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Mittwoch, 4. November 1925 Im Fall« höherer Gewalt erlischt jede Verpflichtung auf Lieferung sowie Erfüllung v. Anzeigenaufträge!» u. Leistung v. Schadenersatz. Für undeutl. u. d. Fern« ruf ü'oermitt. Anzeigen übernehmen wir keine Ver« auiwortung. Unverlangt eingesandte u. in. Rückporto nicht versehene Manuskripte merd. nicht ausbewahrt. Sprechstunde d. Redaktion 8 bis 6 Uhr nachmittags. Hauptschristleit.: Dr. Joseph Albert, Dresden. Nummer 255 — 24. Jahrgang «mal wöch. Bezugspreis: für Novbr. 3.— einschl. Bestellgeld. Anzeigenpreise: Die Igesp. Petitzeile »0^. Stellengesuche 83 L. Die Petitreklamezeile 89 Milli- meter breit. 1 Osfertengebühren für SelbstÄrholer 20 L. bei Uebersendung durch die Post außerdem Portozrrschlag. Einzel-Nr. 13 L. Sonntags-Nr. 18 Geschäftlicher Teil: Joses Fohman n. Dres den. Leiäenksus Vsi-I Selinilil»' ^ttmsnkt 8 Slilüsnrlollo Ssmle er» > diesckmftsftelle, Druck und Verlag, Saxonia» Buchdriickeret GmbH..DreSdc,»A. io.HoibeinftrastesL gcximii 82722. Postscheckkonto Dresden >4797. Banikonto Bafsenge s- Kritisch-, Dresden. Für christliche Politik und Kultur Redakttan der Sächsischen VollSzettung DreSden-illlst. >6. Holdeinstrahe 16 Nernrn' 82722 nnd 88Ü38 Die Krise Die Kabinettskrise im Reich dauert seht schon eine geraume Zeit an. Wir sind solche Verhältnisse gewohnt und würden uns wundern, wenn es einmal schneller gehen wollte. Im vorigen Jahre wurde uns eine solche Fülle von Krisen beschieden, daß wir das allmählich als normalen „deutschen" Zustand empfanden, und wenn wir heute bedenken, daß ausgerechnet die Krisenmacher von damals in der gegenwärtigen Regierung sitzen, ja diese Regierung in den wichtigsten Aemtern vertreten, dann brauchen wir uns über nichts mehr zu wundern. Um die gegenwärtige Situation zu verstehen, müs sen wir uns vergegenwärtigen, wie die jetzige Re gierung Luther s. Zt. zustande kam. Bekanntlich verfiel nach Annahme der Dawesgesetze im Reichstag die Deut sche Volkspartei auf die fixe Idee, das Kabinett Marx zu stürzen und an keiner Regierung mehr teilzunehmen, in der nicht auch die Deutschnationalen vertreten seien. Und zwar unter völliger Ausschaltung der Sozial demokraten. Das Zentrum vertrat dagegen den Stand punkt der großen Koalition oder wenn möglich der gro ßen Volksgemeinschaft, also Erweiterung der Regie rungsbasis nach rechts und links. Marx hat dreimal versucht, diesen Plan zur Durchführung zu bringen, aber er scheiterte jedesmal an dem sinnlosen Widerstand der Volkspartei unter Führung Stresemanns und der Deutschnationalen. Schließlich wurde Marx auch noch von seinem Finanzminister Luther im Stich gelassen, trotzdem Marx gerade für Luther sich so energisch ein gesetzt hatte und kein Kabinett ohne ihn bilden wollte. Dann gab Marx seinen Auftrag zur Kabinettsbildung endgültig zurück und es kam die Rechtskoalition unter Führung Luthers zustande. Das Interessanteste aber war damals folgendes: Die Erklärung, die die neue Re gierung im Reichstag abgab, enthielt nichts mehr und nichts weniger als das alte Programm des Kanzlers Marx. Einige schöne Worte waren darum geflochten, damit es angenehm in die Erscheinung trete. Man fragte sich unwillkürlich: Warum waren nun diese endlosen Kri sen notwendig, wenn man schließlich doch nichts Weiteres und nichts Besseres auf den Plan bringen konnte, als die Regierung Marx es getan hatte. Das Firmenschild war nur geändert, eine andere Ware konnte nicht ange priesen werden. So wurde es also offenbar, daß die Rechtsparteien nur deshalb den Gang der Politik um viele Wochen zum Stillstand gebracht hatten, um schließ lich im Reich ur Macht