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Dienstag den L». Mai I»t>8 7. Jahrgang. ^ Wsbhäagiges Tageblatt für Wahrheit, Recht «.Freiheit Ginirlmimmer lv Vt. — siedaMons-Evrekbitunde' II—I» L Io l'-l<al<A0 ^si-antiert rein, leicsit lösliesi, pfunä 35 k'isnnigo, liäetiztei- ffäsirvoert. Eerling L< ^ockstwii, Dreien. VerkautLrlellrn in allen 5ta^tieilen. Der Schwache als Schütze, des Friedens. Aus diplomatischen Kreisen schreibt man uns: Unsere Auslandspolitik wird von Tag jni Tag mehr der Gegenstand der ernsthaftesten Sorge aller Vaterlands- Freunde. Wer es gut niit dem Reiche meint, kann nicht stumm zusehen. wie hier Fehler auf Fehler geinacht werden, die das Reich an den Abgrund führen. Wir haben auch schon seit Jahr und Tag auf diese Schattenseite hingewie» sen. Bor der Reichstagsauflösung zog auch der Liberalis mus gegen die Auslandspolitik zu Felde, bis sich der Reichs kanzler an die Spitze der Unzufriedenen setzte und durch einen kühnen Schachzug im Zentrum einen Blitzableiter fand. Nun hatte er Ruhe vor den unbequemen Mahnern. Lediglich im Zentrum und in seiner Presse wres man noch auf die schlimmen Folgen der deutschen Auslandspolitik hin. Im Block herrschte tiefste Ruhe. Als gar der Kaiferbesuch in London stattfand, war alles voller Freude; unsere aus wärtige Politik sollte Triumphe gefeiert haben. Das selt same Osterei der Nord- und Ostseeabkommen, das Deutsch lands Macht lahmlegt, wurde mit Heller Freude begrüßt. Alles Wen gut zu gehen. Aber man kann der Wahrheit nicht zu lange den Mund verbinden. Mögen parteipolitische Erwägungen diese noch so lange zurückdrängen, schließlich bricht sie doch durch. . Da verdient es erhöhte Beachtung, wenn ein so regie rungsfreundliches und blllowzahmes Blatt wie die „Köln. Zeit-g.", den Befürchtungen lebhaften Ausdruck gibt, wie es in der letzten Zeit geschehen ist. Ein im Anslande leben der Deustcher hat dem Blatte geschrieben, wie man von der Ferne unsere Politik beurteilt; er meint: „Frieden, Frieden und wieder Frieden, und im Auslande ist daher die allge meine lleberzeugung verbreitet, man könne dem Deutschen Reiche alles bieten, denn es ließe sich ja doch alles gefallen. Man sagt sich, Deutschland könne gar keinen Krieg führen, denn das Volk wolle ihn nicht, und wenn auch einmal mit dem Säbel gerasselt werde, so sei das doch nur Theatorlärm. Die Bel)andlung der marokkanischen Frage und die Haltung Deutschlands in der nmzedonischeu Frage werden als Be weise dafür angeführt, daß das deutsche Reich jetzt ebenso, wie vor 50 Jahren Preußen, den Gedanken verfolge: Der Starke weiche mutig zurück . . . Dauernde Schwäche, stetes Zurückweichen verletzt die Ehre des Reiches, steigert den Uebenmlt unserer Feinde und beschwört dadurch gerade die Gefahr herauf, die man vermeiden will. Man soll in der Welt wissen, daß auch unsere Geduld ein Ende hat. Die schwere Rüstung trägt unser Vaterland vor allem zum Schutze, doch es führt auch das schneidende Schlurrt an der Seite, und die Notwendigkeit, es zu ziehen, rückt in um so weitere Ferne, je genauer man im Auslande weiß, daß wir den Willen dazu haben, wenn unsere Ehre verletzt wird." — In diesen Befürchtungen können wir dem liberalen Blatte vollkommen boistimmcn; wir sind ihm sogar dankbar, daß es den Mut besessen hat, in dem heutigen Zeitalter des politischen Byzantinismus solche Wahrheiten auszusprechen, und Wahrheiten sind es. bittere Wahrheiten, die das Matt aussprach. Während die Deutschen sich im Innern politisch und konfessionell streiten, zieht sich von außen her ein Gewitter zusammen, das unsere Fluren zu vernichten drohte. Seitdem Fürst Bülow der verantwortliche Leiter der auswärtigen Politik ist, geht es mit uns bergab. Der reiche Nachlaß des Fürsten Bismarck an internationalen Werken ist seit 1897 in geradezu unverantwortlicher Weise verschleudert worden. Wir haben überall angestoßen, ohne uns einen Freund zu schaffen und schließlich tut unsere innere Politik gar alles, um alle