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Nummer 137 — 23. Jahrgang 6mal wöchentl. Bezugspreis: für Juni 2R.-M. ansschl. Bestellgeld. Berechnung der Anzeigen nach Rent.-Mark. Preise: Die emgespaltene Petitzeile 30 f. Familien- u. Vereinsanz., Gesuch« 20 H. Die Petit-Reklamezeile 89 mm breit, 1 Offertengebühr für Selbstabholer 20 'H, bei Uebersendung d. d. Post außerdem Porto« zuschlag. Preis f. d. Einzelnummer 10 Nenten-Psrnnig. Geschästlicher Teil: Josef Fohmann. Dresden. SücksWe Sonnabend, den 14. Juni 1921 Im Falle höherer Gewalt erlischt jede Verpflichtung aus Lieferung sowie Erfüllung v. Anz.-AuftrSgen u Leistung v. Schadenersatz. Für undeutlich u. d. Fernspr. übermittelte Anzeigen übernehmen wir keine Ver antwortung. Unverlangt eingesandte u. mit Rückporto nicht versehene Manuskripte werden nicht aufbewahrU Sprechstunde der Redaktion 5 bis 6 Uhr nachmittags. Hauptschriftletter: Dr. JosefAlbert. Dresden^ volmerkung Tageszeitung für christliche Politik und Kultu Stesckinftsftelle der Sächsischen Volk-neilung und Druck und Merlan, Saxonia-Buchdruckeret GmbH, ^ Dresdcn-A. IS, Holbelnswatzo 4«, Fernruf 3S7L2, Post- ^ schccklonIoDresden 14797 IlileW« rnili Willeii« Ae Well »er M » Iss«Le»e» RedaNion der Sächsischen Volkszettuna ch Dresden»A. IS. Holbeinttrakc 4L. genuin 82722 und 38538 Von Dr. Heinrich Mataja, Wien. r Mehr als je ist Europa von den schwersten sozialen Zer würfnissen zerrissen, von landwirtschaftlichen Sorgen gequält, von nationalen Leidenschaften aufgewühlt. Der Kampf gegen diese gefährliche Unruhe must auf den verschiedensten Gebieten geführt werden. Es ist überaus wichtig, für die Idee zu wirken, dast Streitigkeiten zwischen Völkern nicht mehr durch Kriege entschieden werden dürfen. Ueberseeische Kriege drohen Europa nicht. Vorsichtsmaß regeln gegen kriegerische Verwicklungen mit Japan oder mit den Vereinigten Staaten zu treffen, wäre gegenstandslos, vom lateini schen Amerika oder anderen überseeischen Staaten ganz zu schwei gen. Die Gefahren, die Europa drohen, sind innerenropäische Kriege. Wohl ist ein großer europäischer Krieg für die nächsten Jahre nicht möglich, aber wir müssen dafür sorgen, dast uns nicht eine Mentalität heranwachse, die später einmal zum Kriege führen müßte, und wir müssen'auch auf die kleinen Divergenzen in Europa unser Augenmerk richte», damit nicht dort ein verderb liches Feuer sich entzündet. In diesem Europa, das in der Welt so klein geworden ist, gibt cS viele widerstreitende, aber auch viele gemeinsame Interessen. Da heißt cs, gemeinsame In teressen erkennen, gemeinsame Interessen schaffen und für diese gemeinsamen Interessen Propaganda machen. Dazu gehört viel Mühe, und was noch schwerer ist, viel Objektivität. Die alliierten und assoziierten Mächte haben die Friedcns- diktate zu deren Unterfertignng die Besiegten gezwungen wur den, Friedensverträge genannt und stellen nun die Forderung: „Verträgen halte die Treu". So einfach aber ist die Sache natür lich nicht, denn dieses Ausmaß moralischer Bindung besteht nur bei frei geschlossenen Verträgen. Ein solcher Vertrag kann nur durch den übereinstimmenden Willen der Partner ab geändert oder aufgehoben werden. Ein Diktat, das auf Gewalt gegründet ist, wird auch durch Gewalt wieder außer Kraft gesetzt. Wer in einen Vertrag einwilligt, haftet auch für seine Fähigkeit, das ausbedungene Ausmaß von Verpflichtungen zu erfüllen. Für die Fähigkeit, aufdiktierte Verpflichtungen zu erfüllen, haftet man nicht. Das Argument der Vertragstreue ist das schlechteste Argu ment, um die Friedensvertrüge zu stützen. Man wird im Gegen teil gerade damit die heftigste Opposition Hervorrufen. Es ist viel zweckmäßiger, vor allem die Aufmerksamkeit darauf zu len ken, daß die Erfüllung der durch die Friedensdiktate auferlegten Verpflichtungen die einzige Möglichkeit darstcllt, aus der für alle Teile immer gefährlicher werdenden Situation hcrauSzukomme». Es