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kocher angezündet hatte. Jan verschwand mit dem großen Einkaufsbeutel und kehrte nach einer Viertel stunde, die für Martins Ungeduld langsam genug ver gangen war, schwerbeladen wieder zurück; er stöhnte ordentlich unter der Last seiner Bürde. Martin schlug vor Entsetzen die Hände über den Kopf zusammen, seine Lust am Sparen war so groß geworden, daß er seinem Freunde ernstliche Vorwürfe über seine Verschwendung machte. ' „Ach was," sagte Jan, „vorige Woche habe ich eine Zulage bekommen, und du hast jetzt eine Stelle in Aus sicht, das mutz gebührend gefeiert werden!" Marlin wollte noch weitere Einwendungen machen, aber Jan kehrte sich nicht daran, sondern packte seine Schätze aus. Er kannte Martins Geschmack recht gut, und hatte deshalb seine Einkäufe in einem Delikatessen geschäft gemacht. Zuerst kam eine Bratwurst zum Vor schein, deren Enden zusammengebunden waren, so daß sie einen Ring bildete. Martins Augen glänzten. Dann fand sich ferner eine Büchse mit eingelegten Gurken, Käse, Pöcklinge, getrocknete Feigen und Weißbrot. „Ich glaube gar, du hast K Schilling ausgegeben," rief Martin aus, der sich noch immer nicht beruhigen konnte. „Nein, nur 5^," versetzte Jan mit Selbstbewußtsein. „Wir müssen mit diesen Vorräten aber sehr sparsam umgehen," fuhr Martin fort, „und jeden Tag bloß ein wenig davon essen. Aber — wer soll denn achtgeben? Wir find doch beide ost nicht zu Hause, und wie leicht kann etwas fortkommen! Ich habe schon oft gehört, daß die Hauswirtinnen nicht ehrlich sind. Wenn wir einen Schrank zum Verschließen hätten —" Jan gab zu, daß Martin nicht ganz unrecht habe, dann, um ihn von seinen Sorgen abzulenken, fragte er: „Wollen wir die Wurst heute anschneiden?" womit er zugleich die Verantwortung auf seinen Freund über trug. — Martin wurde der Mund wässerig. „Es ist doch eigentlich recht schade darum," sagte er, aber er konnte der Versuchung selbst kaum widerstehen. „Ganz, wie du denkst," versetzte Jan mit berechneter Gleichgültigkeit und legte die Wurst zur Seite. Das tat Martin nun wieder leid und er meinte: „Probieren könnten wir sie eigentlich." „Mir soll's auch recht sein," versetzte Jan, „aber nun haben wir wieder keine Pfanne zum Braten, ich will nur gleich die Wirtin darum bitten." Die gute Frau, die keine Ahnung davon hatte, welch' schwarzen Verdacht Martin gegen sie hegte, war sehr zuvorkommend, und Jan kehrte triumphierend mit einer Pfanne zurück. Dann nahm er die Wurst, maß ihre Länge sorgfältig mit den Blicken und schickte sich an, ein etwa vier Zoll langes Stück abzuschneiden. „Was tust du?" fragte Martin erschrocken. Jan blickte verwundert in die Höhe. „Was hast du denn schon wieder?" fragte er. „Du schneidest zu viel ab, auf diese Weise werden wir zu schnell fertig, die Hälfte wäre genug; die Wurst ist nur zum Kosten, für den Hunger haben wir Brot." Die Hälfte fand Jan zu wenig, und so einigten sie sich schließlich dahin, daß ein drei Zoll langes Stück ab geschnitten wurde. Die Wurst schmeckte köstlich und selbst Martin bedauerte, daß er Jan von dem größeren Stück abgeredet hatte. „Jetzt aber erzähle," bat er. Jan nahm erst einen Schluck Tee und sagte dann: »Ich ging heute, wie schon oft, mit dem Schweden Olaf, der in der großen Butter- und Käsehandlung von de Griendt ist, zu Tisckse. Er wußte, daß ich mich schon lange nach einer Stelle für dich umsehe, und so erzählte er mir, daß de Griendt einen Kommis brauchte, der des Morgens ihm bei