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Nr. 27 — IO. Jahrgang Donnerstag den 2. Februar LV11 MMschkMksmtiM Erscheint täglich nachm, mit Ausnahme der Sonn- und Festtage. Sla-aabe 4 mit .Die Zeit In Wort und Bild' viertelskbrlich tt.ia 4k. In Dresden durch Boten «,4« In ganz Deutschland srei HauS S.S» in Oesterreich 4 4S IO Au-gabe » ohne illustrierte Beilage viertelilibrlich 1,8« -V. In Dresden durch Boten 8,1« ^ In ganz Deutschland srei HauS ».SS a»; in Oesterreich 4,«V L - Einzel-Nr. I« Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht und Freiheit Inserat« werden die »gespaltene Petitzeile oder deren Baum mit Iki 4. Reklamen mit 8« 4 die Zeile berechnet, bei Wiederholungen entsprechenden Rabatt, Bochdruckerei, Redaktion und wefchäftsstellr: Dresden, Ptllnttzer Strafte 4!1 — Fernsprecher 18«« Für Rückgabe unverlangt. Schriftstücke keine Perbiudlichkeit RedaktionS-Sprcchstnndc: 11 bis 18 Uhr, Vslileo 5ie! Sie vereckvensen «eis an sei» touren, ge- runsdeiissctiLsliclren nervenre rrütiensen oONNeNlLailSS oser 81« »paren «eis an unserem rvolilleiien, gesunskeitsrutrlglicken, ngkr- knslen uns sebkaten r^äkr-Kakso. ?fä. 80,100,120.140 b>8 200 ?k. Oerlin^ L k^ockZlrok, Vre8äen. dlieserlsgen in allen Ltasltoiten, Xkl Paul Singer. Dresden, den 1. Februar 1SI1. Bei Eröffnung des Reichstages am Dienstagmittag 1 Uhr 15 Minuten sprach Präsident Graf Schwerin fol genden Nachruf: „Ich erhalte soeben die traurige Nachricht, daß eines unserer ältesten Mitglieder, der Abgeordnete Singer, heute mittag gestorben ist. Er hat dem Reichstage seit 1884, also seit 27 Jahren, angehört. Sie haben sich zum Gedächtnis des Verstorbenen von den Plätzen erhoben: ich stelle das fest." Kurz sind diese Worte, aber bedeutungs voll für die sozialdemokratische Fraktion im Reichstage: denn er war ihr Vorsitzender seit 1890, der last nie die Sitzungen versäumte, und so manchem anderen Abgeord neten ein gutes Beispiel gab. Singer war aber von wnderer Bedeutung für seine Partei, weil er ein TaktH r war, der vorsichtig sprach und stets die kalte Ruhe des Rech ners bewahrte. Dies bewies Singer besonders als Präsi dent der sozialdemokratischen Parteitage, Ivo er die aus einanderstrebenden Richtungen selbst in den schwierigsten Lagen mit bewnndernngswertem Geschick zu meistern ver stand. Seine Reden im Reichstage waren nicht aus der Leidenschaft geboren, wie jene des Feuerkopfes Bebel, son dern abgemessen, klar und durch seine Dialektik wirksam. Singer glich mehr einem behäbigen Privatier als einem Umstürzler. Auch fein Lebensgang läßt es schwer begreiflich erscheinen, wie er im Lager der Sozialdemo kratie enden, ja, noch ihr Führer werden konnte. Er ist zu Berlin (16. Januar 1844) geboren, lernte Kaufmann und gründete 1869 mit seinem Bruder die Damenmäntelfabrik „Gebr. Singer", deren Mitinhaber er bis 1887 blieb. Dank zum Teil der schlechten Löhne, die die Firma den Arbeite rinnen gab, ward er Millionär und unterschied sich daher schon durch sein wohlgenährtes Aussehen sehr von dem aus gehungerten Proletarier niit oder ohne schwielige Ar beitshand, aus dessen Auge der tiefe Haß gegen Staat, Ge sellschaft und die besitzende Klasse spricht. Da? alles war Singer nicht. Er war der Volkstribun des Elendes, aber cr verschmähte den Lebensgenuß nicht. Die Gerechtigkeit muß es ihm lassen, daß er für die Partei große pekuniäre Opfer brachte Bei der Gründung des Berlines Vereins für Obdachlose beteiligte er sich und blieb tätig darin, wohl auch mehr aus Parteirücksichten. Der Kaufmann war in allen seinen Handlungen auch als Parteiführer zu erkennen. Durch feine ruhige Gabe der Berechnung mag er seinen Freund Bebel oft zur Mäßigung des Draufgebertums veranlaßt haben. Erst in späteren Jahren, im Gegensatz zu Bebel und Liebknecht, befaßte sich Singer init Politik und ward Partei gänger der Fortschrittspartei. Erst 1870 schloß er sich der