müssen aber auch die Siegermüchte die von ihnen übernomme nen Verpflichtungen einhalten und die Friedensdiktate müssen durch vernünftige, für beide Teile vorteilhafte Abmachungen er gänzt werden. Deshalb bedeutet die Einsetzung der Sachverständi genkommission und das Gutachten, das sie abgegeben haben, einen bedeutenden Schritt »ach vorwärts. Nicht minder wichtig ist die Behandlung der nationalen Minoritäten. Niemals wird ein innerer Frieden zwischen den Völkern zu erzielen sein, so lange das nationale Selbstbestimmungsrecht jener kleinen und großen Gruppen nicht beachtet wird, die innerhalb eines StaatswcsenS wohnen, das von Angehörigen einer anderen Nation geleitet wird. Es ist im höchsten Grad verletzend, eS ist unerträglich und unhalt bar, wenn in irgendeinem europäischen Staat von einer besiegten oder geduldeten Nation gesprochen wird. Diese Fragen betreffen die Stellung der europäischen Staa ten zueinander. Ein weiteres überaus wichtiges Kapitel ist das Verhältnis der europäischen Staaten zu Ruß land. Die Sowjets wollen die Weltrevolutiou, und es ist frag lich, ob sie jemals davon abzubringcn sein werden. Nun muß Europa eine klare und feste Entscheidung treffen, wie es dieser Gefahr zu begegnen habe. Die Politik der Interventionen, die mit Vorbehalten und mit halbem Herzen gemacht worden ist, hat zu keinem Erfolg geführt. Wir wissen ja überhaupt garnicht, was in Rußland entstehen würde, wen» heute die Herrschaft der Bol schewisten gestürzt würde oder in sich zusammenbräche. Jeden falls muß dies der inneren Entwicklung Rußlands überlassen blei ben, und wir müssen bis auf weiteres mit der Herrschaft der Sowjets rechnen. Nun erhebt sich aber die große Frage, ob die europäischen Mächte Rußland isolieren, oder ob sie mit ihm einen möglichst normalen Verkehr aufnehmen sollen. Das wirtschaft liche Interesse Europas spricht für das letztere, denn die Ausschal tung eines so großen Wirtschaftskörpers in Produktion und Kon sum ist selbstverständlich ein sehr erheblicher Nachteil. Dieser Verkehr ist aber natürlich auch ein Vorteil für Rußland, er stärkt seine Volkswirtschaft und kann zur Erholung Rußlands beitragen. Da nun Sowjctrußland auf seine» Plan von Weltrevolutiou und Invasion nicht verzichtet, erhebt sich daS Bedenken, ob man nicht durch die diplomatische Anerkennung und durch den Verkehr mit Rußland dem geschworenen Feind die Waffen liefert, mit denen er uns bekämpfen wird. Wir müssen uns aber klar machen, daß Rußland auch unter den schwierigsten, auch unter verzweifelten Der Wirrwarr in Paris Der heiitM Kampf Paris, 18. Juni. <Drahtbcrlcht.) Heute nachmittag um 2 Uhr tritt die Nationalversammlung zur Wahl des Präsidenten in Versailles zusammen. Nach den Verhandlungen von heute vormittag ist es durchaus unbestimmt, welcher von den beiden Kandidaten, die einzig in Betracht kommen, Doumergue oder Painlevä als Sieger hervorgehen wird. Paris, 18. Juni. Die Auffassungen über die heutige Präsidentenwahl sind in den politischen Kreisen sehr verschieden. Allgemein betrachtet ist die Linkspresse und die Kandidatur Painleoös sehr gefährdet. Da Painlcvä gestern im Kongreß nur 306 Stimmen erhalten hat. haben die Linksparteien bis nach Mitternacht getagt, um die Kandidatur Painlcvös zu retten, weil sie bei einer Nichtwahl Painlcm's, dessen Präsidentschaft in der Kammer als kompromittiert betrachtet, In der Tat ver lautet. daß Painleoö, wenn er heute nicht gewählt wird, daran denkt, als Präsident der Kammer abzudanlicn. Das bedeutet für die Linksparteien eine doppelte Niederlage. Die Bespre chungen, die vom Komitee aller Linksgruppen gestern nacht ge führt worden sind, haben aber keine Klärung in der Angelegen heit gebracht. Alles scheiterte an dem Widerstand des Toumer- guc, der weder als Kandidat zurückstehcn, noch sich als offizieller Kandidat der Linksparteien erklären lassen wollte. Doumergue rechnet darauf, mit den Stimmen der Rechtsparteien