Volltext Seite (XML)
Zweites Blatt Sächsische Volkszeitung vom 3. Januar 1911 Nr. 2 / Aus Stadt und Land. (Fortsetzung au- dem Hauptblatt.) —* Zur Frage der Fleischnot. Die Ortsgruppe Dresden des HansabundeS hat eine Resolution angenommen, in der die Regierung dringend ersucht wird, Maßnahmen zu ergreifen, um die ReichLregierung zur Freigabe der Einfuhr gefrorenen Fleisches zu veranlassen, die allein ein wirksames Mittel zur Minderung der Fleischnot sei. —* Der Grundbesitzwech'sel in Dresden war nach dem soeben erschienenen Monatsberichte des statistischen Amtes der Stadt Dresden in den Monaten April, Mai und Juni des Jahrese 1910 ein ziemlich leb hafter. Im ganzen fanden 167 Grundbesitzwechsel bei be bauten und 150 Grundbesitzwechsel bei unbebauten Grund stücken statt. In den drei Vormonaten beliefen sich die Be sitzwechsel durch bebaute Grundstücke auf 147 und durch unbebaute Grundstücke auf 134. Die Zahl der Rechts geschäfte, die den Grundbesitzwechsel betrafen, bezifferten sich bei bebauten Grundstücken auf 79 gegen 138 resp. 63 Rechtsgeschäfte in den drei Vormonaten. Durch Kauf gingen 102 bebaute und 12 unbebaute Grundstücke in anderen Besitz über, durch Erbschaften 24 bebaute und 2 unbebaute, durch Erbschaftsanseinandersetzungen 6 be baute und 3 unbebaute, durch Zwangsversteigerung 33 be baute und 20 unbebaute, durch Eigentumsverzicht 1 be bautes und durch sonstige Veranlassung 1 bebautes und 5 unbebaute Grundstücke auf einen anderen Besitzer über. Der lebhaftere Grundbesitzwechsel läßt auch Len Schluß zu, daß sich die Verhältnisse auf dem Grundstücksmarkte in Dresden im allgemeinen zu bessern beginnen. —* Mitder geplanten Errichtung eines G e s e l l s ch a f t s h a u s e s in der Johannstadt be schäftigt sich auch das offizielle Organ des Landesverbandes der Saalinhaber im Königreiche Sachsen in seiner letzten Sitzung in eingehender Weise. Die Dresdner Saalinhaber, die ohnehin nicht auf Rosen gebettet sind, betrachten die ge plante Errichtung dieses Gesellschaftshauses als eine er neute schwere Konkurrenz. Die Baukosten des Hauses sollen sich auf 800 000 Mark belaufen. Hiervon sollen 400 000 Mark als erste Hypothek uird 100 000 Mark als zweite Hypothek eingetragen werden. Die übrigen 300 000 Mark sollen durch Anteilscheine von 26 bis 1000 Mark zu 3 Pro zent verzinslich und mit 102 rückzahlbar aufgebracht wer den. In das Gesellschaftshaus sollen ein großer und ein kleiner Saal eingebaut werden, außerdem sind eine Turn- und Sporthalle, ein Turnplatz und 12 Kegelbahnen geplant. Für den Bau hat sich bis jetzt ein Unternehmer nicht ge funden, weshalb der Verein die Ausführung selbst in die Hand nehmen will, sobald eine finanzielle Grundlage für die Durchführung des Projektes geschaffen ist. Die Ein nahmen sind mit rund 40 000 Mark veranschlagt, wobei allerdings 8000 Mark Pacht von dem Wirt, 9000 Mark Pacht von den Kegelklubs, 3000 Mark Rollschuhbahn- Einnahmen, 6000 Mark Garderobe-Einnahmen, 1200 Mark Pacht von Vereinen für Klubzimmer, 7600 Mark Pacht von Vereinen für den großen Saal und 3000 Mark Pacht von Vereinen für den kleinen Saal vorgesehen sind. Hierzu kommen noch die Erträgnisse der in dem Hause einzu bauenden Mietswohnungen. Das erwähnte Organ ist der Meinung, daß das geplante Gesellschaftsbaus sich wohl kaum genügend verzinsen werde, weil sämtliche Einnahmen zu hoch eingestellt worden sind. Adorf, 1. Januar. Der Kassierer der Ortskranken kasse W. Boßler, ist seit einigen Tagen verschwunden. Man bringt seine Flucht mit einer Kassenrevision in Ver- bindung, bei welcher ein Fehlbetrag von 500 Mk. entdeckt wurde. DaS fehlende Geld ist durch Kaution