Mächte uns feindlich zu stimmen. Immer groß in Worten, ließen wir nie die Tat folgen; kein Wunder, daß der König von England von Hof zu Hof reisen kann, und über die Deutschen spottet, „sie hätten die Hosen voll", und ihr Maulheldentum müsse nur die Angst verdecken. Das macht den Gegner erst recht übermütig. Fern liegt es uns, nun zu fordern, daß wir vom Leder ziehen sollen; aber wir verlangen, daß jede Aktion nach außen recht sorgfältig über- legt wird und -aß man sich nicht voreilig engagiert. Aber seit zehn Jahren ist die Taktik des forschen Draufgebens und des würdelosen Zurückgshens bei uns dergestalt Mode geworden, daß selbst halbkultivierte Völker über uns spotten, wie es jetzt die Marokkaner tun. Man blicke nur einmal in die Geschichte der letzten zehn Jahre hinein. Mit der Krügerdepesche fing das Unglück an- Unter Bismarck hätten wir einen günstigen Hafen erhalten können, der uns den Zugang zu den Burenrcpubliken gesichert hätte. Bismarck wollte nur europäische und nickst Weltpolitik treiben und er lehnte ab. Später wollte man von Ostvfrika aus den Buren zu Hilf« kommen und als der heute gefeierte Jamvson seinen räuberisch°n Einsall machte, da kam das scharfe Telegramm. Untätig ober blieb Deutschland sitzen, als England in schwerer Verlegenheit oo des Burenkrieges war. Von zwei Mächten wurde uns ange- boten. gegen England vorzugehen, wir verpaßten die Ge legenheit, teilten sogar England diese vertraulichen Offer ten mit, rühmten uns unserer Loyalität, empfingen dann Präsident Krüger nicht und hatten doch von keiner Seite einen Dank. Aber der Wert des deutschen Wortes sank un- Heuer im Kurse. Wir haben für die-Buren ein mehr als nationales Gerechtigkeitsgefühl übrig gehabt; sie sind ein intolerantes Volk gewesen, das kein Kulturträger war. Wir hätten uns nie in die Unkosten dieses Telegramms gestürzt. Aber mußte die Sache nicht ausgefochten iverden, nachdem das Kaiserwort gefallen war? Dann kam Marokko; erst volle Gleichgültigkeit, die gut begründet n^r. Je länger Frankreich an diesem Knochen würgt und seine Kraft aufzehrt, desto besser für uns. Da brachte Adjutantenpolitik die „glorreiche Idee" der Reise nach Tanger zu stände. Der Kaiser hatte mit Neckst Beden ken, aber der Reichskanzler zerstreute sie und riet dem Kai- ser, nach Tanger zu gehen. (Böse Zungen sagen, damit er nachher diesen decken könnte.) Es folgte die Rede von dom unabhängigen Scherifenreiche, die die Marokkaner bis heute nicht vergessen haben, sie berufen sich sogar feierlich auf diese Zusage. In der zweiten Phase der Marokkopolitik blieb man wohlgemut bis Algeciras; aber dann setzte der bereits üblich gewordene deutsche Schwächezustand wieder etn; ein stetes Nachgeben, ein steter Rückzug, bis die ganze Akte zer setzt war. Kann so unser Ansehen steigen? Und derzeit ist es in der ma z e d o n i s che n Frage ähnlich. In ein paar Jahren hat sich die Aufteilung der Türkei vollzogen. .Rußland, Oesterreich, Italien und Eng land sind sich einig. Die drei ersten erhalten die fetten Brocken: Deutschland wird auf schmale Kost gesetzt und geht leer aus. Mer unser Verantwortlicher Leiter lächelt, reibt sich die Hände und ist froh, daß eine „Neibungssläche" wem- ger vorhanden ist. In der mazedonischen Frage haben wir bereits verspielt und sind vor der Entscheidung ausgeschal- tet; das war Englands Gegenzug auf unsere ostentativ ge- zeigte Freundschaft für den Islam, die sich bis auf unsere Schutzgebiete erstreckt. Sollen wir nun zu diesen Tatsachen noch die deutsche Entschuldigung in Washington rechnen, die unangenehme Tower-Hill und den Briefwechsel mit Lord Tweetmouth? Wie sonderbar! Alle fremden Staatsmänner, die der Kai ser durch Briefe, Depeschen und Reden auszeichnet (Lord Tweedmouth, Graf Golnchowski, Tower) sind geworfen, das ist die Antwort des Auslandes, selbst des Verbündeten Oesterreich, selbst der befreundeten Amerikaner. Ob es besser wird? Wir haben zu wenig Hoffnung, weil der Reichskanzler eine stetige