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Skizze von Betty Nittweger. m Tage nach der Beerdigung der hochbejahrten, schon seit langem verwitweten Frau Präsident Walter sitzen ihre Kindet, zwei Söhne, eine unverhei ratete und eine verheiratete Tochter, in dem behag lichen Wohnzimmer am Kafseetisch. Tiefer Ernst liegt auf allen Gesichtern, wie das nur natürlich ist. Die Präsidentin war eine so gute Mutter gewesen. Auch die Schwiegertöchter und der Schwiegersohn hatten sie aufrichtig verehrt, und die Enkel hingen mit inniger Liebe an der Großmutter. Man hat die Kinder, die auch mit zur Beerdigung gekommen sind, ins Freie geschickt, denn es gibt allerlei zu besprechen und zu ordnen, wobei ihre Anwesenheit gestört hätte. Die beiden Söhne der Verstorbenen und der Schwiegersohn wollen am folgenden Tage bereits wieder abreisen, und sie müssen doch noch mit bestimmen, was aus „Tante Lotte" werden soll. Charlotte ist die ältere Tochter, die, unverheiratet, ihr ganzes Leben — sie ist nun fünfundfünfzig — im Elternhaus verbracht und seit Vaters Tod die Mutter, eine sehr zarte Frau, der niemand ein so hohes Alter zugetraut hätte, treulich gepflegt hat. Kamen die Ge schwister mit ihren Familien zu Besuch, dann sorgte Tante Lotte stets für alles, was zum Be hagen der lieben Gäste notwendig war. Früher hatte Charlotte andere Lebens ziele gehabt. Nachdem die ersten Zugend jahre vorüber waren, hätte sie sich gern als Lehrerin ausgebildet. Dieser Beruf war damals fast der einzige, der für eine Tochter aus gutem Hause in Frage kam. Aber der Präsident war ein Mann der alten Schule: seiner Ansicht nach gehörte die Frau ins Haus, und der Wunsch seiner Ältesten wurde als unberechtigt und überflüssig gar nicht ernstlich erwogen. Rach des Vaters Tode hätte Charlotte am liebsten eine Stellung angenommen, um zu einer gewissen Selbständigkeit zu ge langen und für ihren Unterhalt zu sorgen. Aber die Geschwister waren außer sich über diese Idee. „Wie kannst du nur daran denken, Mutter zu verlassen? Wir hätten ja keinen ruhigen Augenblick, wüßten wir sie ganz allein," so hieß es.> Charloue wagte den Einwurf, daß danach doch auch nicht gefragt würde, wenn es sich um die Heirat einer Tochter handele. Aber die Geschwister ließen diesen Einwurf nicht gelten. „Das ist doch etwas ganz anderes. Du bist eben nicht verheiratet, und das ist für Mutter jetzt ein großes Glück." So sprach der ä'teste Bruder, und die anderen stimmten ihm zu. Die Präsidentin hatte es bis dahin nie als „Glück" betrachtet, daß Charlotte „sitzen geblieben" war. Sie hatte es nicht recht ver winden können und ihre Mißstimmung auch die Tochter bisweilen fühlen lassen. Nun zum ersten Mal crschien's ihr als Vorzug. Ihr Gatte, den der Tod in der Vollkraft der Mannesjahre abgerufen, hatte sie auf Händen getragen, ihr jede Sorge fern gehalten. Allein hätte sie sich gar nicht im Leben zurechtfinden können! Wie gut, daß da jemand war, der nun das alles übernehmen würde! Charlotte war aber nicht gewillt, ihre Pläne ohne weiteres aufzugeben. Sie schlug der Mutter vor, zu der verheirateten Tochter, die immer ihr besonderer Liebling gewesen war, zu ziehen, aber das wollte die Präsidentin um keinen Preis, und der Schwiegersohn verhielt sich auch sehr zurückhaltend bei Besprechung dieser Frage. Bei aller Verehrung für die Schwieger mutter — sie ganz ins Haus nehmen, — nein, das wäre doch wohl zu viel verlangt! Ja, wenn es eine Notwendigkeit gewesen wäre, aber die Präsidentin hatte eine ziemlich hohe Pension, und es war auch noch etwas Vermögen da, so daß die beiden Damen ihr gutes Auskommen hatten. Charlotte äußerte den Brüdern gegenüber Sorge für ihre eigene Zukunft. Jetzt sei sie wohl imstande, eine Stellung auszufüllen. Sie möchte so sehr gern ihre Kräfte verwerten. Da waren die Brüder ganz beleidigt: „So lange Mutter da ist, hast du zu leben und später — nun, ein Mädchen, das drei Geschwister hat, die alle jünger sind, braucht sich doch um die Zukunft nicht zu sorgen! Wie kannst du denken, daß wir dich jemals im Stich laßen würden! Nein, nein, bleib du nur ruhig bei Mutter, die dich so nötig hat. Ein be haglicheres Dasein für dich kann es ja gar nicht geben. Brauchst d ch nicht bei Fremden hernmzuschlagen." De» englische leal-are Luftschiff „Rolli Sekundus": Die Kondel des Ballons. Cop.: Internationale Illustrations-Cenlrale. lText f. S. 304.)