sozialdemokratischen Partei an. 1883 wurde er zum Stadt verordneten Berlins gewählt und 1884 siegte er über den Fortschrittler Albert Träger im 4. Berliner Wahlkreise, dessen Vertreter er bis zu seinem Tode blieb. Betroffen durch die Ausweisung aus Preußen im Jahre 1886 nahm er seinen Wohnort in Plauen bei Dresden und Friedrich rode, bis er nach Aufhebung des Sozialistengesetzes wieder nach Berlin zurückkehren durfte. Von da an galt er als Parteiführer mit Bebel, bis er 1890 zum Vorsitzenden ge wählt wurde. Im Gegensatz zu den meisten Sozialdemokraten, die getauft sind, aber aus den christlichen Kirchen austraten und Dissidenten wurden, blieb Singer der jüdischen Reli gion treu. Es ist nicht von ungefähr, daß auch die Gründer der Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle und Karl Marx, reiche Juden waren, wie wir überhaupt auffallend viele reiche Juden zu den großmütigen Gönnern der Umsturzpar- tei zu zähle« haben. Auch das ist kluge Berechnung: die jüdischen Gelder, die in die sozialdemokratischen Kassen fließen, sind Versicherungsprämien des jüdischen Groß kapitals bei einem eventuellen Kladderadatsch. Ob Singer der radikalen Bebelschen Richtung angehörte? Fast möchten wir es verneinen, cr war ein zu kluger Taktiker. Ihm galt als erster Zweck, die politische Macht zu erringen. Einen Nachfolger von dieser Bedeutung wird die Par tei schwer finden. Wohl dürfte Ledebour die meisten Chancen haben. „Die römische Gefahr." Leipzig, Deo 80. Jan'nr UNI. Am Mittwochabend sprach Admiral v. Knorr im „antinltramontanen Neichsverband" über das Thema' „Die römische Gefahr." Herr v. Knorr sprach wenig, aber — schlecht. Schlecht in der Form, in dom Inhalt und in der Tendenz. Er mag ein guter Admiral gewesen sein, ein guter Redner ist er nimmermehr. Er begnügte sich denn auch damit, seine gläu bigen Hörer in einer knappen Viertelstunde mit so unver dautem Zeug zu füttern, daß diese vermutlich noch längere Zeit daran zu kauen haben werden. Nach einigen kurzen einleitenden Worten ging v. Knorr direkt auf sein Ziel los mit der Behauptung, daß Deutsch land durch die Jesuiten ultramontanisiert und an den Rand des Verderbens gebracht worden sei. Rom, d. h. der römische Pavst sei der größte Feind Deutschlands. Das evangelische Kaiserreich sei dem Ultramontanismus ein Dorn im Auge und letzterer habe dem ersteren Krieg auf Tod und Leben geschworen. Wo und wann diese Kriegserklärung stattge funden hat, glaubte uns Herr v. Knorr nicht verraten zu dürfen, ebenso wie er es ablehnte, den Beweis für seine übrigen Behauptungen zu erbringen. Er wolle dem fol genden Redner nicht vorgreifen, das war seine Ent schuldigung. v. Knorr, der an diesem Abend wirklich nur als „Schmuckstück" gedient zu haben scheint, schloß seinen eigenartigen, von einem fanatischen Haß gegen das Zen trum zeugenden „Vortrag" mit der Behauptung, daß der „antiultramontano Reichst).- band" allein imstande sei, den Ultramontanismus mit wirksamen Waffen zu bekämpfen und ihn schließlich ganz zu überwinden. Um diesen Opti mismus ist Herr v. Knorr zu beneiden, nur wüßten wir nicht, worin dieser Optimismus begründet wäre und worin cr i.i Leipzig seine Eroberungen machen will. Auch der folgende Redner — Herr Generalsekretär Wahl — blieb die Won Herrn v. Knorr in Aussicht ge stellten Beweise schuldig. Im Tone des berufsmäßigen Agitators und Hetzers fiel er über den „Ultramontanis- mus" her, verwahrte sich aber dagegen, den Katholiken irgendwie zu nahe treten zu wollen. Er klammerte sich an das abstrakte Wort „Ultramontanismus", mußte aber dann doch auf Befrage» eines Zentrumsredners zugeben, daß die Katholiken diejenigen wären, welche den Ultra- montanismus ausmachten. Wahl erörterte viele Dinge, die päpstlichen Rundschreiben, den Fall des Prinzen Mar, die Aufnahme des Prof. Martin Spahn aus Straßburg in die Zentrumsfraktion und — den Besuch des Zentrums führers Spahn im