Auslandspolitik nicht kennt, weil er in gewissen Momenten nickst genug Rückgrat zeigt und sich teils von oben, noch mehr aber von unten (Alldeutschen) treiben läßt. Dazu kommt, daß im Reichstage fast niemand mehr ein ernstes Wort zu sagen wagt, daß man hier gläubig lauscht, was die Offiziösen hersagen und dann — die Debatte abbricht. Wann geht man einmal umgekehrt vor? Man lasse die Minister sich erst rechtfertigen und gebe dann die Antwort darauf. Das deutsche Volk ist friedlie bend, aber es hat auch eine Vorliebe für Konsequenz und es bedauert, daß die deutsche Diplomatie diese nickst mehr besitzt. Politische Rundschau. Dresden, den 1 ft. Mal IMft. — Das Kaiserpaar wohnte am Sonntag der feierlichen Einweihung der Erlöserkirche in Homburg v. d. H. bei und kehrte sodann nach Wiesbaden zurück. — Staatssekretär Dernburg tritt heute die Ausreise von Southampton auf dem Damvfer KenUworth der Union Castle-Linie nach Kapstadt an. Vorher hatte er noch in London eine Audienz Leim König Eduard. — Der frühere Bezirksamtmann von Atakpame in Togo, Geo A. Schmidt, der seinerzeit wegen Beleidigung des Zentrumsabgeordneten Roeren verurteilt wurde und damals aus dem Reichsdienste schied, ist wieder in den Dienst der Kolonialverwaltung getreten. Er ist bereits in das Reichskolonialamt zu vorläufiger Beschäftigung be rufen worden und soll demnächst wieder einen Außenposten, voraussichtlich in Deutsch-Ostafcika, erhalten. — Prozeß Moltke-Harden. Am 22. Mai findet die Revisionsverhandlung über den Prozeß Moltke-Harden statt; man rechnet in juristischen Kreisen damit, daß das Reichs gericht der Revision stattgebcn und die Angelegenheit an eine andere Strafkammer verweisen wird. Sollte das aber nicht eintreten, so wird Harden die Gefängnisstrafe nicht abzubüßen haben, da das Wiederaufnahmeverfahren beantragt werden wird und bei dem Stand der Meineids- fachen gegen Eulenburg nicht abgelehnt werden kann. Nach unseren Informationen wird eS Herrn Harden gelingen, im 2. Prozeß den vollen Wahrheitsbeweis zu führen; er hatte seine Zeugen früher beieinander, aber das Verholten der Strafkammer und sein körperlicher Zustand erschwerten ihm die Prozeßführung. Man rechnet in unterrichteten Kreisen mit der Völlen Rehabilitierung HardenS. — Zur Lehrerbesoldung in Preußen macht die „Päda gogische Zeitg.", wie der liberale Lehrcrverein sein Blatt in seltener Bescheidenheit nennt, Mitteilungen, wonach die Pläne der Regierung auf folgende Grundzüge hinauslau. fen: „Es ist beabsichtigt, virr Gehaltsklassen zu schaffen. Zur ersten Klasse sollen die Schulverbände bis zu 6000 Einwohnern gehören, zur zweiten die mit 5001 bis 10 000, zur dritten die mit 10 001 bis 40000 und zur vierten di» mit mehr als 40 000 Einwohnern. Das Grundgehalt soll betragen: für Lehrer: in Klasse 1 1350 Mark, in Klasse 2 1350 bis 1400 Mark, in Klasse 3 1400 bis 1450 Mark, in Klasse 4 1450 bis 1650 Mark; für Lehrerinnen: in Klasse 1 1050 Mark, in Klasse 2 1050 bis 1100 Mark, in Klasse 3 1100 bis 1150 Mark, in Klasse 4 1150 bis 1350 2>!vrk. Die Festsetzung des Grundgehaltes in den ersten drei Klassen innerhalb der gesetzlichen Mindest- und Höchstgrenzen soll den Schulverbänden überlassen sein, ohne daß es einer Ge nehmigung der Schulaufsichtsbehörde bedarf. Die Schul verbände, die zur vierten Gehaltsklasse gehören, sollen be rechtigt sein, das Grundgehalt auch höher als 1650 Mark festzusctzen, doch bedarf ein solcher Beschluß der Genehmi- gung durch die Aufsichtsbehörde. Alterszulagen sollen wie bisher neunmal und alle drei Jahre gewährt werden. Sie sollen betragen: für Lehrer: in Klasse 1 160 Mark, in Klasse 2 150 bis 180 Mark, inFlasse 3 180 bis 200 Mark, in Klasse 4 200 bis 250 Mark; für Lehrerinnen: in Klasse 1' 120 Mark, in Klasse 2 120 bis 130 Mdrk, in Klasse 3 130 bis 140 Mark, in Klasse 4 140 bis 150 Mark. Diese Mit teilungen bedürfen noch der Bestätigung. Daß eine der artige Gehaltsreform die Gehaltsfrage noch sehr komplizie ren würde, wird die Regierung