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Sächsische Volkszeitung : 17.05.1925
- Erscheinungsdatum
- 1925-05-17
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id494508531-192505176
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id494508531-19250517
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-494508531-19250517
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Sächsische Volkszeitung
-
Jahr
1925
-
Monat
1925-05
- Tag 1925-05-17
-
Monat
1925-05
-
Jahr
1925
- Titel
- Sächsische Volkszeitung : 17.05.1925
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lnms und lauterster, liebevollster Mutterschaft. Jungfrau und Mutter in einem — das war das Frauenvordild unserer deut- scheu Vergangenheit. Wenden wir uns von da aus zu unserer Gegenioart. so werden wir schon bei oberflächlichster Betrachtung seststellen müssen, bah dieses Frauenidcal der deutschen Vergangenheit in der Oessenllichkeit heute kaum mehr in Geltung ist. Weng wir liejer blichen, dann werden wir erkennen, daß sich heute in unserm Volke eine Frauenart immer mehr durchsetzt und immer mehr zur herrschenden Vorbildsgestalt wird, die sich in allem von dem alten deutschen Frauenbilüe unterscheidet. Was in unscrm Slrahenbilde. ivas in unserm Gesellschastsleben, in den Formen unserer Vergnügungen, in der Dichtung und im Theater sich immer mehr durchsetzt, das ist jene Dame der Halb, weit, die das gerade Gegenteil des Madonnenbildes darstellt. Ein Frauenwcscn ist es, das weder Jungfrau noch Mut ter ist. Wie stark die Abwendung von dem Ideal des echten deutschen Mädchen bereits fortgeschritten ist, das geht daraus hervor, mit welcher Bedenkenlosigkeit viel« deutsche Frauen und Mädchen jene Ausschreitung der Mode mitmachen, die im letzten Grunde nichts anderes ist. als die Entwürdigung der deutschen Frau zu einem blotze» Mittel des Genusses. Es sollen durch aus die guten und vernünftigen Seiten der modernen Frauen kleidung anerkannt werden — viel Naturwidriges ist in den letzten Jahren gerade in der Frauenkleiüung abgeschafft worden: aber, was dem Tieserblickenden immer wieder ausfällt, das ist jene tiefernste Tatsache, datz viele unserer Mädchen und Frauen die seine Grenze, die sich haarscharf zwiscl-en dem Natürlichen und Gesunden einerseits und dem Unanständigen anderseits hin- durchzieht, nicht mehr zu ivahren wissen. Dadurch aber, daß das Gefühl für die Grenze verloren geht, geht in unserer Frauenwelt das Schönste zugrunde, was deutsche Dichter aller Jahrhunderte an der deutschen Frau gerühmt haben: der Sinn für Zucht, für feine Sitte, für edle Haltung. Dadurch aber sind wir in Gefahr, das teuerste Volksgut, was es gibt, zu verlieren: die Würde der Frau und die Achtung des Mannes vor der Frau. Wie schwer wird es heute, in jungen Män nern, selbst wenn sie Mitglieder katholischer Iugendoereine sind, das Bewußtsein von der Ehre der Frau und der Achtung vor der Frau zu wecken! Immer wieder wird einem von den jungen Leuten entgegen«!, daß sie am heutigen Mädchen so wenig Verehrungswürdiges mehr erblicken. Die ser Niedergang der Frauenachtung ist eine der bedenklichsten Er scheinungen unseres Volkslebens: denn wo die Frau die Achtung vor sich selbst und der Nlann die Achtung vor der Frau verliert, da breche» die innersten Mauern