gewählt zu werden. Die Linksparteien werden in Anbetracht dieser Lage, heute um 1 Uhr in Versailles einen Kongreß abhalten. Es be steht die Ansicht, daß Doumergue die offizielle Kandidatur der Linksparteien annimmc. In politischen Kreisen erklärt man, daß der Ratgeber Doumergues, Poincare gewesen sei, welcher den Posten als Senatspräsident, der durch die Wahl Doumer gues frei wurde, anzunehmcn gedenkt. Unter diese» Umständen wird die heutige Wahl sehr bewegt sein. Die Morgenprcsse stimmt in der Meinung überein, daß Doumergue die gute Aus sicht hat. wenn nicht mit absoluter Mehrheit, so doch im zweiten oder dritten Wahlgang gewählt zu werden. Paris, 13. Juni. Um 10 Uhr abends wurde an die Presse folgendes Kommunique ausgegebeu: Die Vorsitzenden der Links gruppen der Kammer und des Senats haben um 1.30 Uhr im Kongrcßsaale zu Versailles eine Vollsitzung abgehallen. Dies deutet das führende Blatt des Linksblockes „Oeuvre" wie folgt: In Versailles werde heute der Kampf in Gang kommen. Denn alle Anstregung, eine einheitliche republikanische Kandidatur zu verwirklichen, fei gescheitert. Painleoö werde, von der Vollversammlung der Linksfraktionen als Kandidat ausgestellt. Doumergue gegenllbcrstehen, der zwar offiziell seine Kandi datur nicht aufgestellt habe, aber sich geneigt erklärte, dem Ruse seiner Freunde zu folgen. Unter den letzteren seien die Par lamentarier aus dem Süden ganz besonders regsam. Schließ lich sei noch von einer dritte» Kandidatur die Rede, die un ter Umständen in Erscheinung treten könnte. Von einer ge mäßigten Persönlichkeit, die der vergangenen Legislatur periode eine Rolle gespielt habe, werde versichert, daß die Stimm zettel mit 4 Namen bereits gedruckt seien. Paris, den 13. Juni. In der gestrigen Versammlung des Linkskartells im Festsaale des Senats zur Wahl des Prä sidentschaftskandidaten waren von den obO einge ladenen Abgeordneten und Senatoren nur 447 erschienen. Es herrschte eine fieberhafte Erregung, als um zwei Uhr Hcrriot in Begleitung des Kandidaten Pa i nie vö im Saale erschien. Sofort wurde die Abstimmung eröffnet. Das Ergebnis war folgendes: Painlevä 306 Stimmen, Doumergue 119 Stimmen, 22 Stimmen waren ungültig. Doumergue hatte zu dieser Ver sammlung seine Kandidatur nicht aufgestellt. Paris, 13. Juni. Die Linksparteien haben gestern abend noch einmal eine Sitzung abgehalte». Es wurde beschlossen/ sich, wenn möglich, auf einen dritten Kandidaten zu einige», wenn Paiuleve und Doumergue sich bereit erklären, zurückzutretcn. Tiefer einzige und neue Kandidat der Linksparteien würde Herriok sein. Paiuleve erklärte sich bereit, zugunsten HcrriotS Fnrückzutreten. Eine Delegation, die sich zu Doumergue begab, erhielt von diesem den Bescheid, daß er nichts dagegen tun könne, wenn seine Freunde seine Kandidatur aufrechterhalten. Es herrschte infolgedessen in den Linksparteien gestern abend eine große Erregung. Hcrriot sollte erklärt haben, daß er die Kan didatur ablehnen würde, wenn Doumergue gewählt würde. Wenn Herriot die Bildung des Kabinettcs nicht übernimmt, würde Briand die Bildung des Kabiuettes übernehmen. Unter diesen Umständen wird . die Präsidentenwahl nicht ohne Zwischenfälle vorsichgehen und einen sehr bewegten Verlaus nehmen. Die Aufnahme der alliierten Besprechungen London, 13. Juni. Die „Times" berichtet aus Brüssel: Man sei dort der Ansicht, daß Herriot sofort nach der Bil dung des französischen Kabinetts um eine Unterredung mit dem Premierminister Theunis und dem Außenminister Huy - mans nachsuchen wird, woraus dann eine Zusammenkunft mit Macdonald folgen werde. Diese Erörterungen würden die Prä liminarien für eine interalliierte Konferenz sein, die wahrscheinlich noch vor Ende des Monats in London statt- sinden werde. London, 13. Juni. Blättcrmeldungen zufolge kehrte Mac- donald am Sonntag aus Schottland hierher zurück. „Eveniug Standard" zufolge wird erwartet, daß Herriot am 20. Juni