zu kommen. Weil es für die Psyche des größten Teiles des Volkes und noch viel mehr für eine Realpolitik unerträglich gewesen wäre, sofort ein neues „nationales" außenpolitisches Gewaltprogramm zu entrollen, mußte man sich mit dem alten begnügen. Mittlerweile aber würde man die Machtposition in der Innenpolitik wesentlich zu verstärken suchen und sie vor allem nach Preußen verschieben. Alle diese Pläne mißglückten aber bekanntlich, und als mit Locarno für die Deutschnattonalen der Moment gekommen war, in dem sie auf die Ehrlichkeit ihrer außenpolitischen Gesinnung (die sie in der Erklärung beim Regierungs antritt so nachdrücklich betont hatten) das Exempel machen sollten, versagten sie. Sie zogen ihre Minister aus der Regierung zurück und erklärten sich gegen das Werk von Locarno, obgleich dieses die folgerichtige Fort entwickelung derjenigen Politik ist, die 10 Moncite hin durch unter Verantwortung der deutschnationalen Minister geduldet und gebilligt wurde. Für Locarno sind bekanntlich alle Parteien, von der Deutschen Volkspartei bis einschließlich der Sozial demokratie. Daß allerdings auch diese Parteien die nöti gen Garantien für die sogen. „Rückwirkungen" haben wollen, braucht nicht erneut betont zu werden. Die So zialdemokraten und Demokraten aber haben es von vornherein abgelehnt, nun einfach für die Deutschnatio nalen in die Regierung einzutreten und als Lückenbüßer zu fungieren. Ja. die Sozialdemokraten haben sogar er klärt, daß ein Kabinett Luther überhaupt nicht für sie in Frage käme. Sie verlangten einfach die Reichstags auflösung. Die Demokraten sind etwas vorsichtiger, stehen aber auch auf dem Standpunkt, daß ein bedin gungsloses Eintreten in die Regierung, nur um schnell den Vertrag von Locarno zu retten, mcht in Frage kommt. Somit ist eine Situation geschaffen, in der die einen nach sofortigem Rücktritt des Kabinetts, die ande ren nach sofortiger Auflösung des Reichstages rufen! Die Regierung selbst steht auf dem Standpunkt, daß zunächst die außenpolitischen Fragen erledigt sein müßten, bevor man an eine innerpolitische Umschichtung herangehe. Wie stellen wir uns zu diesen Fragen? Eine Reichstagsauflösung kann im gegenwärtigen Moment nur als letztes Mittel zur Klärung in Frage kommen. Grundsätzlich muß sie vermieden werden. Erstens kostet sie eine Unsumme von Geld, peitscht eine Unsumme von Leidenschaften auf und bringt die Meu chen anstatt näher immer weiter auseinander, und zwei- ens ist doch schließlich gar kein notwendiger Zweck für eine Auflösung gegeben. Es soll festgestellt werden, ob M WM« vmeiM -«S MM« Paris. 8. November. Der Sozialistisch« Nationalrat hat bls 3.18 Uhr morgens über die Frage der Mederausnahme der Unterstützungspolitik für das Kabinett Painleve beraten. Der Antrag des Abg. Paul Faure, der dem Kabinett das Ver trauen der Sozialisten versagt, wurde mit 1431 Stimmen ange nommen. Ein Antrag Renaudel, der für die Wiederaufnahme der Unterstühungspolltlk elntritt, wurde mit 1228 Stimmen ab gelehnt. Die Sozialisten haben sich damit ausdrücklich gegen das Kabinett Painleve erklärt. Der Abstimmung d:s Sozialistischen Nationalrates ging eine erregte Debatte voraus. Gomper-Borel erklärte, die bisherige Politik Painleve sei nicht dazu angetan gewesen, Ver trauen zu erwecken. Man suche die Sozialisten mit dem Hinweis zu schrecken, das;, ivenn sie nicht für Painleve stimmten, die Re gierung gestürzt werde. Painleve werde es sowieso nicht ge lingen, auch nur einen Teil seiner Versprechungen zu halten. Unter den gegebenen Umständen seien nur einschneid'nde revo lutionäre Maßnahmen am Platze. Paul Faure meinte, daß nur zwei Möglichkeiten bestünden, entweder