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«r. »18. 44 So««ck-end, den L4. September LV04 ». Jahrgang. »«ch«. «U »u«na-m» der G,m> und U«abdS«giger Tageblatt für lllabldeit. becdt u. kreibeit. A«s»r«tr werden die v^espallene Pettlzeile oder deren Raum g 18 Pf. beregnet, bet Wtederbolun« bedeutender Radau Uuchdruaeret. Redaktion »ad Geschaktdftellei Dredde» Vtllnttzer «trakt» 4». — ^enisprecher »Imt I Nr. lNW. Sozialdemskralischer Parteitag. Der Fall Schippe! kam am Mittwoch zur Ver- Handlung. Schippe! selbst sprach als erster Redner. Er sagte, daß er keine große Verteidigungsrede hatten wolle. Er habe in -18 Zeitungsspalten seine Ansicht dargelegt und es habe nicht geholfen. „Mag das Ende für mich ein wehe oder weniger unerfreuliches sein, die Hauptsache ist, daß wir zu einem Schlüsse kommen. Und nun beantworten Sie mir einmal offen und ehrlich die Frage: Wie viele von Ihnen, die Sie hierher gekommen sind, um mich zu verur teilen, haben denn eigentlich meine Artikel gelesen? Und wie viele haben genau verfolgt, auf welcher Seite der Ton schärfer gewesen ist? Als mein Buch über Handelspolitik erschien, war der Genosse Hoch einer der ersten, der mir im Reichstage sein Entzücken darüber aussprach — derselbe Hoch, der gestern so kräftige Töne gegen mich angeschlagen hat! Wie sich das zusammenreimen soll, verstehe ich nicht. Einer der schärfsten Rufer im Streite gegen mich ist der Ge nosse Paeplow aus Hamburg, er hat sich extra aus Hamburg hierherschicken lassen, um mich als „Protektionisten" mit ver urteilen zu helfen. Das ist derselbe Genosse Paeplow, der ausdrücklich und energisch den Standpunkt vertreten hat, daß, wenn sich die weltwirtschaftlichen Konkurrenzverhält nisse ändern sollten, für die Ware „Arbeitskraft" eventuell Einschränkungen und Absperrungen nötig sein könnten. Der Genosse Schöpfst» ist gestern in der schärfsten Weise gegen mein Buch „Die Handelspolitik" zu Felde gezogen. Ich weiß nicht, hat Schöpflin mein Buch überhaupt schon einmal in der Hand gehabt? Ich stehe praktisch durchaus auf dem Stundpunkte der Fraktion, jedenfalls ist es mir völlig fern gelegen, der Partei irgendwie Knüppel zwischen die Beine werfen zu wollen. Nun zur Resolution Bebel. Tief ge schmerzt hat mich, daß diese Resolution über meine Tonart herzieht. Ich hätte wahrlich nicht geglaubt, daß ich ein Jahr nach Dresden der erste sein würde, dem ein schlechter Ton vorgeworfen würde, (von Vollmar: Sehr gut!) Wenn schon der Ton kritisiert werden sollte, so sollte man sich auch dessen erinnern, was von der Gegenseite gegen mich geschrieben und gesprochen worden ist." — Sindermann Dresden ist der erste Redner nach Schippel. Er beantwortet die Frage: Ist Schippel noch fähig, die anerkannten Grundsätze der Sozial demokratie zu verteidigen, mit Nein. Wenn Schippel mit uns in der Lebensmittelfrage nicht durch dick und dünn gehen will, dann soll er die Konsequenzen ziehen. Ich bin mit Schippel nicht nur als Parteigenosse, sondern auch als Mensch fertig. Bernstein: Ich meine, es genügte heute, daß die Partei die Anschauungen Schippels zurückweist. Wenn Schippel praktisch in allen Punkten mit der Partei zusam mengeht, dann sollte man ihm keinen Vorwurf daraus machen, daß er in einer Frage theoretisch seine eigenen An sichten hat. Zubeil-Berlin: Der „naive" Schippel will wie der das unschuldige Karnickel sein. Als Beispiele des Tones Schippels führt Zubeil an, daß er gesprochen habe von „unseren allein seligmachenden Prinzipien und Endziel", von der „Rückgratlosigkeit" der Partei und „politischer Ge- legenhcitsmacherei", sowie von „unsagbarer Kinderei". Er schläfst, es sei endlich an der Zeit, die Doppelseele Schippels aus dem Geiste der Partei zu entfernen, seiner Doppel züngigkeit ein Ende zu machen. Düvel-Dortmund: Der Vartcstag kann Schippel nicht ausschließen. Par ei,-e- nok'cn