gedeckt. Bautzen, 1. Januar. Wegen verbotenen gewerbs mäßigen Glücksspiels, begangen durch den Vertrieb bezw. das Aushängen von Geld-Schleuderautomaten, war vor der 1. Straskammer des hiesigen Landgerichts Haupt- Verhandlung gegen den Ingenieur Max Emil Wange aus Görlitz und 26 Gastwirte aus NeugerSdorf, Eibau, Neu- Eibau, Ebersbach, Walddorf. Niederoderwitz, Kleinsaubernitz. Quatitz und Baruth angesetzt. Vor Eintritt in die Ver handlung wurde von der Verteidigung der Antrag gestellt, das Verfahren auSzusetzen und an daS Kgl. Justizministerium ein Gesuch um Niederschlagung des Strafverfahrens ein- zureichen. Der Gerichtshof beschloß, dem Antrag stattzu- gebcn und setzt die Verhandlung bis auf weiteres aus. Diethcn-dorf, 1. Januar. Der 68 jährige Nadel- macher Ernst Müller wird seit dem 2. Weihnachtsfeiertage vermißt. Er hatte sich in Chemnitz bei Verwandten einige Tage auf Besuch befunden und seit seiner Abreise von dort fehlt jede Spur von ihm. Herold bei Thun, 1. Januar. Bei der Gemeinde ratswahl wurden die Kandidaten der sozialdemokratischen Ortsgruppe glatt gewählt. Leipzig, 1. Januar. Zur Einäscherung im hiesigen Krematorium kamen im Jahre 1910 insgesamt 497 Leichen, 292 Männer, 176 Frauen und 9 Kinder. Plaue«, 1. Januar. Für die städtische Sparkasse soll e'.n eigenes Verwaltungsgebäude und zwar an der Markt straße errichtet werden. Obrrluugwitz, 1. Januar. Vom hiesigen ElektrizitätS- werk wurde daS Elektrizitätswerk zu Gelenau zum Preise von 152 000 Mark angekauft. OelSnitz i. E., 1. Januar. In OelSnitz im Erzgebirge starb der Gutsauszügler Karl Diener, bekannt als der reichste Bauernknecht Sachsens. Trotzdem er durch den Verkauf großer Steinkohlenfelder ungewöhnlich begütert war. lebte und arbeitete er wie ein Knecht und ging noch in den letzten Wochen rüstig als Fuhrmann neben dem schwer beladenen Wagen einher. Der Mann erreichte das hohe Atter von 87 Jahren. Orlsnitz, 1. Januar. Gestern nachmittag verletzte sich beim Läuten der großen Glocke der Sohn des hiesigen Wachtmeisters Dick derart, daß er bis jetzt ohne Besinnung darnieder liegt. Radkberg, 1. Januar. Im Bahnhofe zu Arnsdorf bei Radeberg wurde bei dem Entleerrn der Latrinensässer ein etwa vier Monate alter Kindesleichnam aufgefunden. Thalheim bei Stollberg, 1. Januar. Bei der Er- gänzungSwahl zum Gemeinderat wurden die Kandidaten des sozialdemokratischen Vereins glatt gewählt. Eine Gegenliste war nicht vorhanden und die Ordnungsparteien hielten sich von der Wahlaußübung demonstraiio fern. Werdau, 1. Januar. Nach dem Haurhaltplan für 1911 beträgt die Summe aller Bedürfnisse 1 205 332 Mk., diejenige der DeckungSmittct 691 070 Mk. Der Fehlbetrag beträgt demnach 514 261 Mk., der aus verschiedenen Ein nahmen gedeckt werden soll, darunter 380 000 Mk. auS Steuermitteln. Eine Erhöhung der Klassensteuer soll nicht eintreten. Lauban, 1. Januar. DaS Bergwerk in Nieder- Helbendorf ist mit sämtlichen Maschinen und Gebäuden durch Feuer total zerstört worden. Es wird angenommen, daß Brandstiftung vorliegt. Kirche und Unterricht. I< Der Ailtiinodrrnisteneid ist am 30. Dezember in der ganzen Erzdiözese Köln geleistet worden. Von einer Weige rung, den Eid zu leisten, ist nichts bekannt geworden. lr Fruchte der Schnndpressc. In Csalpusterlengo (Ober italien) brachen Diebe in die dortige Propsteikirche ein, raubten die Opfcrstöcke aus, erbrachen das Tabernackel und nahmen, was sie an Gold und Silber fanden, mit sich. Die heiligen Hostien waren auf dem Boden zerstreut. An der Muttergottes-Statue hatten die Räuber das Gesicht mit schwarzer Farbe bemalt. Auf dem Muttergottesaltar lag eine Nummer des „Asino", des