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Zweites Man Deutscher Reichstag. Sächsische BolkSzetlrmg vom 6. Dezember 1911» Nr. 277 Sitzung vom 3. Dezember 11 Uhr 20 Minuten. Auf der Tagesordnung steht der konservative Antrag betr. Hebung des Handwerkes. Abg. P a u l i - Potsdam (Kons.) begründet folgenden Antrag v. Normann: „Der Reichstag wolle beschliehen, den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, auf gesetzliche Mahregeln Bedacht zu nehmen, welche geeignet sind, dem fort schreitenden Niedergang des Handwerks und der weiteren Abnahme der Zahl der selbständigen Gewerbetreibenden vorzubeugen." Manche Gesetzentwürfe zum Schutze des Handwerks sind in der letzten Zeit verabschiedet worden (kleiner Befähigungsnachweis, unlauterer Wettbewerb usw.). Aber trotzdem bleiben noch viele Wünsche des Mittel standes bestehen. Das Grohkapital hat sich des Detail- Handels bemächtigt: gegen die Warenhäuser kommt der Mittelstand kaum auf. Die sozialdemokratischen Konsum- Vereine setzen jährlich 270 Millionen Mark Waren um und zahlen keine solchen Steuern wie die Gewerbetreibenden. Der Bundesrat soll uns Vorschläge n achen. Die bestehenden Gesetze werden leider nicht ausgeführt, wenn sie zugunsten des Handwerkes erlassen sind. Abg. Euler (Ztr.): Die Handwerker sind dankbar für die erlassenen Gesetze. Die Besserung zeigt sich am deut- lichsten im Lehrlingswesen. Die Gesetzgebung schützt mehr den Schwindler, als den reellen Haadw'rker. Der Satz: „Jeder muß bezahlen, was er schuldig ist!" muh in der Ge setzgebung anerkannt werden. Ich erinnere nur an die schwindelhaften Einkäufe. Die Meisterkurse sind noch mehr ouszudehnen und auszubauen: denn sie nützen dem Hand werk ungemein viel. Die Handwerker müssen sich den Organisationen anschließen. Dann geht auch die Regelung des Submissionswesens leichter und die Schmutzkonkurrenz hört auf. Die Beamten sollen nicht in Warenhäusern ein kaufen, auch die Frauen derselben nicht. (Beifall.) Wir haben für die Beamten durch die Gehaltsaufbesserung ge sorgt. Der Antrag der. Konservativen möchte zu einer Besserung der Handwerkerverhältnisse beitragen. (Beifall.) Abg. Pachn icke (Frs. Vpt.): Der Antrag der Kon servativen ist auf die Wähler zugeschnitten. Aber der Bund der Landwirte macht dem Handwerker Konkurrenz, der Staat durch seine Anstalten. Man mache beim Handwerker viele Bestellungen und bezahle bar. Die Konservativen haben dem Handwerker alles verteuert und durch die Finanzreform ihn schwer belastet. Die Mittelstandsver einigung hat sich von den Konservativen abgewendet. Nur der Bund der Handwerker steht noch rechts. In Labiau- Wehlau haben die Konservativen eine Niederlage erlitten, die sie nicht so bald vergessen werden. Die Handwerker lassen sich nicht mehr zum Vorspann des Grohgrundbesitzes be nützen. Man will heute keine Wiederbelebung des alten Zunftgeistes: man rechnet auf die eigene Kraft. Die Haud- werkerfrage ist in der Hauptsache eine Bildungsfrage. Die Konservativen sollen den Handwerkern das Reichstagswahl recht geben. Abg. Brüh ne (Soz.): Der konservative Antrag ent spricht der Wahlangst. Aber man schaffe dem Handwerk billiges Brot! Eine grohe Anzahl der Handwerker wird bei den nächsten Wahlen rot wählen. Die Handwerker machen sich Schmutzkonkurrenz. Das Borgunwesen schadet dem Handwerk sehr viel und schwer. Erst ein neuer und besser zusammengesetzter Reichstag wird hier helfen können. Abg. Findel (Natl.) will keine Parteipolitik führen. Den Konservativen ist es nicht gelungen, den Niedergang des Handwerks