seinen Arbeiten am Quai hilft und am Nachmittag im Kontor zu tun hat. Der alte de Griendt spielte eben mit seinem Sohne Schach und war in guter Laune, weil er das Spiel gewonnen. Ich benutzte die günstige Gelegenheit und ließ mich durch Olaf vorstellen. Er wollte erst nicht recht, weil es gegen seinen Grundsatz sei, Engländer anzustellen, aber ich sagte ihm, du habest dein Examen in der Mathematik abgelegt, wolltest aber lieber dich als Kaufmann aus bilden." „Als er mich fragte, ob du solid und sparsam seiest, konnte ich es mit gutem Gewissen bejahen. Meine Aus künfte schienen ihm zu gefallen, ich glaube, es liegt ihm selbst viel daran, dich zu bekommen. Morgen vor mittag um 11 Uhr sollst du dich nun in seinem Waren haus am Quai Brewer vorstellen." „Sprach er über das Gehalt?" fragte Martin ge spannt. „Nein, das wird er mit dir selbst besprechen wollen. Wenn er dich etwa fragt, wieviel du haben willst, so mußt du dreißig Schilling sagen; sollte er dir aber weniger bieten, mußt du's dennoch annehmen." Martin schwindelte der Kopf vor lauter Freude, ihm war zu Mute wie einem, der das Schuljoch abgeschüttelt und sich zum ersten Mal als freier Mensch fühlt. Er stellte sich vor den Spiegel, schnitt sich das Haar zurecht, holte einen neuen Kragen, dann zog er sich probeweise an und präsentierte sich Jan. Dieser versicherte Martin ernsthaft, er sähe ganz nobel aus, aber Martin hatte noch immer etwas zu ändern und zu bessern. Gegen Mitternacht legte er sich endlich schlafen, aber er war so aufgeregt darüber, daß kein Schlaf in seine Augen kommen wollte, er war froh, daß es Zeit zum Aufstehen war. — Die Käse- und Butterhandlung von de Griendt L Sohn. Noch war es am folgenden Morgen kaum zehn Uhr, und schon befand sich Martin in der Nähe von Brewers Quai. Wohl zwanzigmal war er an dem großen Warenhaus von de Griendt vorbeigegangen, immer in der vergeblichen Hoffnung, einen Blick in das Innere tun zu können. Draußen ging es lebhaft genug zu. In geschäftlicher Eile wurden große Tonnen und Ballen abgeladen, fein gekleidete Herren in hohen seidenen Hüten kamen und gingen. Je näher es dem Mittag zuging, desto un ruhiger wurde Martin, und die Sorge um seine Klei dung machte ihn ganz nervös, vielleicht war der Kragen verschoben oder der Rock staubig geworden, auch die Schuhe kamen ihm nicht mehr so recht blank vor. In der Nähe des Tower, wo der Geschäftsgeist des 19. Jahr hunderts den altersgrauen Türmen zum Trotz ein großes Teegeschäft gegründet hat, sah Martin einen unternehmend aussehenden Stiefelputzer; der kam ihm gerade gelegen! So konnte doch wenigstens dem Mangel mit den blind gewordenen Stiefeln abgeholfen werden! Endlich schlug es elf, und klopfenden Herzens trat Martin ein. Welch' reges Leben herrschte in diesen weiten Räumen! Hier luden die Arbeiter — wahre Hühnengestalten — Lutter- und Käsefässer ab, dort priesen die Ladendiener mit lautem Eifer ihre Waren an — und alle liefen mit eiligen Schritten hin und her. Das eigenartige Bild wurde von Hellen Gasflammen bestrahlt, und die ganze Luft war von einem durch dringenden Geruch, einem Gemisch von Käse und Speck, erfüllt. Martin erkundigte sich nach Herrn de Griendt; ein Arbeiter führte ihn zu diesem, und Martin sah sich einem alten Herrn, der kaum über Mittelgröße sein mochte, mit einem schneeweißen Bart und einer großen, glänzenden Platte gegenüber. Auf der gebogenen Nase saß eine Stahlbrille, hinter der ein Paar kluge Augen hervorblickten. De Griendt war eben bei einer überaus