größten Schmutzblattes der Welt. Da ähnliche sakrilegische Einbrüche auch in den be nachbarten Kirchen vorkamen, wobei stets eine Nummer des „Asino" auf dein Altar zurückgelassen wurde, so wird man wohl nicht fehl gehen in der Annahme, daß es sich hier um eine organisierte Diebesbande handelt, die die Lehren des „Asino" und der Schundpresse in die Praxis uinsetzt. Die Bevölkerung ist in größter Aufregung über diese fortgesetzte Beraubung von Gotteshäusern. i k Rom und die Mode. Die Kongregation des heiligen Offiziums hat soeben ein Dekret erlassen, wodurch es von nun an erlaubt ist, die Skapuliere durch geweihte Medaillen zu ersetzen. Dieses Dekret gibt italienischen Blättern „Perseveranza" und „Mcssaggero") willkommene Veranlassung zu allerlei Insinuationen. Der eigentliche Grnnd, weshalb das Dekret erlassen worden sei» soll, ist nach den obigen Blättern Nachgiebigkeit des Heiligen Stuhles gegenüber der herrschenden Mode. Es sei nämlich auf diese Weise den Damen der Aristokratie möglich, selbst bei dem tiefsten durch die Mode vorgeschribenen dclcolletä das Ska- pulier zu tragen. — Tatsächlich haben hygienische Gründe Veranlassung zu diesem Dekret gegeben. Nicht die Damen der „schwarzen Aristokratie" Noms haben — wie die obigen Blätter schreiben — alle Jahre zu Beginn des Karne vals den Vatikan um die Erlaubnis gebeten, das Skapu- lier bei großen Bällen und Gesellschaftsabenden ablegen zu dürfen, sondern der apostolische Vikar des belgischen Kongo erbat Anfang 1909 für seine Neger diese Erlaubnis. Er begründete sein Ansuchen damit, daß die Tuch-Skapuliere der Eingeborenen schon nach kurzem Gebrauch infolge von — 148 — „Nun, und?" „Er hat sich demgemäß eines Diebstahles schuldig gemacht." „Er eines Diebstahls! Lächerlich! Das ist nicht wahr." „Bedenken Sie doch: er hat eine Summe Geldes an sich genommen, die nicht sein Eigentum war." „Aber das gehörte seinem Bruder, dessen Erbe er war," replizierte Laurenca, die die Dinge von ihrem Standpunkte aus betrachtete. „Er hatte kein Recht, den Betrag einer Rente sich anzueignen, die mit dem Tode Ihres Schwagers zu erlöschen hatte. Wenn Remi Largeval wirk lich tot ist, so darf an seiner Stelle niemand auch nur einen Pfennig beheben; ein solches Vergehen wird eben in jedem zivilisierten Staate für Diebstahl angesehen." „Ach Gott!" sagte Laurenca, die hieran natürlich nicht gedacht hatte. „Außerdem hat sich der Angeklagte," fuhr Herr Mcstras fort, „mit einem nicht ihm gehörenden Dokument bei der Versicherungsgesellschaft ein gefunden und den Empfang einer unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ent lockten Summe mit einer gefälschten Unterschrift bestätigt." Laurenca, die zu begreifen begann, schlug beide Hände vor das Gesicht und Tränen schossen ihr in die Augen. „Es handelt sich also um eine Fälschung." sagte der Untersuchungs richter. „Entsetzlich!" rief Frau Largeval aus. Georg, der von seinen verzweiflungsvollen Gedanken ganz in Anspruch genommen war, schenkte den Vorgängen um ihn nur eine sehr geringe Auf merksamkeit. „Wir haben also zwei Möglichkeiten in Betracht zu ziehen: entweder der Angeklagte ist wirklich Remi Largeval, und dann hat er sich wegen drei Mordtaten zu verantworten, darunter in erster Reihe des an Ihrem Bruder verübten Mordes wegen." „Er ist aber nicht Remi, das wissen Sie selbst auch schon." „Oder," fuhr der Untersuchungsrichter fort, „er ist Georg Largeval, wie Sie es behaupten. In diesem Falle ist seine Lage allerdings eine weit weniger ernste, da die Geschworenen seine bedrängte Lage und auch sein Unglück in Betracht ziehen werden; ein Dieb und Fälscher bleibt aber unter