Vatikan. UarvidUa clietu —, der Zentrumdführer Spahn hat sich nicht gescheut, dem Heiligen Vater in Nom einen Besuch abzustatten, und da leugnet das Zentrum immer noch, eine konfessionelle Partei zu sein! Das ist ein Schlag in das Gesicht des deutschen Volkes, ein Spielen mit der Ehre desselben. Das Zentrum erhält seine Direktiven von Rom, es muß die Befehle des Papstes ausführen und darf auch in rein politischen Fra gen keine selbständige Meinung habe». Sogar die deutschen Militärvorlageu werden in Nom entschieden. Beweis hierfür ist die Septenatsfrage der 87er Jahre, die Ron, nach seinen Wünschen zu entscheiden suchte. Diese Blöße des Vortragenden benutzte der erste Diskussionsredner, Herr Haidorfer-Leipzig, zu der Fest stellung, daß niemand anders als Bismarck selbst den Hei ligen Vater bat, zugunsten der Militärvorlage auf das Zen trum einzuwirken und daß niemand anders als der Zen- trumsführer Windthorst die Wünsche Roms ablehnte. Der Hieb saß gut und als vollends der Zentrumsredner daran erinnerte, daß die Katholiken ans freier Entschließung und aus nationalen Gründen einer unter Preußens Hegemonie gebildeten deutschen Einheit bcitraten. daß ferner die deutschen Katholiken ohne Zögern Preußens Schlachten als Soldaten erster Klasse schlugen, daß damals, in der Stunde der Not. von einer römischen Gefahr nichts bekannt gewesen sei, da erlebte der „ultramontane Neichsverband" das seltene Schauspiel, daß einem Zentrumsredner reicher Beifall gespendet wurde. Nachdem alsdann Herr Haidorfer noch verschiedene Unrichtigkeiten im Vortrag des Referenten richtig gestellt hatte, wobei er teilweise aus eigener Er fahrung sprechen konnte, erhob sich ein alter, würdiger Ge heimrat, um dem Zentrumsredner für seine kernigen, frischen Worte zu danken und festzustellen, daß 1870 tatsäch lich nicht Protestantische oder katholische, sondern deutsche Soldaten nach Frankreich zogen. Er habe auch in katho lischen Regimentern gute Toleranz gefunden. Damit war die ganze Debatte auf die Höhe reiner Sachlichkeit und entgegenkommender Gerechtigkeit gekommen. Das paßte natürlich den berufsmäßigen Hetzern nicht und Herr Wahl beeilte sich, dem polternden, aufdringlichen Agitatorcnton wieder znm Siege zu verhelfen. Der Verlauf des Abends hat uns aber bewiesen, wie richtig es ist, wenn tüchtige, gewandte Zentrumsredner in den gegnerischen Versammlungen auftreten. Wenn auch positiv nicht viel erreicht werden kann, so ist es doch schon als ein Gewinn zu betrachten, wenn das schwarze Bild, das andere malen, etlvas freundlicher gestaltet wird. Und — Camper alignicl Imorat. Darum, Akademiker vor die Front! Die Aufgabe ist nicht leicht, aber ehrenvoll. Snedis. Politische Rundschau. Dresden, den l. Februar 19ll. Vorzeitiger Abschluß der Kronprinzenreise. Eine durch das Wolffsche Telegr.-Bureau verbreitete offiziöse Mitteilung besagt, daß mit Rücksicht auf die in Ostasien eingetrctenen gesundheitlichen Verhältnisse der Reichs kanzler beim Kaiser beantragt habe, daß die Reise des Kronprinzen für dieses Jahr in Calcutta ihren Abschluß finde. Der Kronprinz wird demgemäß von Calcutta aus die Heimreise antreten. Den Häfen in Bangkok, Peking und Tokio, die alle herzliche Einladungen gesandt hatten, ist das Bedauern über diese durch unvorhergesehene Er eignisse herbeigeführte Aenderung der Neisedispositionen ausgesprochen worden. Ebenso den Niederlanden und den Vereinigten Staaten von Amerika, deren Kolonien eben falls aus dem Reiseplan standen. Es ist unbedingte Not wendigkeit, daß sich der Thronfolger des Deutschen Reiches nicht unnötigerweise einer Lebensgefahr aussctzt, die in den pestverdächtigcn Gegenden das Leben bedroht. Der un heimliche Gast, der sich auch unserer Niederlassung in Tsingtau genähert hat, mahnt unbedingt zur Vorsicht, und das Verhalten des Reichskanzlers wird überall Verständnis und Zustimmung finden. Der Kronprinz wird von „yuo VSl1i8?" Von