müssen aus dem Fall die Lehre zieh'.', daß '.i>- .an unten herauf selber reformieren müssen, da es von oben nicht geht. Bebel: Nicht wahr ist es, daß heute Schippels Buch im Vordergründe der Verhandlung stehe, es handelt sich um seine zweideutige Haltung. Schippel hat nie ernst haft zu sagen gewagt, was er in Wahrheit denkt. Nicht wenige seiner intimsten Freunde sagen: innerlich gehört er schon gar nicht mehr zu uns. Wenn wir es mit zehn solchen Schippels zu tun hätten, würde das die vollständige Zer- rüttung, vielleicht den Untergang der Partei herbeiführen. Da keiner dies will, müssen wir verlangen, daß jeder, der sich Sozialdemokrat nennt, sich in seinen Handlungen so ge- berdct, daß wir allezeit wissen, wir haben es mit einem Par teigenossen zu tun. Neichstagsabgeordneter von Elm: Schippel soll mit seinen Ausführungen unseren Gegnern Waffen geliefert haben. Wenn wir alle diejenigen hier ver urteilen wollten, die der Partei Knüppel zwischen die Beine geworfen oder einen gehässigen Ton angeschlagcn haben, dann würden noch sehr viele andere auf der Anklagebai k sitzen müssen. Dr. Arons-Berlin ist für die Resolution Paep low. Reichstagsabgeordneter Hop-Hanau: Es handelt sich nicht darum, daß dem Genossen Schirocl > n milder Ta ul am gesprochen n rd, sondern daß hier kuvp :: klar gesao* wird: Du bist nicht niehr fähig un) geeignet, an herum- ran.'»der Stelle zu stehen. Das g-^chi-.n: in dem Am nm- m nt Freytvaler, die ich ohne dt:' R-iourtion Bebel t», nichts weniger als ein Meisterstück ist, anzunehmen bitte. Kautsky-Berlin: Die heutige Rede des Genossen Schippel war ebenso inhaltslos wie seine 48 Spalten langen Artikel. Um nichtssagende Erklärungen abzngeben, dazu braucht man keinen Neichstagsabgeordneten, dazu kann man schließ lich auch einen Papagei abrichten. Das einzige erfreuliche an dieser ganzen Debatte ist die Tatsack>e, daß der Partei tag einmütig die Ansicht Schippels znrückgewiesen hat, daß Agrarzölle notwendig seien. In der Nachmittagssitznng sprach zuerst Stücklen-Alten- burg: Es sei ja möglich, daß die Partei unter Umständen fiir Jndustriezölle sein könne, aber niemals für Agrarzölle. Langer-Chemnitz: Wenn die Resolution Bebel angenommen werde, werde sich jeder hüten, in Zukunft Aenßernngen ans- zusprechen, die der Mehrheit nicht gefielen. Im In: :esie der Partei bitte er, keinerlei Resolution anznnehme». Antrick- Berlin: Ich bin der festen Ueberzengung, daß Schippel innerlich mit den Grnndanschannngen der Partei seit länge rer Zeit gebrochen hat: ich habe die Auffassung, daß Schip pel nur nicht den Mut hat, das öffentlich ansznsvrechcn. Dr. Südeknm warnt, mit Schippel anders zu Verfahren, wie mit sonstigen, von denen man behaupte, daß sie die Partei > schädigten. Man solle ein Schiedsgericht beantragen. Schippel erhält noch ein Schlußwort. Eine ganze Reihe der aufgestellten Angriffe und Anklagen weist er als unrichtig zurück. Er verwahrt sich dagegen, eine Moral mit doppel tem Boden zu vertreten. Verschiedentlich sei heute von ihm eine Erklärung verlangt, daß er kein Schutzzöllner sei. Wie komme man dazu, nachdem doch auf dem Parteitag in Stutt gart die Auffassung durchaus als berechtigt anerkannt sei, daß unter Umständen Schutzzölle zulässig seien. Er habe erklärt, nur ein vollendeter Tor könne ihm unterstellen, daß er als Parteigenosse jemals für Agrarzölle eingetreten wäre. Niemals sei ihm das auch nur im Traume eingefallen. Wenn er dies erkläre, solle man das aber auch für ernst ge meint erachten. Ledebour hält hierauf das Schlußwort als Referent der Fraktion. Er bemerkt, auf die Erklärung Schippels gegen die Agrarzöllc komme es nicht an. Man ver lange von ihm die Gründe zu hören, wie er die logische Ver bindung herstelle zwischen der Tatsache, daß er in Schrift und Rede Gedankengänge entwickelt habe, die notwendig da zu führen