aufzuhalten. Wenn die Regierung die Initiative ergreifen soll, wird es noch recht lange dauern, ehe es besser wird. Für die Industrie, Arbeiter und Land wirtschaft ist genug geschehen: der Mittelstand ging seit Jahren leer aus: dazu kam die Finanzreform. Abg. Linz (Rpt.): Im Handwerk herrscht zu viel Pessimismus: mehr Selbstbewuhtsein ist geboten. Die Konsumvereine schädigen das Handwerk sehr. Abg. Raab (W. Ver.): Unsere Handwerkmahnahmen leiden unter der Halbheit; man gibt dem Handwerk nie etwas Ganzes; darum kann die Sache nicht helfen. Das Haus vertagt die Weiterberatung. Nächste Sitzung: Montag 2 Uhr. Zweite Lesung der Arbeitskammern. Kirche und Unterricht. Ir Amerikanische Kirchenstatistiken. Ueber die Kirchen bauten der Vereinigten Staaten und über die Tätigkeit ihrer Geistlichen gibt eine neuerschienene Statistik inter essante Aufschlüsse. Danach existieren in den Vereinigten Staaten nicht weniger als 100 000 Sonntagsschuleu. Die Zahl der Kirchen ist aber noch erheblich größer und erreicht nahezu die irnposante Ziffer von 200 000. Der Wert dieser Kirchenbauten wird auf nahezu 3 Milliarden Mark ge schätzt. Sie alle sind ohne Staatshilfe aus Privatmitteln errichtet. Die Zahl der amerikanischen Geistlichen beträgt allein in den Landdistrikten über 150 000, in den größeren Städten wirken weitere 76 000 Geistliche. Dabei gibt es in ganz Amerika keinen Seelsorger, der weniger als 4000 Mark Gehalt bezieht. In Neuyork, wo bereits auf je 3000 Einwohner eine Kirche kommt, baut man gegenwärtig 12 neue Kirchen und Kapellen, die zusammen rund 80 Millionen Mark kosten. Vermischtes. V Die Stadt München, die kürzlich erst das Tuberkulose-Museum einweihte, verfügt nun auch über ein Kriminal-Museum. Es ist in den Parterreräumen der Geudarmerieschule untergebracht und gewährt mit seiner reichhaltigen Sammlung von Verbrecherwerkzeugen und seiner Falschmllnzerwerkstatt Gelegenheit zu interessanten Studien. v Wichtige Radiumentdeckungen. Die beiden Wiener Aerzte, Ultzer und Sommer, haben in Neu- Lengbach Radium entdeckt, das eine vierzigmal größere Heilkraft besitzt, wie das Radium von Johannistal. Die beiden Aerzte ziehen das Radium aus dem Uranium von Neu-Lengbach in sechs Wochen aus, während der Prozeß bei den Lagern von Pechblende in Johannistal ganze acht zehn Monate beanspruchte. Der Wert des Radiumlagers von Neu-Lengbach wird auf 2 Millionen Mark beziffert. v Sitten und Bräuche am Nikolaustage. Der Sitten und Bräuche des Nikolaustages gibt es eine mehr als stattliche Anzahl. Fast in allen europäischen Landen stößt man auf Nikolaus-Kult-Eigentümlichkeiten. Verlobungen am St. Nikolaustage bedeuten Glück für die zu schließende Ehe. Namentlich sind die slawischen Völker dieser Meinung. Vor allen Dingen aber ist der Nikolaus tag der Kindertag. Der heilige Nikolaus reitet an seinem Feste auf einem Schimmel über die Dörfer und wirft durch den Schornstein Obst, Leckereien und Spielkram für die Kinder. Besonders in den germanischen Landen findet man dieses Märchen. Hier wird daher auch Nikolaus am aller meisten gefeiert. In früheren Zeiten stellten die Kinder ihre Schuhe vor die Schlafzimmertür, taten auch oft ein Päckchen Heu für das Reittier des heil. Nikolaus in die Schuhe, und die Freude war groß, wenn am anderen Mor gen an Stelle des Heues Leckereien und Spielkram sich in den Schuhen fanden. In anderen Gegenden hängt man einen Strumpf ins Fenster. Leider kommt dieser hübsche Brauch immer mehr und niehr in Fortfall. v Ein witziger Kopf läßt folgende „Proklama tion" au die Mauern einer