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Sächsische Volkszeitung : 17.05.1925
- Erscheinungsdatum
- 1925-05-17
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id494508531-192505176
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id494508531-19250517
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-494508531-19250517
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Sächsische Volkszeitung
-
Jahr
1925
-
Monat
1925-05
- Tag 1925-05-17
-
Monat
1925-05
-
Jahr
1925
- Titel
- Sächsische Volkszeitung : 17.05.1925
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I OLL MM MLM ^ l j ^ Mk W i»I? Don Franz Le pp man. Ob es Leute gibt, die niemals das beklemmend« Gefühl habe», durch das Leben zu lausen, ohne zu wissen, wer mitläuft? Ohne das Gefühl zu l-aben der Fremdheit aller Menschen? Ohne das Bedauern, bah sie keine Ahnung haben von dem gehausten Leben und Schicksal, das hinter all den begegnenden Gesichtern und Gestalten ist? Auf jedem Wege kommen dir Fremde entgegen, berühren dich, stohen dich an, du hast mit ihnen ganz flüchtig zu tun. sie verkaufen dir eine Schachtel Zigaretten, ein Miltagessen, geben dir eine Auskunft, du sitzt mit ihnen kurze Zeit zusammen in der Elektrischen, nimmst an ihrer Seite beim Friseur Platz und siehst sie wieder. ... Ob es Leute gibt, die sich nie ansechten lassen von all diesen anderen, diesen Fremden, Offenbar, es gibt sie, sie sind sogar in der Mehrzahl. Und dann gibt es wenige andere, die möchten zu jedem anderen sprechen: Wer bist du? Ihnen ist nicht wohl, denn der Drang aus der Fremdheit heraus ist durch Einsamkeit bedingt. Man kann sogar sagen: Nur der entschlossene Verzicht aus die Frage: Wer bist du? verleiht dem Leben die wünschenswerte Leichtigkeit und ermöglicht cs überlMipt erst recht. Man mutz in jedem Augenblicke einer Berührung mit Menschen sich mit den Eckchen begnügen, das sie einem gerade zukehren und aus die Plastizität seines Nächstenbildes verzichten, weil — ganz einfach — das Leben viel zu kurz ist als das; man sich um seine Mit menschen dreidimensional bekümmern könnte. Wo käme man dann hin, wollte man jede» nicht nur so nehmen, wie man ihn im Augenblick braucht, das heitzt in ein kausal ablausendes, sach lich bedingtes Geschehen eingeordnet, sondern menschlich? Ich bitte Sie, ich bin doch Chef! Sagen Sie mir bitte, wo käme ich hin mit meinen fünfzig Angestellten??? Jede Organisation, die viele zu einem Zwecke zusammenfaßt, ein industriell-kaufmänni sches Unternehmen, eine Partei, eine öffentliche Institution, wo überhaupt nur mit einem gemeinschaftlichen Ziele gearbeitet wird, da ist Eindämmung des Menschlichen Voraussetzung, sein geflissentliches Uebersehen erforderlich, und die Fiktion eine unbedingte Notwendigkeit, diese labilen Wesen mit Herzen, Blut, Nerven und Stimmungen, hätten keine Herzen, kein Blut, keine Nerven und Stimmungen, wenigstens in den unteren Steslen. Mag sein, mag sein! Aber immer ist die Frage: „Wer bist du?" nicht zu unterdrücken. Nicht zu unterdrücken ist die Neu gier nach fremdem Schicksal, wenn das Neugier ist die Teilnahme am Menschlichen im andern Menschen. Manchmal, von der Arbeit aufblickend, sehen wir den Dachdecker, wie er vorsichtig kauernd fünf Stockwerke hoch über der Straße an der Blechkappe des Dachgesimses mit der stechenden Flamme des Löt- gcbläses hantiert. Wie muß man geistig, körperlich beschaffen sein, um diese Arbeit leisten zu können? Welches Weltbild ent wickelt sich dabei? Wie lebt es sich mit der ständigen Gefahr, dem ständigen Blick in grauenvollen Untergang? Hat der Dach decker eine Frau? Wie ist sie? Wie sieht cs bei ihm zu Hause aus? Und dann wieder: Am Spätnachmittage im Sommer gehst du von der Arbeit nach Hause, ganz müde, du taumelst