der Menschheit zusammen. Alle äußeren Reformen, alle staatlichen Umwälzungen und Gesetze, alle großen Männer, seien es Staatslenker oder Heerführer, hel fen einem Volke nichts mehr, wenn diese zarteste Le bensader, die Ehre der Frau, zersprungen ist. Bei dem Untergang des römischen Reiches hat nicht zuletzt di« germanische Mutter über das entartete antike Weib gesiegt. Die Erlösungslal des Christentums bestand nicht zuletzt darin, daß es an Stelle der antiken Frauenauffaffung ein« ganz neue Idee von Weiblichkeit gestellt hat. Eine Frauengestalt, zu der der Mann in erster Linie mit Verehrung und innerster Hochachtung aufschauen muhte. Diese Umwandlung der Frauenauffassung zwischen Altertum und Christentum sehen wir besonders deut lich. wenn wir die Frauengestalten der antiken Dichtung mit den größten Dichtungen des Mittelalters und der Neuzeit vergleichen Die Grundidee, die die göttliche Komödie von Dante erfüllt, ist der Gedanke, daß die reine Frau den Mann selbst durch die Tiefe der Hölle ungefährdet hindurchleiten kann, daß sie ihm schließlich zu der Anschauung des ewigen Gottes selbst hinge leitet. Diese Wahrheit von der Erlösungskraft der reinen Frau finden wir auch in der größten Dichtung unseres Volkes, in Goetl-es Faust. In jenem letzten Satze des Faust, in dem Goethe sozusagen die ganze Erfahrung seines langen Lebens zu einem Vermächtnis an sein Volk zusammenfaht, spricht sich diese Er- lösungskrast der echten Frau aus: Das ewig Weibliche zieht uns hinan. Wirkt nicht auch in diesem Wort Goethes jene tiefe Ver wandlung der Frauenauffassung nach, die durch das Leben jener Frau bewirkt wurde, in der die Lrlösungskraft der reinen Frauenseele am schönsten auf Erden erschienen war? In Maria erblicken wir nicht nur das Bild jungfräulicher Reinheit, sondern aus ihrer Jungfräulichkeit erwächst Marias tiefe Mütterlichkeit. Das ist es ja, was uns an den alten Ma donnenbildern immer wieder so tief beglückt, daß um die Züge dieser Frau eine Güte, eine Opserbereitschaft, ein« Hingabe, Se ligkeit liegt, wie sie elzm nur in einer wahren Mutter verkörpert sein kann. Durch diese Mütterlichkeit aber ist Mario von der größten Bedeutung stir unser Volksleben. Rührt nicht ein gro ßer Teil unserer heutigen Unseligkeit, der tiefen Friedlosigkeit unseres Volkes von jenem Mangel an echter Mütterlichkeit ge rade in unseren T-rgen her? Ist nicht die echte Mutter in der öffentlichen Meinung unseres Volkes geradezu zu einem Gegenstand der Verachtung geworden? Ernten jene Frauen, die heute noch den Mut hoben, einer größeren Schar von Kindern das Leben zu schen ken. nicht oft genug von den Frauen selbst nur Spott und Hohn? Sieht man in ihnen nicht oft genug törichte, zurückgebliebene Wesen, die die „Fortschritte" des 20. Jahrhunderts noch nicht ersaßt haben, muß nicht ein Volk, das keine echten Mütter mehr besitzt, nicht nur leiblich, sondern vor ollem in seiner Seele, in seiner Lebensmöglichkeit zugrunde gehen? So spricht aus dem Marienbild eine ernste Mahnung an unser Volk, an Frauen und Männer. Unseren Müttern wird das Marienbild heute das eine besonders zu sagen haben, daß sie ihre Heranwachsenden Töchter wieder mehr zum mütterlichen Wirken zu Hauseim Kreise der Geschwister heranbilden soll, daß sie in ihnen wieder vielmehr