müßten, daß Agrarzölle unvermeidlich seien, und dann mit der Erklärung, daß er Gegner der Agrarzölle sei. Bei der Abstimmung wird die Resolution Bebel in nament licher Abstimmung mit 234 gegen 44 Stimmen angenom men, ebenso mit 150 gegen 120 Stimmen das Amendement Freythaler, dahingehend, daß, falls Schippel „fortfährt, in der bisherigen Weise zum Schaden der Partei zu wirken", ihm das Mißtrauen ausgedrllckt sei und er die Konsequenzen zu ziehen habe. Donnerstag findet ein Ausflug »ach Helgoland statt. Der Fall Schippel auf dem Parteitag zu Bremen. Schippel war am Mittwoch der Gegenstand der Ver handlung. Den ganzen Tag dauerte die Erörterung über die handelspolitischen Ansichten desselben. Was aber ist herausgekommen? Nichts! Schippel hat seine Ansichten nicht dargclegt: mit erheblicher Mehrheit gelangte ein«- Re solution Bebels zur Annahme, welche das Auftreten Schip- pcls tadelt: aber bemerkenswert ist, daß gegen diese Resolu- tion nicht weniger als 16 Neichstagsabgeordirete stimmten, dagegen waren die Gegner Schippels lauter Leute, welche im Solde des Parteivorstandes stehen. Schippel wird weiter Reichstagsabgeordneter bleiben, er ist nur genötigt, seine ab weichenden Ansichten nicht mehr auszusprechen. Gar so gern hätte inanckxm Schippel ans dem Sattel geworfen, allen voran der Dauerredner Antrick, der im vorigen Jahre durch- gefallen ist und dem nun Schippel ob seines Eifers als „prä sumtiven Erben" bezeichnete. Antrick widersprach dem nicht, er möchte eben gern ein Mandat haben. Tie Anklage gegen Schippel hatte der Abgeordnete Ledebour zu vertreten: der Angeklagte selbst sagte fast kein Wort über seine Ansichten, sondern nur über die Art seines Auftretens und die Art seiner Gegner. Aber die Debatte, die sich oft in sehr sckiarfen Wendungen erging, lieferte doch recht interessante Einzelheiten und diese wollen wir herans- schälen. Schippel verspottete seine Gegner wiederholt sehr grimmig. Die lange Reihe der Redner eröffnete der Abge ordnete Sindermann, der sich und seine Kollegen einstens als „kleine Herrgötter" bezeichnet hatte, diesmal machte er sich bemerkenswert durch den Ausspruch, daß die „Stänke- reien" innerhalb der Sozialdemokratie stets mit der Aus einandersetzung über die materialistische Geschäftsauff«ssung A t k P fl. ,Nachdruck Vorboten.) Von Paul Cuypers. Es war im Spätsommer. Im Schloßparke rauschten die mächtigen Kronen der alten Buchen, und die Wellen des Teiches hupften rascher dahin als sonst. Ein wolkenloser, blauer Himmel lachte über einem herrlichen Fleckchen Erde, und eine echte, warme Som mersonne sandte ihre glitzernden Strahlen durch das wo gende Blätterdach auf die Wege und Rasenplätze des Parkes. Es saß sich gemütlich in der alten Laube ganz hinten an der Mauer. Ein idyllisches Plätzchen war es, so recht ge eignet zum Ausruhen — und Träumen. Nur ein wenig windig war's heut: eigentlich etwas zu windig. Doch das vermochte die beiden jungen Leute darin nicht im geringsten zu stören. Sie waren ja frisch und gesund, und wenn man gesund ist, lacht man über den Wind. Sie hatten ihre Freude dran, wie er das Wcinlaub an: S:>ist.r zerzauste und durch die alten Buchen fuhr, wie er über den Teich strich und um die Mauerecke heulte. Nur diese Staub wolken hätte er nicht ab und zu über den Zaun hcrüberjagen dürfen! Hand in Hand saßen sie da, dicht an einander geschmiegt. Sie hatte ihr blondes Köpfchen an seine Schulter gelehnt, und er hatte nichts dagegen, daß der Wind ihm die lockigen Strähne ins Gesicht wehte. Vielleicht dankte er's ihn: auch. Im Mai war es gewesen, als sie sich kennen lernten: als die Buchen sich ins erste Grün kleideten und Waldmeister und Anemone blühten. Und dann im Sommer, als die Ro sen in üppigster Fülle prangten, und man vor den glühen den Sonnenstrahlen Kühlung unter den schattigen Bäumen suchen mußte, damals