vor Mü digkeit. Aber die Vorgärten der Casees sind von einer eleganten, ausgeruhten Menge über und über gefüllt. Man sieht es den Gepflegten an, sie sitzen schon lange dort und werden noch lange dort sitzen. Was sind das in aller Welt für Leute, die in diesen Zeitläufen sich nachmittags ins Cafee setzen, bei Musikbegleitung Süßigkeiten zu sich nehmen und Zigaretten rauchen können, den Tennisschläger oder das Hündchen neben sich? Wie lebt so etwas? Und wovon? So leicht, so heiter, so spielend, so unermüdet? Wie sieht es in solchen Gehirnen aus? Diese Zeit, die die Zeit der Gleichheit ist, der Demokratie, des Massenschritts, Massendenkens, der Massensuggestion hat dennoch Klüfte, Fremdheiten zwischen den Menschen wie keine andere. Das wenigstens war gut am Krieg, daß er die Klassen durcheinander wirbelte. In der Kaserne, dem Graben, der Baracke, dem Zelt war der elsässische Bauer neben dem Berliner Chauffeur und dem Kommis in Königsberg i. Pr. Im Frieden kennt man sich nun aber schon längst wieder nur innerhalb der engsten Berufsgruppen. Das Prinzip der Arbeitsteilung in im mer feinerer Verästelung hat diese Zerreißung hervorgebracht. Zcrstückt l>at dieses Prinzip, auf dem unsere Zivilisation steht, die Menschheit, unübersteiglmre Scheidewände in ihr aufgerichtet. Die Auster ist dem Walfisch nicht fremder als der Fahrstuhlführer eines Warenhauses einem Laboratoriumsdiener. Wie ist dem Polizeibeamten zumute, der auf einem Platze mit riesigem Wagenverkehr den Verkehr regelt? Welch unge heure Anspannung! Welch Heldentum? Welcl>e Gefahr, von hinten umgerissen und zernralmt zu ivevden! Wer von all den tausenden Passanten legt sich diese Frage vor: oder der Wärter, der auf dem Stellwerk eines Bahnhofes die Weichenhebel und die Signalhebel handhabt, beladen mit der Verantwortung für Tausende. Er bleibt jahrelang anonym mit seiner grandiosen Leistung, die keine reichere und keine andere Bedeutung hat als irgendein toter, zweckhaft eindeutiger Teil der maschinellen Vor richtung. di« er bedient. Da passiert ihm etwas: Seine Hand greift fehl, ein ein ziges Mal, in einem einzigen Griff. Irren ist da, Verfehlung, und plötzlich erscheint der Mensch. Aber bezeichnenderweise: empfangen mit einer gewissen Verwunderung. Mn einem ge wissen Ruck des Erinnerns sagt man sich: Dieser Beamte, der, durch falsche Weichenstellung so schuldig geworden ist. aus der Untersuchungshaft dem Staatsanwalt vorgeführt wird, ist nicht — nur — Beamter, richtig, natürlich, wie denn nicht? Es stellt sich heraus, daß er Familienvater ist sniemals früher hat inan das für möglich gehalten). Reizende kleine Züge werden be kannt. Seine Schwiegermutter lebt bei ihm. Am Abend vor dem Unglückstage hat er an einer kleinen Geburtstagsfeier teil genommen. Hinter einem vorschriftsmäßigen Uniformrock ist plötzlich Fleisch, in eine Larve stürzt Blut, hinter einer Funktion blüht Sein auf, statt einer Dimension sind drei da, und statt „dienstlicher Verwendung" Individualität, denn gerade sein.t menschliche Einmaligkeit hat das Unglück verschuldet, eingeschal tet in eine» maschinellen Prozeß muß sie immer eine Fehler quelle bleiben. Wir können, soviel ist richtig, rein aus technischen Gründen nur leben, wenn nur momentan den Menschen nur als den neh men, was er uns bedeutet. Unmöglich kann ich immer den Stra ßenbahnschaffner in dem Augenblick, wo er mir den Fahrschein in die Hand drückt, als menschliche Ganzheit perzipieren, in der Rundheit seines geistig-seelischen Seins und Schicksals, mit El tern, Kinder» und Frau. Aber man müßte es manchmal tun, und vor allem: man müßt« es überhaupt können, müßte fähig sein, cs zu tun, wenn es nötig ist. Sie beklagen es, gnädige Frau, daß Sie so wenig Botanik wissen: daß Sie, wenn Sie im