den Sinn für die Werte erwecken, die im Hause, im häuslichen Wirken und in der häuslichen Tüchtigkeit liegen. Den katholischen Männern aber wird das Marienbild die ernste Wahr heit sagen, daß sie an dem Niedergang von Frauenehre und Frauenwürde, von Mütterlichkeit und Häuslichkeit selbst eine große Mitschuld tragen: denn werden nicht manches Mal selbst bei unseren katholischen Bereinsfeftlichkeiten jene Mädchen am meisten bevorzugt, die am wenigsten ihre Mädchenehre und ihre jungfräuliche Würde zu wahren wissen? Unsere Väter haben hier eine große Erzirhungsaufgabe ihren Söhnen gegenüber. Durch eigenes Vorbild, vor allem zu Hause der Mutter gegen über, werden sie in ihren Söhnen das Bewußtsein zu wecken haben, daß sie in jedem Mädchen und in jeder Frau die Marien- wiirde achten. Nur dann, wenn in den Heranwachsenden Söh nen ein neues Ideal von echter Ritterlichkeit erweckt und ge pflegt wird, werden wir unserem Volke eine neue Zukunftsmög lichkeit gegeben haben. M» ilillll WA W SeinesgWen lei«? Bon Glauben bis ans Ende. OriginalLbersetzung von Dostojewski. Gedenke besonders, daß du niemandes Richter sein kannst. Denn es kann auf Erden keinen Richter des Verbrechers geben, bevor der Richter nicht selbst erkannt hat, daß er gerade eben solch ein Uebertreter ist, wie der vor ihm Stehende, und daß er. vielleicht mehr als für andere für das Vergehen des vor ihm Stehenden verantwortlich ist. Wenn er <cker dieses be griffen hat, alsdann mag er auch Richter werden. Wie sinnlos das auch scheint, aber es ist wahr. Denn wäre ich selber gerecht, so gäbe es vielleicht diesen Verbrecher nicht, der vor mir steht. Wenn du imstande bist, das Verbrechen des vor dir Stehenden auf dich zu nehmen und ihn mit deinem Herzen zu richten, so nimm es sofort auf dich und büße selber für ihn, ihn aber ent lasse ohne Rüge. Und wenn das Gesetz selbst dich zu seinem Richter gesetzt hätte, so handle — falls es bloß anging« — auch dann in diesem Geiste, denn er wird hingehen und dich noch ärger verdammen, als du ihn. Wenn er aber ohne Gefühl für deine Güte hingeht und vielleicht über dich spottet, laß dich auch dadurch nicht irr« machen. Folglich ist seine Zeit noch nicht ge kommen, aber sie wird kommen . . . Kommt sie aber nicht — 's ist einerlei, so wird ein anderer für ihn erkennen und sühnen, wird sich selber anklagen und verdammen, und der Wahrheit wird Genüge geschehen. Glaube daran, glaube daran ohne Ende, denn darin beruht die ganze Zuversicht und der Glaube der Heiligen. Schaffe ohne Unterlaß. Wenn dir's in der Nacht, wo du dich zur Ruhe begeben willst, einsällt, „ich habe nicht getan, was ich sollte", so stehe eilend auf und richte es aus. Wenn ringsum boshafte und fühllose Leute nicht auf dich hören wollen, so falle vor ihnen nieder und bitte sie um Ver gebung, denn fürwahr auch du bist schuld daran, daß sie dich nicht anhören mögen. Und wenn du mit den Erbosten nicht reden kannst, so dien« ihnen schweigend und in Demut, ohne jemals all« Hoffnung aufzugeben. Wenn aber alle dich verlassen und dich schon mit Gewalt Hinausstoßen, alsdann falle — allein geblieben — nieder und küsse die Erde und netze sie mit deinen Tränen, und von deinen Tränen wird die Erde Frucht bringen, wenn auch niemand dich in deiner Einsamkeit gesehen und gehört