russisch-polnischen Stadt anschla gen: „Wir, die vereinigten Diebe Polens, gestatten uns, hierdurch mitzuteilen, daß wir im Begriffe stehen, unseren Beruf zu verlassen. Bisher ist die Polizei mit einem An teile von 50 v. H. unserer Beute zufrieden gewesen. Nun teilt man mit, daß beabsichtigt wird, 75 v. H. zu erheben, so daß uns lumpige 25 Kopeken von jedem gestohlenen Rubel verbleiben. Wir bitten die Polizei, diesen Beschluß nochmals in Erwägung zu ziehen, da wir sonst gezwungen sein würden, die Arbeit niederzulegen, weil unter diesen Umständen das Spiel nicht den Einsatz lohnen würde." Die Polizei Amerikas wird wohl nicht besser als die russische sein; sie steht mit den Dieben in regster Geschäftsverbindung. Literatur. Die öftere heilige Kommunion. Von Dr. Ferdinand Nüegg, Bischof von St. Gallen. 78 Seiten. 30 Pf. Köln a. Nh., Verlagsanstalt Benziger. — In populärer, klarer, knapper Sprache unterrichtet dieses Broschürchen an Hand des päpstlichen Dekretes über den Nutzen der öfteren hei ligen Kommunion. „So schön und salbungsvoll ist das Büchlein geschrieben, daß ich nichts Besseres über diesen Gegenstand kenne", urteilt der Rektor einer sehr ange sehenen höheren Lehranstalt. Christkinds-Kalender für die Kleinen Pro 1911. In mehrfarbigem illustrierten Umschlag, mit Chromotitelbild. vier farbigen Einschaltbildern und zirka 30 Textillustra tionen. 108 Seiten, kl 8°. Preis pro Exemplar 30 Pf. Einsiedeln, Waldshut, Köln a. Rh. Verlagsanstalt Ben ziger u. Co. A.-G. Tie Revolution in Portugal beschäftigt trotz der wiederhergestellten Ruhe immer noch die Gemüter weitester Volkskreise. Die trefflich zusammengestellte Uebersicht der damaligen Ereignisse, welche die bewährte Familienzeit schrift „Alte und Neue Welt" in der Rundschau des 4. Heftes bietet, unterstützt von gutgewählten Illustrationen, ver mittelt einen klaren Einblick in den Zusammenhang und — 60 — mag, was ein so einfältiger Mensch wie Sie mit mir zu sprechen hat. Sehen Sie," und dabei deutete er mit seinem Punschschöpfer auf ein Bild seines Freundes: „dies ist ein Meisterwerk, eine der herrlichsten Kundgebungen der Kunst. Knien Sie vor demselben nieder und beten Sie es zehn Minuten hin durch an, worauf ich Ihnen Gehör schenken werde." Lucien hätte noch weiter gesprochen, doch trat Riaux auf ihn zu und flüsterte ihm ins Ohr: „Bist du verrückt? Siehst du denn nicht, daß dies Herr Largeval ist?" „Du hast mir schon einmal gesagt, daß dieser Mensch Largeval ist; ich weiß aber nicht..." „Erinnerst du dich auch an Fräulein Geneviöve nicht mehr?" Bei diesen Worten stieß Montussan einen Schrei aus und trat auf Georg zu, dessen Hände er erfaßte. Er blickt« ihn aufmerksam an und sagte: „Sie sind der Vater des Fräuleins Genevidve Largeval?" „Nein; ich bin ihr Onkel." „Nein, ihr Vater." „Aber ich versichere Ihnen, Herr Montussan," sprach Georg, der unter dem durchdringenden Blick des Künstlers ein großes Unbehagen empfand, „daß ich ihr Onkel bin." „Ihr Onkel ist tot, wie mir jemand gesagt hat." Largeval fühlte sich sehr unbehaglich und erbleichte und errötete ab wechselnd. Montussan hielt ihn an beiden Händen gefaßt und betrachtete ihn mit solcher Aufmerksamkeit, daß sich Georg angstvoll fragte, ob ihn jener erkannt habe oder nicht. Er wollte dem peinlichen Auftritt ein Ende machen und sich entfernen. „Ich sehe, Herr Montussan, daß ich mich in einem ungünstigen Moment eingefunden habe. Ich bedauere es recht sehr und bitte Sie, mich zu ent schuldigen." Damit griff er nach Hut und Stock, während Lucien, der unbeweglich