hoffentlich nicht übersehen. — Die »irtschastliche Lage in Südwestafrika wird in der letzten Nummer der „Südwestafrikauischen Zeitung" sehr unangenehm dargestellt. In einer Warnung an junge Kaufleute vor der Auswanderung nach Südwestafrika schreibt daS Blatt: .Bei dem schlechten Geschäftsgang sind die Swakopmunder Firmen bereits jetzt gezwungen, ihr kaufmännisches Personal ständig zu vermindern; das wird sogar noch mehr in die Erscheinung treten." — Die in dem Blatte zur Sprache kommenden, gewiß zuverlässigen Beurteiler der Lage sind also der Ansicht, daß die wirt schaftliche Entwickelung zum wenigsten nicht vorwäris, sehr wahrscheinlich aber scharf rückwärts geht. Der Aufschwung der letzten Jahre war somit offenbar nichts anderes, als eine Folge der von Deutschland in die Kolonien gesteckten großen Summen. — D«S Verein»- und versammlung-recht i« Reiche war bisher ein Konglomerat von alten und ältesten Ge setzen, Verordnungen, Reskripten, Verfügungen, Erlassen usw., aus dem auch der sorgsamste und fleißigste Jurist nur in lahrelangem Studium klug werden konnte. Und das neue Reichsvereinsrecht? Erfüllt es die Wünsche und Hoffnungen insbezug auf Vereinfachung und größere Klar heit? Wenn man sich das Vereinsgesetz selber ansteht, und dann die Verordnungen und AuSsührungSbestimmungen der 26 Einzelstaaten dazu zusammenstellt, dann wird nie mand bestreiten, daß die Zustände eine ganz erhebliche Verschlechterung erfahren haben, trotzdem sie bisher doch schon an Konfusion nichts zu wünschen übrig ließen. Das schlimmste ist, daß die Aussührungsbestimmungen z. B. in Preußen den untergeordneten Instanzen noch allerlei Rechte abtreten, sodaß in Preußen an die Stelle einheitlicher, wenn auch unmoderner Ordnung eine Sammlung von neuen Bestimmungen tritt, die das öffentliche Versamm- lungs- und Vereinswesen in der allerunangenehmsten Weise einengen werden. Sicher ist, daß die Beunruhigung des DereinslebenS und des Versammlungswesens heute in Preußen noch viel bessere Grundlagen findet, als wir sie bisher gehabt haben. — Württemberg «ud da» Reichsvereinsgesetz. Die württembergische Negierung hat soeben AussührungS- besttmmungen zum neuen Reichsvereinsgesetz erlassen, die im wesentlichen den Wünschen gerecht werden, die ihr vom Zentrum in den Beratungen des württembergischen Land tages unterbreitet worden sind. Bei Versammlungen von Gewerbetreibenden und Gewerkschaftsversammlungen soll der Gebrauch fremder Sprachen zulässig sein; in anderen öffentlichen Versammlungen ist der Gebrauch einer nicht deutschen Sprache durch einzelne Redner gestattet. Die württembergische Regierung fügt diesen freiheitlichen Be stimmungen noch jene an, daß Personen unter 18 Jahren auch gewerkschaftlichen Organisationen angehören dürfen. — Vereinheitlichung der Arbeitervcrsichernug. Ein Blatt, daS die Interessen der Bauunternehmer vertritt, veröffentlicht einen Plan, der angeblich von der Regierung der Reform der Arbeiterversicherung zu Grunde gelegt werden soll. Als Grundsatz soll aufgestellt worden sein: Möglichste Zentralisierung der Krankenkassen, möglichste De zentralisierung der Unfallversicherung. Diese» Ziel soll auf dem oft erörterten Wege der Schaffung lokaler Versiche- rungSämter erreicht werden. Dabei soll auch eine Kranken versicherung der Landarbeiter geschaffen werden. Beitrags- pflichten und Rechte im Vorstande für die Verwaltung der Kassen sollen dieselben bleiben. Die Leitung aller ört lichen Kassen, die nach Möglichkeit zu verschmelzen sind, übernimmt da» BerstcherungSamt. Mit ihm sind Spruch kammern verbunden, denen die Festsetzung der Renten ob liegt. Darüber stehen Oberverstcherungsämter. die die Be- rufungS- und Beschwerdeinstanz bilden. Endlich wird da- NeichSversicherungsamt als RevistonSinstanz. nicht aber als RekurStnstanz bestehen bleiben. Diese Art der Regelung hält sich im Rahmen dessen, was von Arbeiterseite, sowie - von allen einsichtigen Sozialpolitikern immer wieder ver langt worden ist.