hätte. Glaube bis ans Ende, wenn es auch geschehen sollte, daß alle auf Erden abtrünnig geworden und du allein übrig ge- blieben wärest: bringe auch dann Opfer und lobsinge dem Herrn, du einzig Uebriggebliebener! Und wenn sich zwei solche begegnen, so ist das schon eine ganze Welt — eine Welt lebendiger Liebe: umarmt einander in Liebe und lobpreiset den Herrn, denn wenn auch bloß in euch zweien, ist seine Wahrheit in Erfüllung ge- gaiigen. Wenn du selbst gesündigt hast uird bis zu deinem Tode ob deiner Sünde bekümmert sein wirst, so freue dich für den Ge rechten, srerre dich darüber, daß wenigstens er gerecht ist und nicht gesündigt hat. Wenn aber die Bosheit der Menschen dich mit Empörung und unüberwindlichem Schmerz erfüllt, bis zu dem Wunsche, an den Uebeltätern Rache zu nehmen, so scheue dieses Gefühl mehr, als alles andere. Gehe alsbald hin und suche zu sühnen, als wärest du selber schuld an dieser Bosheit der Menschen Nimm dieses Martyrium auf dich und büße, so wird dein Herz gestillt werden, und du selbst wirst einsehen, daß du auch Schuld hast, denn du hättest den Bösen vorausleuchten sollen, als einzig Sündlpser und hast ihnen nicht geleuchtet. Wenn du geleuchtet hättest, so hättest du auch andern den Weg erhellt und die Misse tat, welche sie verübt, hätten sie vielleicht nicht getan in deinem Lichte! Und sogar, wenn du geleuchtet hättest, und sähest, daß sie Menschen sich in deinem Lichte nicht bessern wollen, bleibe fest und werde nicht irre an der Kraft des himmlischen Lichtes: glaube daran, wenn sie das Heil jetzt nicht finden, werde» sie es späterhin finden. Und sollten sie auch später das Heil nicht erlangen, so werden ihre Söhne es finden, denn nicht wird dein Licht sterben, auch wenn du schon gestorben wärest. Der Gerechte geht heim, aber sein Licht bleibt. Das Heil wird ja immer erst nach dem Tode des Erlösers kund. Das Menschengeschlecht nimmt seine Propheten nicht auf und tötet sie, aber die Menschen lieben ihre Märtyrer und beten diejenigen an, ivelche sie zu Tode gemartert haben Du aber arbeitest für das Ganze, du mühst dich für das Zukünftige. Lohn aber suä>e nicht, denn auch ohnehin ist dein Lohn groß genug auf Erden: Deine geistige Freude, deren bloß der Gerechte teil haftig wird. Fürchte weder die Vornehmen noch die Mächtigen, doch sei weis« und stets wohlanständig, voll Anmut und Würde. Halte Matz, halte die Zeit ein. lerne das. In der Einsamkeit geblieben, bete . . . Liebe es, dich zur Erde niederzuwerfen, und sie zu küssen! Küsse die Erde und liebe unermüdlich, unersätt lich! Liebe alle, liebe alles! Suche diese Wonne und diese Ekstase! Netze die Erde mit deinen Freudentrcuren. Dieser Ekstase aber schäme dich nicht, halte sie wert, denn sie ist eine Gab« Gottes, eine große . . . und sie wird ja nicht vielen ge geben, nur Auserwählten. Brüder, scheuet nicht die Sünde der Menschen, liebet den Menschen, in seiner Sünde, denn das ist bereits dos Ebenbild der Liebe Gottes und der Gipfel der Liebe aus Erden Liebet die Kreatur Gottes als Ganzes, und jedes Sandkörnchen, jedes Blättchen, jeden Strahl Gottes liebet! Liebet die Tiere, liebet die Pflanzen, liebet jedes Ding! Wenn du jedes Ding liebst, ivirst du Gottes Geheimnis in den Dingen erfassen. Und nach dem du es einmal erfaßt, wirst du es