Sommer verreist sind, sich auf der blühenden Wiese nicht auskennen und nicht zu unterscheiden und zu benennen wissen, was Ihnen da bunt und poetisch entgegsn- leuchtet. Sie beklagen das als ernsten Mangel Ihrer Disdung. Sehr schön. Sehr strebsam. Aber missen Sie unter den Men schen Bescheid? Wissen Sie beispielsweise, unter welchen hygie nischen Bedingungen die Spiegellegerinnen ihre Arbeit tun? Daß der Beruf der Appreturarbciter das Leben verkürzt und ge fährdet? Wissen Sic auch nur, daß die Krankenschwestern in den Krebsbaracken der Spitäler stündlich abgelöst werden müs sen, weil sie es vor Gestank nicht aushalten? Haben Sie sich einmal mit Ihrer Neinmachefrau über Einkäufen und Wirt schaftsgeld unterhalten? Vielleicht wären ein paar Kenntnisse dieser Art ebenso wichtig, als wenn Sie Rittersporn vom Löwen zahn unterscheiden könnten. Sie kommen mir mit einer literarischen Erinnerung, und zwar an Hermann Bahrs Komödie „die gelbe Nachtigall: dort sagt der große Mime zur kleinen Prinzessin: „Sind Sie je gegen Abend durch einen fremden Ort gefahren? Die Leute sitzen vor ihren Türen, dort ist Licht im Zimmer, Sie sehen einen alten Mann über ein Buch gebeugt und ein Kind spielt still: hier klingt ein trauriges Lied herab, schon ist's verliallt, sie fahren vorbei: hier steht einer und sieht zum Fenster hinauf, wie für sein ganzes Leben steht er da ... . und sie fahren vorbei: und alles ist so groß und ist schwer mit Geheimnissen behängt und so zum Weinen schön. Fahren Sie vorbei! Ich bin einmal ge blieben, an so einem fremden Ort. Und am andern Tag? O je! Weg, alles entzaubert, ein schäbiges Dorf mit häßlichen Menschen wie überall. Das Schöne ist nur im Voriiberfahre» schön. Man darf nicht aussteigen, kleine Prinzessin." Der Dichter war sicher sehr verliebt in diese Stelle. Die Gesinnung, die aus ihr spricht, und die Sie sich zu eigen zu machen scheinen, kennzeichnet eine immerhin beträchtliche Gruppe der Borkriegsbourgeoisie. Diese Gruppe stellte ihr ästhetisches Wohlbehagen so hoch, daß sie immer nur „vorüberfuhr". Seit dem hat sich die Welt gründlich verändert. Man steigt jetzt aus. Und besonders der Dichter sollte cs immer tun. Denn für ihn gibt es gar keine „häßlichen Menschen", sondern nur entstellte, deren ursprüngliche Ganzheit und Schönheit wieder sichtbar zu machen sein eigentlicher Beruf ist und gar kein« bezeichnender« Frage als: „Wer bist du?" SllS «Mi» UNS Sie MS« Au Von Dr. H. Gehe n y, Stuttgart. Will man die Bedeutung der Marienverehrung für das Volksleben erkennen, dann kraucht man sich nur zu erinnern an die Uvivahrheit, die über der Geschichte der Menschheit steht, an jenes Urgesetz alles Völkerlebsns, das sich im Lause der Jahrhunderte immer wieder bewährt hat. Wie lautet dieses eherne Gesetz der Weltgeschichte? Es besagt, daß das Schicksal eines Volkes, seine Kraft und seine Zukunst, im letzten Grunde abhängig ist von den Frauen des Volkes. In seinen Frauen besitzt jedes Volk jene geheimnisvolle Lebensquelle, aus der es sich immer wieder in wunderbarer Weise erneuern und verjüngen muß. In seinen Frauen besitzt es jene Wurzel des Lebens, aus der ihm »ach allen Stürmen und Schicksalen immer wieder neue Kraft Zuströmen muß. Es ist ein Gesetz, das sich immer wieder bewahrheitet hat, daß erst dann das Schicksal eines Volkes hoffnungslos entschieden ist. wenn in diese letzte Wurzel des Lebens die Keime der Zersetzung und der Vergiftung einge drungen sind. Alles vermag ein Volk zu ertragen: Niederlage, Verarmung, innere und äußere Kampfe: aber es geht zugrunde, wenn es keinen leiblich und seelisch gesunde» Fraucnstamm mehr besitzt. Woran erkennen wir nun, von welcher Art die Frauen eiiies Volkes sind, wie es um diese leibliche und seelische Ge sundheit der Frauen