der Beschäftigung mit dem Artikel „Frucht" war Jakob Grimm am 20. September 1863 durch den Tod von der Arbeit abberufen wor den, nachdem ihm vier Jahre vorher schon sein Bruder Wilhelm vorausgegangen war, dem das Wörterbuch die Behandlung des Buchstabenv verdankt. Alles klebrige von dem bis dahin Veröffent lichten stammt von Jakob's Hand und Jedermann, der diese 2184 enggedruckten Seiten größten Lexikonformats überblickt, wird von Staunen erfüllt werden über die rüstige Kraft des greisen Gelehrten, welcher in vcrhältnißmäßig kurzer Zeit solche Mafien von Rohmate rial in wohlgeordnete, gründlich durchdachte und sauber gefaßte Ar tikel zu verwandeln im Stande gewesen war. Der Tod Grimm's war für das Wörterbuch ein großer Ver lust, aber kein völlig unersetzlicher. An die Stelle des Meisters traten sofort tüchtige, kunstersahrene Gesellen, um den Bau weiter zu fördern, zunächst in der Person des damaligen Gymnasiallehrers vr. Hildebrand in Leipzig, der bisher schon als Corrector des Werkes sich in den Plan und die Methode desselben eingelebt hatte und als sachkundiger Rathgeber auch in anderer Hinsicht stiller Mit arbeiter gewesen war, dann durch Betheiligung des Professor Wei gand in Gießen. Später wurde in vr. Moritz Heyne in Halle ein dritter rüstiger und wohlgeschulter Mitarbeiter gewonnen. Weigand baute da fort, wo Grimm Kelle und Winkelmaß niedergelegt hatte, und arbeitete langsam, aber gediegen die weiteren Artikel des Buch staben 1? aus. An fernerer Mitwirkung hinderte ihn Krankheit und sein im Juli 1878 erfolgter Tod. Die zweite Abtheilung des vierten Bandes bis zu Ende des Buchstaben kl übernahm Heyne, den Schluß I und 3 Professor Lucä in Marburg, der aber, als er bis Ich gekommen, zurücktrat, worauf dem Bearbeiter von ü auch diese Arbeit übertragen und von ihm verhältnißmäßig rasch vollendet wurde. Nächst Heyne am fleißigsten, wenn auch — thcils wohl in folge von Kränklichkeit — sehr langsam, hat Hildebrand, seit etwa zehn Jahren Professor an der Leipziger Universität, gearbeitet, der an den wichtigen Buchstaben U gegangen ist und denselben in einem 2916 Spalten starken Bande vor einiger Zeit bewältigt hat. Das Werk war damit ungefähr bis zur Hälfte vollendet. Von den noch übrigen Buchstaben konnten nur Ll, 8 und IV noch sehr viel Arbeit und Raum erfordern, und der jetzige Stand des Unternehmens, das beiläufig seit mehreren Jahren von Seiten des Deutschen Reichs unterstützt wird, ist sicherem Vernehmen nach folgender. Die Fortsetzung des Wörterbuches durch die bisher an dem selben thätig gewesenen Gelehrten ist, soweit menschliche Blicke und Verabredungen reichen, vollständig gesichert, und für später er scheinende Bände sind neue Mitarbeiter bereits gewonnen. Während Professor Hildebrand mit solider Langsamkeit an dem von ihm in Angriff genommenen 6 sortarbeitet, hat der rüstigste und energie vollste seiner Genossen, Heyne, jetzt Professor in Basel, die von ihm im Jahre 1877 begonnenen Artikel über den Buchstaben I, schon bis zur Hälfte ihrer Zahl vollendet, und mit Bestimmtheit ist anzu nehmen, daß er im nächsten Jahre ganz mit diesem Abschnitt fertig und dann das Ä, welches den sechsten Band beschließen soll, un mittelbar folgen lassen wird. Inzwischen wird der durch sein jetzt