unaufhörlich immer mehr und mehr erkennen, von Tag zu Tag. Und wirst endlich die ganze Welt in voller, universeller Liebe umfassen. Die Tiere sollt ihr lieben, denn Gott hat ihnen den Anfang des Gedankens und ungetrübte Freude gegeben. Trübt diese Freude nicht, quält nicht die Tiere, raubt ihnen nicht die Freude, widerstrebt nicht dem Gedanken Gottes! Der Mensch erhebe sich nicht stolz über die Tier«: sie sind ohne Sünde, du aber verunreinigst die Erde mit deinem Erscheinen und hinterlässeft deine unreine Spur — ach! Fast jeder von uns! Vor manchen Dingen bleibt man in Bestürzung stehen und besonders, wenn man die Sünde der Leute sieht, dann fragt man sich wohl: „Soll ich ihnen mit Gewalt oder mit demütiger Liebe bcikommen?" Entscheide immer: Ich wist es mit demütiger Liebe versuchen!" Wenn du das ein für allemal beschlossen hast, so kannst du die ganz« Welt erobern. Liebende Demus ist eine unheimliche Macht, di« stärkste von allen, der nichts gleicht auf Erden . . . Brüder, die Liebe ist eine Lehrmeisterin, aber sie muß ge wonnen werden, denn sie wird durch Mühe erworben, teuer er kauft durch lange Arbeit und durch lange Zeit... es gilt ja nicht bloß auf einen zufälligen Augenblick zu lieben, sondern für allezeit. Zufällig liebzuhaben ist jeder imstande, vielleicht auch ein BLfewicht. . . 7e«im55cliutie, 7enni5bZ!Ie uncj Nullen I. 6 I. LekI. 8 6 (j1ff I-auengrsben 10 femsptecsie,-1078 Turgenew habe Gestalten geschaffen, die sonnenhast aus sich selber heraus weiter lebe». Eine kurze Abweichung erlaube ich mir: Als Buddha noch Knabe war, sollte er in der Schule lesen und schreiben lernen. Nichts wollte ihm gelingen. Der unge duldige Lehrer kann den törichten Jungen nicht brauchen. Buddha zieht sich in die Einsamkeit der Wälder zurück. Nach vielen Jahren erscheint er wieder beim Lehrer: „Darf ich nun zeigen, was ich lernte?" — Der Lehrer lacht: Gut, zeige, was du kannst. Buddha malt den ersten Buchstaben an die Wand — und die Wand spaltet sich. Das bedeutet: er hatte den Punkt gefunden, aus dem heraus die Welt zu bewegen ist. Um diesen einen Punkt nun — was tut der Name in diesem Fall zur Sache' Ob wir nun Chaos, Tod oder Auf erstehung sagen — ringt der Riese Tolstoi wie der Patriarch Jakob dereinst mit dem Engel: „Ich lasse dich nicht, Herr. Du segnest mich denn!" Tolstois innere Arbeit ist, daß er seine Liebe ordnen möchte, um sein Leben ertragen zu können. Und diesen einen Punkt, die Perle, um die man alle Reich- tümer fortgibt, — Dostojewski hatte ihn gefunden — viel leicht damals, als er wegen einer lächerlichen politischen Sache zum Tode verurteilt auf dem Schaffst steht und im letzten Augenblick zu zehn Jahren Zwangsarbeit in Sibirien — man sagt es so leicht — „begnadigt" wird: vielleicht im Verlauf dieser Jahre als Sträfling in Sibirien: vielleicht während seiner epileptischen Krämpfe, und man verstehe recht: der Dolksmund sagt vom Epileptiker, er wäre von der „heiligen Krankheit" be fallen. Morbus sacer . . . Wer mag es wissen, welche Stunde ihn „tötete". Denn darum handelt es sich — um nichts anderes —, um das Sterben, daß es aushörte, schrecklich zu sein. Dann nämlich steht der Mensch frei da Er bedarf des sogenannten Lebens nicht mehr. Er hat nun seinen Menen, den ihm ge mäßen Tod gefunden, nocheheer