dastand, vergebens seine Trunkenheit abzuschütteln suchte. „Riaux," rief er mit einem Mal« aus, „laß mir schnell ein Kilogramm Eis holen." Ohne ein Wort zu erwidern, verließ Riaux das Atelier, während Mon tussan zu Largeval gewendet sagte: „Sie müssen mir verzeihen, mein Herr. Ich weiß nicht mehr, was ich gesprochen habe; doch war ich gewiß derb und unhöflich. Bitte, warten Sie noch zehn Minuten; dann stehe ich ganz zur Verfügung." Jetzt kam Riaux wieder herein und sagte zu Montussan: „Das Eis befindet sich im anstoßenden Zimmer." „Entschuldigen Sie mich für einige Minuten, Herr Largeval." sagte Lucien, „ich bin sofort wieder hier. " Largeval nickte mit dem Kopse, und der Maler verschwand hinter der Portiere. Wie eS Riaux gesagt, fand er eine mit Eis gefüllte Schüssel auf einem Tischchen stehend. Mit fieberhafter Eile zerschlug er das Eis in kleine Stücke, worauf er sich ein Handtuch turbanartig um den Kopf wand und den in der Mitte freigelassenen Raum mit den Eisstücken füllte. — 57 — „Ein Lärm sagen Sie?" fragte Pascalin nachdenklich. „Noch dazu ein fürchterlicher Lärm, der von Zeit zu Zeit in ein förm liches Heulen überging." „Und dazu^hörte es sich an, wie wenn jemand heftige Anstrengungen machen würde?"' „In der Tat ... ja, ich glaube." Nun begann Pascalin laut zu lachen. „Ich weiß, was das ist," sagte er. „Dann bitte, sagen Sie es mir, ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür," sprach Largeval etwas ärgerlich. „Der Lärm rührt aus der Bäckerei her, die sich seit ungefähr acht Tagen in dem an Ihren Garten stoßenden Hause befindet. Die Bäckergesellen lärmen schauderhaft während der Arbeit, und das werden Sie wohl gehört haben." „Das ist schon möglich." „Das Geschrei der Teigkneter hat Sie offenbar aus dem Schlafe geweckt." „Ja, ja, Pascalin, so wird es wohl sein. Es wäre mir sehr peinlich ge wesen, wenn ich keine befriedigende Erklärung gefunden hätte, und darum danke ich Ihnen für Ihre Aufklärung." In der folgenden Nacht wurde dasselbe Geschrei vernehmbar, doch schenkte Largeval demselben nur wenig Aufmerksamkeit und ließ sich auch nicht in seiner Nachtruhe stören. Offenbar gewöhnte er sich schon in kurzer Zeit an den Lärm, denn er meinte nur mehr ein leises Wimmern zu vernehmen, welches aus einer ver borgenen Ecke des Pavillons zu dringen schien, und schließlich wurde alles ruhig; nichts störte fortan die nächtliche Stille. „Ich höre die Bäckergesellen aber gar nicht mehr," sagte Largeval eines Tages zu Pascalin. „Daran ist weiter nichts zu verwundern," gab dieser zur Antwort, „der Bäckermeister starb dieser Tage, und da er nicht verheiratet war. so wurde der Laden gesperrt." Das hörte sich ganz natürlich an und gab zu keinerlei Vermutungen Anlaß. 10. Largeval hatte sich seine Lebensweise nach eigenem Gutdünken einge richtet. Er nahm eine Magd, deren Physiognomie ihm zusagte, in seine Dienste, und er hätte sich gewiß ganz wohl gefühlt, wenn seine Frau zu be- wegen gewesen wäre, seine Hilfe anzunehmen oder ihm zu gestatten, daß er sie besuche. Laurenca verschanzte sich aber immer mehr in ihre Unnahbarkeit, gab überhaupt kein Lebenszeichen von sich. Wovon lebte sie? Diese Frage beunruhigte Largeval am meisten, und er dachte über Mittel und Wege nach, um Laurenca den Beistand, dessen sie gewiß dringend bedurfte, ohne ihr Vorwissen zukommen zu lassen. Leider fand er aber gar keinen Vorwand, um seine Wohltat zu ver hüllen. Wohl hätte er einen seiner Freunde aufsuchen können, um diesem die veinlichs Lage zu schildern, in welche ihn Frau Laraeval gebracht; doch wäre