allen Um ständen . . ." „O Gott, o Gott! . . . Aber so verteidige dich doch, Georg! Wider lege diese entsetzlichen Beschuldigungen!" „Und ein strenges Urteil ist in jedem Falle zu gewärtigen," schloß Herr MeftraS. „O, Herr Untersuchungsrichter, Sie sind ein guter, edler Mensch! Ein Wort von Ihnen würde genügen. . ." begann die unglückliche Laurenca. „Immerhin sind selbst in letzterem Falle gewisse Punkte vorhanden, welche einer Aufklärung bedürfen," fiel ihr der Richter ins Wort. „Welche Punkte? Was hat denn die Polizei noch erfunden?" „Ich bitte Sie, sich durch Ihren Zorn nicht zu unbedachten Aeußerungen Hinreißen zu lassen." Laurenca schwieg, schluchzte aber herzbrechend. 145 In den Worten Georgs war ein solcher Ausdruck des Zornes und des Schmerzes gelegen, daß ihn Laurenca endlich erkannt hatte. Es war gänzlich ausgeschlossen, daß eine derartige Kundgebung der Eifersucht dem Innern eines gleichgültigen Menschen entspringe, und so weit lrat es noch nie ein Schauspieler in der Kunst des Verstellens gebracht. Mit einem lauten Aufschrei streckte sie die Arme dem Richter entgegen, und in diesem Schrei gab sich Freude und Verzweiflung zugleich kund: Freude, den Gatten lebend vor sich zu sehen, denn nun zweifelte sie nicht länger, und Verzweiflung, ihn unter einer so schrecklichen Anklage zu wissen. All dies war mit einer unglaublichen Schnelligkeit vor sich gegangen Die wenigen entscheidenden Worte waren in vier oder fünf Sekunden ge sprochen worden, und am meisten war der Untersuchungsrichter überrascht, der auf diesen Knalleffekt nicht vorbereitet gewesen. Er wollte sprechen, doch Laurenca ließ ihm keine Zeit dazu, denn sie eilte zu Georg und dessen Hände erfassend, bedeckte sie dieselben mit Küssen. Dann schlang sie die Arme um seinen Hals, überhäufte ihn mit Liebkosungen und ward dabei nicht müde zu sprechen: „Du bist's! Tu bist's! Du, den man eines so schändlichen Verbrechens beschuldigt! . . . Dieses Glück! ... Du wolltest, welche Torheit! reich werden . . . unserthalben! Das war schlecht von dir. Du lebst aber wenigstens und bist unschuldig. Ja, Remi ist ein nichtswürdiger Mörder, aber du bist der beste Mensch auf der Welt!" Georg bebte am ganzen Körper vor namenloser Wut. Der Schlag hatte ihn ins Innerste getroffen. Er kümmerte sich nicht mehr um die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen, dieselben hatten keinerlei Bedeutung mehr für ihn. Seine Gedanken galten nur mehr den Enthüllungen seiner Gattin. Sein leiblicher Bruder hatte ihn schmählich betrogen. Wohl sagte er sich, daß Laurenca selbst ein bedauernswertes Opfer dieses Irrtums gewesen; er litt aber darum nicht weniger. Laurenca dagegen, die sich ihrer Freude über den wiedergefundenen Gatten rückhaltlos hingab, dachte gar nicht mehr an ihre Erzählung. Im Grunde genommen frei von jedem Vorwurf, war sie stets der Ansicht geivesen, die Enthüllung der Schändlichkeit Remis könnte nur die Wirkung haben, die beiden Brüder gegeneinander zu erzürnen, und so hatte sie über den Vorfall tiefes Schweigen beobachtet. Angesichts der furchtbaren Beschuldigungen aber, bei welchen Georgs Leben auf dem Spiele stand, bildete ein Geständnis in ihrem Sinne bloß eine recht schmerzliche Tatsache, welche sich notwendig aus den Verhältnissen ergab. Georg aber, der von Natur aus eifersüchtig war, faßte die Sache nicht sofort von diesem Gesichtspunkte auf. Ein namenloser Schmerz bemächtigte sich des armen, ohnehin schon so schwer heimgesuchten Mannes, und er begann leise zu weinen, wobei er sich die Frage vorlegte, weshalb ihn sein böses Verhängnis mit solcher Hartnäckig keit verfolge. Schuld und Sühne." 37