starb. Es erübrigt nur. daß ihn die Menschen ans Kreuz schlagen. Brandes schreibt über Dostojewski an Nietzsche: „Ein epileptisches Genie, dessen Aeußeres schon spricht von dem Strom der Milde, der sein Ge müt erfüllte, von der Weste eines fast wahnsinnigen Scharf sinnes. der ihm zu Kopf stieg Da ist noch ein dritter, der auch aus diesem zentralen Problem heraus verstanden werden muß. Lr ist in Deutschland zu wenig bekannt. Es ist Anton Ts che» chow. den manche einen Humoristen und Satiriker nennen nöchtcn Ich verstehe nur schlecht, warum die Deutschen es Vor gehen, Maxim Gorki oder den fragwürdigen Arzibaschew statt einer zu lesen. Asten dreien — Tolstoi, Dolstojewski und Tschechow — ist .äs gemeinsam; sie setzen ihre wuchtigen Gestalten mitten Ins Leben, sie recken sie auf zu ganzer Größe und lassen sie dann zusammenbrechen. Nur Tolstoi unternimmt den Versuch, ein Naturleben für möglich zu halten und diMn oder jenen Helden vor der Katastrophe zu bewahren, z. B. Lcwin im Roman „Anna Karenina". Bei Dostojewski fliegt die Handlung wie ein rasendes Feuer diesem Ziel entgegen: Zusammenbruch um der Auferstehung willen. Man denke an Rnskolnikow, wie er auf dem Marktplatz vor dem Volke niederkniet, oder an Mitja Karamasow, oder an den Idioten und an den wahnsinnigen Schluß dort. Es ist lächerlich zu behaupten, Dolstojewski habe nur Kranke Menschen geschildert. Der alte Sossima, Aljoscha Karamasow, der Idiot Fürst Myschkin sind Gestalten, die über das Maß russischer Eigenart hinausragen. Es sind Gestalten, die das geheimnisvolle innere Leuchten an sich haben, es sind Schauende. Dis andern Menschen werden in ihren Lichtkreis gebannt, so datz sie sich offenbaren müssen: ihre Dunkelheit vermehrt sich an der Lichtfülle jener, aber genau so wird auch die zarte Schönheit ihrer Seele sichtbarer. Es ist ein sodes Argument, wenn mit Achselzucken davon gesprochen wird, die wahre Kunst habe mit Religion nicht zu schassen. Es gibt letzten 'Endes keine andere Kunst, die überdauerte, als die sacrale. Das wahre Leben beginnt dort, wo man am sogenannten Leben nicht allein zweifelt, sondern verzweifelt. Als ob Goethe das nicht gewußt hätte! Wem wird es einfallen zu behaupten, das Parzenlied in der Iphigenie wäre nicht Kunst. Es ist aber Apostasie. Und es ist doch Religion. Auch Tolstoi wird gewöhnlich, wie der gordische Knoten, in zwei Stücke gehauen. Das eine Stück — so sagt man — das ist Tolstoi, der gewaltigste Epiker, den Europa nach Homer gehabt hat, der „Krieg und Frieden" schrie oder „Anna Kare nina": das andere Stück ist der greisenhafte Trottel Tolstoi, der Weltverbesserer par excellence, der langweilige Frömmler. Aber weder „Krieg und Frieden" noch „Anna Karenina" wären ge schrieben worden, wenn Tolstois Leben nicht mit seiner Flucht tm Jahre 1910, d. h. mit dem Verzicht auf das sogenannte Leben zugunsten des chm als wirklich empfundenen Lebens, zum Abschluß gekommen wäre. — Wenn die wundervolle Stute Frou — fron, das überaus feinnervige Tier, während des Ren nens unter dem Grasen Wronski zusammenbricht, und wenn das fabelhafte Seitenstück zu dieser Stute — Anna Karenina — die Geliebte Wronskis, von den Eisenbahnrädern zermalmt wird, so sagt Tolstoi damit: „Gott, du hast mich verlassen." Tolstoi erlebt: das hundertfach, was