nach London kommen wird, um sich mit Macdonald zu be sprechen. Dach keine Einigung mit der Miknin Düsseldorf, den 13. Juni. Gestern fanden die ersten Ver handlungen über die Neuregelung der in den „Mikumverträgen" sestgelegten Reparationszahlungen der rheinischen Industrie statt. Die französische Behörde gibt darüber folgendes Kommu nique heraus: Die Besprechungen zur Erneuerung der Mikumverträge haben gestern um vier Uhr begonnen. Die deutsche Industrie war durch die Herren Voegler, Thyssen, Reusch, Fickler, Fahren horst. von Felsen. Kloeckner, Hcrbig und Jüngst vertreten. Die Industriellen legten die schwierige Lage dar. in der sie sich in folge der aus den Mikumverträgen entstandenen Lasten und den aus dem letzten Streik sich ergebenden Konsequenzen befinden. Sie stellten die Frage, ob die französische und belgische Negierung genest seien, die für die Reparationsleistungen erforderliche Summe entweder direkt vorzuschießeu, oder durch Vermittlung der Psäudcrkasse vorzustrecken. Sie erklärten nötigenfalls die unentgclilichen Reparationslieferungen fortsetzen zu können, unter der Bedingung, daß die französischen Behörden anerken nen. daß diese Leistungen auf Konto des Sachoerständigenplanes, und zwar rückwirkend ab 16. April, Kommen. Das am 15. April geschlossene Abkommen würde somit hiusällig. Da die Mikum diese verschiedene^. Vorschläge ganz entschieden ab- lehute, so beschlossen die Industriellen mit der Reichsre gierung in Berlin Rücksprache zu nehmen. Die nächste Be sprechung wird am nächsten Sonntag, 10 Uhr vormittags, in Düsseldorf stattsindeu. Paris, den 13. Juni. Wie der „Tcmps" meldet, haben der deutsche Botschafter in Paris und der deutsche Msandte in Brüssel den dortigen Regierungen Schriftstücke der Reichsre- gierung überreicht, in denen mitgeteilt wird, daß die deutschen Industriellen des Nuhrgebictcs nicht mehr in der Lage seien, die Kohlenlicferungen fortzusehen und die deutsche Negierung sich außerstande suhle, diese Lieferungen zu finanzieren. Ter Oual d' Orsay ließ Mitteilen, daß er eine Fortsetzung der Mikumver träge wünsche, bis eine neue Regierung gebildet sei, die diese Frage entsckielden könne. Einqreifen Herriots Köln, 13. Juni. Nach einer Pariser Meldung der Kölni schen Zeitung wird in radikalen Pariser Kreise» erklärt, Her- riot lege den grössten Wert darauf, wenn möglich selbst in die Verhandlungen über die Verlängerung der Mikumverträge cin- zngreifen. wirtschaftlichen Verhältnissen noch immer die Möglichkeit behält, zum Krieg zu rüsten, und Propaganda in> Ausland zu treiben. Die Sowjetregierung besitzt die stärksten Nerven der Welt, zum »lindesten stärkere alz wir Europäer. Sie ist imstande, Millionen ihrer Untertanen verhungern und an Seuchen zugrnndcgchcn zu lassen, während sie im Ausland de» Rubel rollen läßt, um ihr Terain dort vorzubereiten, und während sie die Ausrüstung der Noten Armee vervollständigt. Man macht es ihr vielleicht etwas bequemer, wenn man sie bei ihrem wirtschaftlichen Ausbau unter stützt. Aber andererseits ist die Gefahr mbt zu verkennen, die entsteht, wenn man Rußland gleichsam in rinm Käsig sperren will. Es bleibt ihm ja dann schließl-ch keine andere Wahl als losznbrcchen.4 Gibt inan den Sowjets die Möglichkeit des Auf baues, so erweckt man auch in ihnen ein gewisses Interesse an ruhiger Entwicklung. Dieses Interesse wird bei dem einen stärker, bei dem anderen schwächer sein. Sie werden ihre eigenen Maß regeln nicht nur danach beurteile», ob sie dem kommunistischen Programm entsprechen, sondern auch, ob sie im Bereich des wirt schaftlich Möglichen und Zweckmäßigen liegen. Diese Politik wird also ihre aggresiven Tendenzen abschwächcn. Selbstverständlich darf sich aber Europa nie darüber täusche», daß ihm von Sowjet- rnßland eine doppelte Gefahr droht, die Gefahr von Revolutionen im Innern und die Gefahr eines bewaffneten Angriffes von außen. Danach mnß cS seine Politik einrichten.