bestellt ist? Gibt es ein untrügliches Er kennungsmittel, durch das man die Frauenart eines Volkes wie in einem Spiegel erkennen kann? Es gibt ein solches Erken nungszeichen. Wollen wir wissen, wie es um die Frauen eines Volkes steht, so brauchen wir nur nach dem Frauenvorbild dieses Volkes zu fragen. Welche Frauengestalt gilt als vorbildlich im ganzen Volksleben? Welcher Frauenart eifert man nach, wel cher sucht man zu gleichen — kurz und gut: Was für eine Auf fassung vom Wesen der Frau besitzt das Volk selbst? Aus dem herrschenden Frauenvorbild können wir mit Sicherheit aus den Stand der Frauen in diesem Volke zurückschließen: im geltenden Frauenideal tritt uns die wirkliche Frau des betreffenden Volkes entgegen. Fragen wir uns nun. welches ist das Frauenvorbild unserer deutschen Vergangenheit? Um darauf eine Antwort zu erhalten, müßten wir einmal hindurchwandern durch die alten deutschen Städte, in denen die Denkmale der katholischen Vergangenheit noch lebendig an Weg und Steg stehen. Bon so manchem Erker eines alten Bürgerhauses, von so mancher Haustür«, von so manchem Bildstöckchen am Wege, von den Außenwänden der Kirchen und Kapellen würden uns die Frauenvorbilder des oeut- schen Mittelalters entgegengrüßen. Dort eine heilige Barbara, da eine heilige Katharina, drüben di« heilige Elisabeth und wie diese heiligen Frauen unserer Vergangenheit alle heißen mögen. Das Mittelalter hat diese Frauengestalten nicht bloß aus kirch licher Pietät an diesen Häusern angebracht — diese Bilder der heiligen Frauen sind nicht Andachtsbildchen im modernen Sinn, lediglich dazu geschafsen, ein religiöses Gefühl zu erwecken — sondern unsere alten Meister haben in diesen Stein, den iie ge hauen haben, oder in dieses Holz, das sie geschnitzt, alles hinein gelegt, was in ihrer Seele an hohem und erhabenen Frauenbilde vorhanden war Darum berühren uns diese Werke unserer alten Meister auch heute noch so nahe, weil in ihnen die Lebensauffas sung einer ganzen Zeit sich ausspricht. Immer wieder aber wer den wir auf unserm Gong durch die alte deutsche Stadt einem Frauenbilde begegnen, das das Mittelaller geradezu unzählige Male gestaltet Hat, einem Bilde, das nicht nur in feierlichen .Hal len des Münsters steht, sondern das heruntergrüßt auf das Ge> woge der Straßen und des Marktes, auf Handel und Wandel aus alle die weltliche Arbeit, die an ihm vorübcrzieht. Es ist das Bild jener einen Frau, in der das Mittelalter das höchstc Frauonideal verkörpert sah: das Bild Mariens Wenn wir uns in diese höchste Vorbildsgestalt der deutschen Frau unserer Vergangenheit vertiesen, dann leuchtet uns ein ivie in diesem Frauenideal ein Doppeltes entl>alten ist. In die sem Frauenidcal Mariens sind die beide» höchsten Gipsel, die eine Frau erreichen kann, unberührte Jungfräulich keit und tiefste gütigste Mütterlichkeit, in wun derbarer Weise vereinigt. Das also war die Frau, in der sich für den mittelalterlichen Menschen das Wesen der Frau verkör perte: jene einzigartige Vereinigung edelsten, reinsten Mädchen- Rutzland und seine Dichter Von Neinhold von Walter. In Rußland pflegt man, bei Begegnungen mit Freunden oder Bekannten auf der Straße, einander die nichtbehandschuhte Hand zu reichen. Der Westeuropäer lächelt, wenn er sieht, mit welchem Eifer der Handschuh von den Fingern gestreift wird. Was bedeutet der Brauch? Es ist wohl so, daß man fürchtet, durch eine leblose Hülle das warme unmittelbare Leben, das der eine dem andern Mitteilen soll, zu entwerten. Es haben Viele nach der bloßen russischen Hand greifen wollen — selten init Samthandschuhen, gewöhnlich hat man dort polnisches Leder gespürt, mitunter war es kaltes Eisen. Derjenige wird russische Art recht verstehen, der dem unmittelbaren Leben wie es frei