werde ein Kabinett Herrlot gebildet und die Sozialisten würden zum Eintritt in die Regierung ausgesordert, damit di« Maßnahme der Kapitalsteuer aus ihre und di« Verantwortung der Radikal-Sozialisten be schlossen würde. Die Verweigerung des Beschlusses im Sozialischen National- rat, dem Kabinett das Vertrauen zu geben, dürfte dazu führen, daß Painleve vielleicht schon bei der Abstimmung auf die Ver lesung der Regierungserklärung und bei den Verhandlungen der Interpellationen infolge eines Mißtrauensvotums zurück- tret-n mutz. In sozialistischen Kreisen ist man sest davon überzeugt, daß ein anderer Ausweg nicht möglich ist. Die Kom mentare der Rechtsblätter lassen zudem keine» Ziveifel darüber aufkommen, daß die Oppositionsparteien nicht gesonnen sind, das deutsche Volk in seiner Mehrheit für Locarno ist. Aber das wissen wir ja heute schon. Es ist in seiner Mehrheit dafür. Das kommt ganz klar und deutlich in der Auffassung der größten Parteien des jetzigen Reichstages bereits zum Ausdruck. Die Befragung des Volkes ist also in diesem Sinne unnütz. Und die Kabinettsumbildung? Diese Frage ist schon bedeutend schwieriger. Es gibt einsichtige Leute, die be haupten, Luther müsse gehen. Warum? Luther sei von den Deutschnationalen auf den Thron erhoben mor den und habe den Deutschnationalen zuliebe ein Kabi nett Marx vereitelt. In dem Moment nun, wo seine Stützen ihn verlassen, seien die Vorbedingungen für seine Kanzlerschaft fortgefallen. Er sei also erledigt. Man kann solche Auffassung verstehen, aber wir glauben, daß die gegenwärtige Notlage unserer Politik auch eine etwas andere Auffassung zuläßt. Man muß auf Grund dieser Notlage, d. h. in Anbetracht der notwendigen Erledigung des in Locarno begonnenen Werkes die Frage zunächst so formulieren: Ist es unbedingt notwendig, daß Luther bleibt? Unbedingt können wir das nicht bejahen, aber es wäre zweifellos zur Stärkung unseres außenpolitischen Ansehens das Bessere, wenn er gegenwärtig bliebe. Bis zur Erledigung des Locarnoer Vertrages. Was danach geschehen muß. ist eine andere Sache. Die Fortführung dieser Locarno-Politik ist nichtan den Na men Luther gebunden, ebenso wenig wie s. Zt. die Fortführung der unter Marx in London begonnenen Po litik an den Namen Marx gebunden war. Und selbst wenn Lllther heute einsähc, daß er nach dem 2. Dezem ber gestürzt würde, so hätte er als real denkender Staatsmann die Pflicht, bis dahin das Bestmögliche noch zu leisten. Dieser Luther aber wird nun gar nicht regieren können, wenn er nicht die Demokraten und Sozial demokraten irgendwie für sich gewinnt Hier liegt der eigentliche Schwerpunkt. Es ist ganz selbstverständlich, daß diese Parteien nicht ohne bestimmte Zugeständnisse in die Regierung eintreten. Dasselbe gilt vom Zen trum, das ja bisher ohne koalitionsmäßige Bindung im Kabinett einen Vertreter hatte. Alle drei Parteien, ohne die setzt keine Politik non Locarno mehr möglich ist, müs sen Garantie n dafür erhalten, daß sich die gegenwär tigen Zustände nicht mehr wiederholen. Es ist das ja auch von seiten des Zentrums und der Demokraten schon genügend gesagt worden. Und wenn die Sozialdemokra- gegen die Sozialisten für das Kabinett zu stimm:«. Schließlich ist ja auch bekannt, daß Painleve nur mit einer Linksmehrheit regieren will. Sie Sie»««« -er Mei Eine Red« Kemal Paschas. Paris, 3. November. Mustafa Keniat P a i ch a u.eit gestern eine Rede in der türkischen Nationalversammlung, in der er erklärte, der Völkerbund habe nach enier an Ort und Stelle durchgeführten Untersuchung die ürki'chen Rechte auf Mossnl gutgeheiße». Das Recht sei endgültig anerkannt. D:e Türkei halte sich jedoch entschieden an tue