Felix NowüwiejSkt. Op. 30. (Verlag Maier Fulda.) Erstausführung der „vier dramatischen Szenen" durch den Philharmonischen Chor in Leipzig (Alberthalle) Montag den 30. Januar. Da» Werk erzeugte nachhaltigen Eindruck bei allen vor- urteilSfreten Zubörern. Es ist entsprungen aus starkem, tief religiösem, christlichem Gefühle. Der Komponist besitzt ein außergewöhnlich starkes musikalische» Einfühlung«- und AuS- drnckStalent. eine durch und durch tüchtige kontrapunktische und orchestrale Schulung mit besonderer Kenntnis des StlmmensaheS und ein musik-architcktontscheS Können, da» zur Aufmerksamkeit zwingt, in Staunen versetzt und schließlich zur Bewunderung hinreißt. Der jugendliche Komponist — er zählte an die 25 Jahre, als er da» grandiose Werk abschloß — fand in der Person von Richard Hagel — des Dirigenten — einen ihm an Stärke de» musikalischen KonzeptionStalente» übenbürtigen Freund. E» ist ein seltene» Geschehnis, wenn der Künstler den Künstler leben läßt und ihm zum Leben verhi ft. Hier geschah eö. Trotz der Eigenart de» Textinhalte» fand Richard Hagel den Mut. einer zum weitaus größten Teil innerlich ander» gerichteten Zuhörerschaft da» tiefchrtstliche Werk vorzuführen. Der Erfolg ist auf seiner Seite. Die an 4500 Menschen fassende Alberthalle war zu vier Fünftel ausverkauft, nach- dem tagß zuvor derselbe Festsaal bis auf das letzte Plätzchen bcsetzt war. Der Beifall war herzlich und groß Der Chor, wohl nicht viel über einhundert Säuger, verrichtete Wunder der Tapferkeit. Immer wieder sah m in ver- wundert hin. ob diese große Wirkung in Wahrheit nur von dieser gewiß nicht zahlreichen Sängerschar herrühre. Die Rhythmik deS Werke» ist nicht immer l-ücht. Ein herzliche» Bravo dem trefflichen Chore. Da» Winderstein- Orchester leistete Treffliches. Der in der Ausfüll ung viel beschäftigte Organist. Herr Jokisch, der in letzter Stunde eingesprungen war, spielte trotz des äußerst mangelhaften Instrumentes zur Zufriedenheit. — In glück lichen Händen lagen die Rollen de» Vorsängers (Herr Willy Lüppertz) und des Petrus (Herr Martin Oberdörfer), wenn auch einige dramatische Stellen de» letzteren mehr Nachdruck vertragen hätten. Da» Beste an Tongebung und Laut- bildung gab Fräulein Gertrud Bartsch als Lygia (von der Leipziger Oper). Ihr schöne», trefflich geschulte« Organ ging wirkungsvoll auf alle Intentionen ihrer warm empfin- denden Künstlerseele ein. DaS Werk des al» Mensch so überau» bescheiden auftielenden Komponisten — er selbst mußte sich zweimal auf dem Podium der jubelnden Menge zeigen — geht seinen Gang durch die Welt. Den größten Triumph bis jctzt erlebte NowowiesSki in Amsterdam, wo ihm durch Vertreter der obersten Stadtbehörde ein großer goldener Lorbeerkranz überreicht wurde. Sind cS doch wieder die Niederländer, die einen Zeitgenossen ihres g'vßeu Edgar Tinel mit am tiefsten z» würdigen wissen. In 31 Städten deS Festlandes und zum Teil in Amerika ist da« Werk aufgeführt worden. Zahlreiche Neuauffühnn gen in Deutschland sind in feste Aussicht genommen worden. Wir vermissen die Teilnahme einiger Residenzstädte. Wer am Zustandekommen solcher Aufführungen mitarbeitet. macht sich verdient um die Erziehung deS Volkes. Es stände vielfach besser »m weite Kreise, wenn ihnen stttlichreine Kunst geboten würde. ES war ein „großer Abend", der uns durch NowowiejSkis gen'aleS Werk am Montag ge boten wurde. Die Freunde der Kunst warten auf weitere Taten. Möge dem großen, gottbegnadeten Künstler die hierzu notwendige ernste Sammlung zur rechten Zeit immer möglich sein. Unter der sicheren, von klarer künstlerischer Einsicht durchleuchteten, auf Ausarbeitung des Dramatischen gerichteten Führung von Richard Hagel kamen die zarten SttmmungSgehalte ebenso wie die starken leidenschaftlichen Affekte zu sieghaftem Ausdruck. Wie sich Hagel der lebenden Tondichter anntmmt, da» bleibt eine Ruhme-tat für sich. Hugo Löbmann.