von dort herllberströmt, ebenso unmittelbar und frei begegnet. Das Bezeichnende für die russische Geistigkeit ist der Drang, das Leben so hüllenlos, so ursprünglich als möglich, bis hin zu den Grenzen äußerster Verneinung und tief ehrfürchtigen Schwei gens zu erfahren. Diese Art wird durch die ganze Natur des unendlich weiten, unendlich reichen, und ebenso unendlich arme» Landes gefördert. Die russischen Volksepen, die Märchen, die Heldenlieder sind von dieser Ursprünglichkeit, vom schweren Duft grenzenloser Steppen, von der tiefen Einsamkeit der düsteren und schrecklichen Wälder, vom feuchten Nebel gewaltiger Ströme durchweht. Die Natur ist so mystisch und im Raum überwältigend, daß der Mensch — in den Bann dieser Lebens fülle hineingerissen — vor lauter Staunen kaum wagt, sein eigenes Land zu besitzen. Wie ein dumpfes Erdbeben geht der Bauer und der Held Ilja aus Muron, der urwüchsige Necke aus grauer Vorzeit über sein Land und treibt die Feinde zu Paaren. Die russischen Helden alle scheinen aus den aufgefurchten Schollen der damp fenden Erde hervorzubrechen Auch dem russischen Christentum prägt sich der Wille zur Auferstehung, zur Besreiung von tiefer Erdenschwere auf. Ostern Ist das eigentliche, das große Fest Im russischen Kirchen- jahr, während dem abendländischen Christen Menschenwerdung und Passion des Gottes im Mittelpunkt frommer Erfahrung steht. Die glänzende Epoche der Großfürsten von Kiew ist kurz. Tartarenhorden überschwemmen das Land. Dostojewski sagt: „Dem Volk war damals nichts geblieben als das Gebet: Herr, bleibe bei uns!" Das ist sehr wichtig. Damals wurde die Ge- genwart vorgebildet. Lange währt die Knechtschaft, bis ins sechzehnte Jahr- hundert. Durch Moskau werden die flutenden Massen zu einer Einheit gesammelt. Wir hören von brutalen Delooten. von Iwan dem Schrecklichen, vom düsteren Boris Godunow — vom Pseudodemetrius, dein Schiller hernach ein großes Denkmal er richtete. Um 1600 ist das Reich ein einziger Trümmerhaufen — als wäre der zu umspannende Raum zu kolossal gewesen, um sich einheitlich zu erhalten. Das Volk rafft sich aber aus. Um 1700 führt Peter der Große durch, was das Jahrhundert vor ihm vorbereitete: die Ungleichung Rußlands an Westeuropa. Das Werk dieses Zaren wird zu seinen Lebzeiten, und man darf ruhig sagen — bis in die Gegenwart herein, angefeindet. Via» hat gefunden, er habe durch grelle, künstliche Beleuchtung das leicht dämmernde Morgenrot volkstümlicher Entwickelung er- stickt. Heute ist Peters Thron zusammengcbrochen. Waren es Pappkulissen? Waren es die vielberufenen Potemkinschen Dörfer? Ja und Nein — aber wie liegen die Dinge? Der Weg ins Abendland mußte gebahnt werden. Das russische Gei stesleben ist im neunzehnten Jahrhundert zu einer Weltmacht geworden. Das konnte nur sein, wenn die russische Geistigkeit, sie möge noch so sehr in den Urelementen des eigenen Volkes wurzeln, zu bewußtem Eigenleben erwachte, d. h. wenn sie den universalen Zug zur ganzen Welt hin. zur ganzen Menschheit und vor allem zum Menschen hin durchlebte. Das Plus an westeuropäischer Zivilisation hat eher hemmend gewirkt. Aber der reife Gehalt abendländischer Kultur ist wohl auch zu einer der bewegenden Kräfte für Rußland geworden. Deutschland steht da sicher nicht an letzter Stelle. Das vom Abendland Ueber- nommene wurde durch das russische Primas gebrochen und zu bedeutender Universalität gesteigert. Es wäre töricht, zu ver kennen, daß der Osten dem Westen die Lebensfülle vermehrt zu- rückgab, die er von ihm erhalten hatte: im Verlauf der letzten Jahrzehnte hat das Abendland dem Osten nichts mehr zu geben gehabt. Alexander Puschkin ist der erste russische Dichter, dem der Zug zur Universalität im eminenten Sinne eignet. Dostojewski sagt, Puschkin