Bestimmungen des Vertrages von Lausanne. Die Türkei sei'friedliebend und wolle mit allen Völkern eeund'ckcitt- liche Beziehungen unterhalten. Weiter ging Kemal auf die Modernisierung der Türkei ein und sagte, das türkische Volk zabe be schlossen, mit allen Mitteln die Wohltaten der modernen Zivilisation zu genießen. Auf diesem Wege gebe es keinen Halt. Kemal zählte die wirtschaftlichen und finanziellen Fortschritte der Nation auf, die den republikani schen Prinzipien zu danken seien. Bei Besprechung der äußeren Politik erwähnte er neben Persien und Afgha nistan nur Sowjeirußland und unterstrich die freundschaft lichen Beziehungen zu Moskau, die mit gegenseitigem Ver trauen fortgeführt würden. Bei Berührung der Locarno-Verträge sagte Kemal, die gegcnwit'ge Sicherheit sei die Basis des Glückes aller Nationen, aber wenn die Sicherheit nicht aus alle Völker ausgedehnt werde, nnd wenn der Waffenhandel nur unter der Kontrolle einiger Völker stehe, würden gewisse Völker anderen über legen sein. Am Schluß appellierte der Präsident an die Sorge um die nationale Verteidigung als Hauptgarantie des Fortschritts der Türkei. teu bis jetzt auch mit diesen Garantien sich nicht begnügen wollen, sondern einfach die Neichstagsauflösung propa gieren, so liegt diese schroffe Stellungnahme vielleicht ein gut Teil i n d e m V e r h a l t e n L u t h e r s n n d S t r e- semanns begründet. Wenn z. B. Luther es fer tig bringt, in Essen 1t- Stunde lang über die gegenwär tige wichtige weltpolitische Wendung zu sprechen. dabei aber mit keinem Wort die van den Dentschnationalen geschaffene Krise erwähnt, so ist das mehr als auf fallen d Das ist ein Herumgehen um den heißen Brei, ein Operieren mit Hintertüren. Mit Fug und Recht muß man eine ganz klare Stellungnahme vor allein des Kanzlers verlangen. Die Welt will wissen, wie das Verhältnis Luthers und Stresemanns oder mit anderen Worten der Deutschen Valkspartei zu den Deuischnationalen in Zukunft sich gestalten soll. Darauf erstrecken sich die Garantien, die man haben will, damit es sich nicht wiederhole, daß eine Regierungspartei im entscheidenden Augenblick ihre eigene Politik, ihre eige nen Minister und den von ihnen enthronisierten Kanzler sabotieren. Solange man aber den Eindruck gewinnen kann, daß die Dentschnationalen unter Umständen nach dem 2. Dezember, wenn die schwierige Ai aterie ohne sie erledigt ist. wieder in den Regierungs sesseln Platz nehmen könnten, solange kann natürlich an gar keine Unterstützung des Kabinetts Luther gedacht werden. Die verlangten Garantien muß die Deut sche Dolkspartei als solche (und nicht etwa Luther oder Stresemann persönlich) geben, denn die Volkspartei ist es ja gewesen, die letzten Endes die gan zen Verhältnisse von heute einmal durch die bedin gungslose Einbeziehung der Deutschnationalen in die Negierung und zum anderen Mal durch die rü ch sichts lose Ausschließung der Sozialdemokratie aus der Re gierung heraufbeschworen hat. Selbstverständlich kann kein Staatsmann und keine Partei heute eine Garantie dafür übernehmen, daß in aller Zukunft die Deutschnationale Partei von der Negierung ausgeschlos sen bleibe. Das ist auch gar nicht der Sinn der Garan tie. Es soll in aIlerZukunft ausgeschlossen bleiben, daß eine u n f ü h i g e. v e r a n t w o r t u n g s l o s e Par tei in die Regierung einlrete. Da sich aber die Deutsch- nationale Partei jetzt als eine solche erwiesen hat, und zwar trotz monatelanger Erziehungskünste der Volks- parlci, so muß zum mindesten für eine bestimmte Zeit eine Ausschaltung der Deutschnationalen garantiert worden. Und wie heute die Dinge liegen, dürfte diese Zeit wahrlich nicht allzu kurz de-