Dostojewski hundertfach bereits durchlebt hatte: Abfast von Gott. d. h. den Tod zu hundert Malen, ehe denn er starb. Darum sind die beiden so überragend. Und Tschechow? Welche Auferstehung hätte er zu künden? Er zeigte die Wege hin ins große Schweigen; es wäre dem Menschen eigentümlich, hin- und hergerissen zu werden, wie eine Fliege im Netz, zwischen dem Verlangen nach chaotischer Wirrnis und dem gebieterischen Muß, sich einer be- liebigen, lächerlichen Form des Asttags zu unterwerfen. — Der Mensch wird non der Gier nach chaotischem Sein, nach ewiger, obschon zielloser Bewegung nicht- minder beherrscht als vom Zivang, diese Bewegtheit zum Stillstand zu bringen. Nach Tschechow erweist sich der wahrhaft schöpferische Geist im Ver zicht aus alles, was zeitlicher Wert oder Sinn hat. Nichts soll der Mensch sein eigen nennen, was er sich zu erhalle» wünscht: und neues Leben flammt auf in der Feuerglut grau sam zugespitzter Kontraste. Nichts soll der Mensch bedürfen, und hat er nur einmal der Versuchung nachgegeben und sein Begehren gestillt, so ist er unrettbar verloren. Und der Rest? Der Rest ist Schweigen. Das große er schütternde Schweigen im unendlichen Raum, das weit über die russischen Steppen hinaus ins Kosmische reicht. Ich habe viele wichtige Namen nicht nennen können, und es ist natürlich alles unzulänglich, was ich sagte. Ich weiß Selbstverständlich. Es ist unmöglich, den Komplex Chaos, Him mel. Erde und Hölle auf ein paar Zeilen zu reduzieren und in den Rohmen „Rußland" zu spannen. Die Gegenwart dröhnt an unser Ohr. Aber man möge lesen! Osten und Westen, die nächste Vergangenheit und Gegen wart verknüpfen: Valerij Brjussow, Fedor Ssologrub, Andrej Bely sein Schüler des Anthroposophen Rudolf Steiner). Auch Nlereschkowski möge genannt sein. Da Ist ferner Miachel Kus- min, ein glänzender, raffinierter Erzähler. Tschechow ist der faszinierende Sprecher der Heterochthonie, er hat die Apotheose der Bodenlosigkeit geschrieben. SUexander Block, der kolossale, Klujew sein Bauerndichter) und Jessenin weisen aus der Gegen wart in di« Zukunft. Wird man mir vorwerfen, datz ich in einseitiger Zuspitzung vom universalen Hang zur Verneinung gesprochen habe, von der russischen Allmenschlichkeit der Verneinung? Lionardo da Vinci sagt: „Wir bereiten unser Leben durch den Tod anderer." Und wie — frage ich — bereiten Leben der anderen? Ein russischer Dichter drückt das so aus: „Ich muhte meine Seele heimlich morden, Bis das Geliebte ganz ein Bild geworden.' und sagt am Schluß zu der Geliebten: „Ich will, daß du aus meinem Herzen gehst, Ich sterbe hin, damit du auferstehst." Und weiß man, was das bedeutet? Nichts anderes, als wo« Schiller sagt, wenn er den Marquis Posa, der für Don Carlo» sterben wollte, vor Elisabeth von Valois erschüttert in die Kni« sinken läßt. Der Marquis ruft: Königin! O Gott, das Leben ist doch schön! Ja, allerdings, das Leben ist doch schön! Aber nun sehe man aufmerksam hin! Da scheint die Sil houette eines hageren Reiter» den Horizont, auch den russi schen Horizont zu beherrschen. Wer ist der Reiter? Ja, wir kennen ihn rvohl — den Ritter von der traurigen Gestalt — e» ist Don Quichotte von La Manche». Wir aber sind die Unzu, länglichen. Immer.
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