habe vor allen anderen Dichtern die Fähigkeit besessen, sich vollständig in den Geist einer fremden Nation hinein zu versetzen. Er weist auf die Allmenschlichkeit seines Genies hin. Das ist ein hochbedeutsamer Hinweis für die Russen überhaupt. Buschkin wird gern mit einem blitzenden Meteor verglichen, das wunderbar strahlend ausleuchtet, um rasch wieder zu verlöschen. Gogol nennt die Sprache Puschkins einen Blitz. Sein Stil — sagt er — glänzt wie glitzernde Säbel und fliegt schneller dahin als eine Schlacht. Keine Uebersetzung kann diese bezaubernde Leichtigkeit wiedergeben. Puschkin ist der erste russische Dichter, der mit dem Volksgeist in Berührung kam. Er war achtunddrelßig Jahre alt, als er im Duell sici. Jeder weiß es: Erlebnisse wiederholen sich, und sic wieder holen sich so lange, bis man die Reife erlangte, sie richtig zu durchleben, d. b. man ibrer nickt mekr bedarf Kein Volk bot stärker nach dem aktiven Ergebnis des Schweigens, des Ber- lassenseins, des absoluten Verzichts und des Todes verlangt, als das russische. Man wende nicht ein, das Verhalte» zum Leben würde dadurch geschmälert. Im Gegenteil. Erst im Angesicht des Todes offenbart sich das Lebe» als machtvolle Wirklichkeit. Das ist der Schlüssel zum Geheimnis der russischen Art. und es ist bedenklich, daß Westeuropa dieses Tadesmotiv verloren hat. In RRußland geschehen heute vielleicht ungeheuerliche Dinge uni der Auferstehung willen. Auch Puschkin, der beglückende har monische Dichter, hat gewußt, wie grauenhaft das Leben ist. Auch Lermontow, dieser schwermütige, jedoch nie sen timentale Poet der Verzweiflung am Leben, hat es gewußt Auch Gogol, der kleinrussische Satiriker, wußte darum. Paul Wiegler bemerkt richtig: „Mit Gogol beginnt die Mann heit der russischen Prosa: schwer und wuchtig befreit er sich vom jünglinghaften Ucberschwang. Wie scharf ist doch sein Blick für das Bedrohliche dieser unermeßlichen Freiheit und Weite seines Vaterlandes. Der majestätische Raum umfängt ihn als etwas Furchtbares und durchschiittert sein Inneres mit allen Schrecken, denn gemessen an diesem Raum wird der winzige Mensch mit all seiner Anmaßung zum hohlen Schein, zu Schellengerassel, zu einer Lächerlichkeit, und über den Narren muß sich Spott er gießen, wenn er cs wagt, sich seiner Art zu brüsten Aber Ms Volk In dem Lande — so grenzenlos wie dieses — es ist unend lich lautlos und stumm. Man nennt Gogol den Ahnherrn des russischen Naturalismus. Wie abgeschmackt ist dieses Wort. Jedenfalls starb er den Tod eines Romantikers, nur hundert fach potenziert: er wurde Christ und verbrannte den zweiten Teil seines Romanmanuskriptcs „Die toten Seelen" Er halte jenen Punkt gefunden, der die Allegorie zum Symbol wandelt und aus dem Tode neues Leben erweckt. Er hat diesen Punkt umwittert. Er ging daran — siir die Welt — zugrunde. Turgenew hat es vermieden, nach diesem Punkt zu suchen. Ein kluger, ein sehr feiner Kopf. Deutschland wird ihm zur zweiten Heimat, übrigens nach 1870 auck Frankreich Er ist durchaus Westeuropäer. Dostojewski gibt ihm den Rat. er möge von Baden-Baden aus Rußland durchs Fernrohr be trachten, womit er wohl nicht zumindest auf Turgcnews Intellek- tualität abzielte, aus seinen biegsamen, geschlissenen, westeuro päischen Verstand, der ihn daran hinderte, zur russischen Ver» nunft zu kommen. Turgenew hat viel Mitleid zu seinem Volk: Mitleid verpflichtet bekanntlich zu nichts. Er ist Skeptiker. Das Leben ist ihm ein Rauchsetzcn, der vom Winde bald hierhin, bald dorthin geweht wird. Er hat das Wort „Nihilismus" ge prägt. AK Gestalter Ist er groß, aber er hat keine Glut im Herzen. Oder sollte seine hohe Kunst wie eine Mauer zwischen sfim sosniN' kimin s§§!)ii
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