hatten sie zum ersten Male von Liebe geredet. Und dann .... dann .... ja, dann war es natür lich nicht beim Reden geblieben! Da waren lustige Zeiten angebrochen, da sie zu zweien durch den Wald tollten, in Jugendlust und Lebensfreude, ausgelassen waren, sich nachliefen, neckten und — küßten! Und der alte, etikettenstrenge Schloßpark mag wohl man ches Mal bedenklich sein grünes Haupt geschüttelt haben, wenn e- gar zu fidel da unten herging. Jetzt waren sie nicht mehr ausgelassen, jetzt saßen sie still beisammen in der Laube und — träumten, träumten von vergangenen schönen Stunden und von kommenden: ja ganz besonders von kommenden. Es war so schön, Luft schlösser zu bauen. Und in Gedanken versunken, achteten sic kaum darauf, wie der Wind Blättlein auf Blättlein zur Erde niederwog, die alle einst frisch und grün und hoffnungsvoll gewesen waren jetzt fegten sie welk und vergilbt am Boden hin. Es war ja Spätsommer — - oder war cs schon Herbst? » * * Drei Wochen waren ins Land gegangen. Fahler waren die Blätter geworden und rauher die Winde, und kürzer die Tage .... An der Mauer des Schloßparkcs steht der Jüngling allein. Unbeweglich steht er da, das Auge in die Ferne ge heftet. Vor einer Viertelstunde war an jener Biegung der Landstraße ein Wagen verschwunden: ein weißes Tüchlein hatte lustig im Winde geflattert .... Tann in der Ferne verhallender Hufschlag der Pferde .... und jetzt ist's still. Ganz still. Bloß der Wind fegt ihm Staub und Laub ins Gesicht, als wollte er ihn necken. Und die Buchen rauschen hinter ihm wie sonst, und die Spatzen zanken sich auf der Straße wie sonst .... Und doch nicht wie sonst! Am Himmel jagen in toller Hast die Wolken; nach Osten, immer nach Osten! Immer neue kommen gezogen — cs hört gar nicht auf — und immer nach Osten. Wie seine Gedanken! Genau wie seine Gedanken! — Er hatte sich den Abschied anders gedacht. Noch ein mal hatte er sie bei der Hand nehmen wollen, noch einmal ihr ins blaue Auge sehen wollen — tief, tief hinein, um in ihrer reinen Seele von Liebe zu lesen .... junger, sonniger Liebe! . . . Und noch einmal hatte er sie küssen wollen und flehen: Gedenke mein! Und dann hatten sie sich ausweixen wollen, so recht von Herzen ausweinen! Und nun war alles so ganz anders gekommen! Plötz lich und unvermutet hatte sie davonfahren müssen. Ein kurzer Abschied nur war ihnen vergönnt gewesen — vor Zeugen! Und doch hatte sie ihn so treu und lieb angeschaut und hatte gelächelt: „Auf Wiedersehn! — Im Frühjahr!" — Im Frühjahr!! Und jetzt ist cs Herbst! Fallende Blätter und welkende Blumen, getäuschte Hoffnungen und verblichnes Glück! Und eine matte, matte Hoffnung auf den Frühling! Ist das der Herbst? Vielleicht. * st- Tie Fensterläden des alten Schlosses sind geschlossen. Unheimliche Stille liegt auf den alten Räumen, und durch die langen Korridore weht der Geisterhanch der Ewigkeit: ES liegt ein Toter im Hause. Leise huschen die Lakaien von Raum zu Raum: leise tuscheln sic an den Türen. Emsige Geschäftigkeit überall, doch nirgends ein lauter Tageston. Nur oben auf dem Turm drebt sich kreischend die rostige Wetterfahne, und im Hofe winselt die angekoppelte Mein.- Oben im ersten Stock, im Eckzimmer hält der Jüng ling bei der Geliebten die Totenwacht. In himmlischem Frieden liegt sie da, inmitten von Palmen, Kränzen, Im mortellen . . . Blumen ,die weiten werden, wie sie selbst dahinwelkte. Auch die Immortellen! Auch die Immortellen! Es herrscht ein betäubender Tust ii» Zimmer: Tust von frischen Blumen und brennenden Wachskerzen, Duft von Weihrauch und — und — ja, auch LeichendustI Er merkt es nicht. Regungslos sitzt er ihr zu Füßen: tonlos — tränenlos — sinnlos! All seine Hoffnungen, all seine Pläne, seine Zukunft, sein Glück — da liegt alles — alles! Bleich, kalt und — tot! Die schönsten Luftschlösser in nichts zerronnen, die herrlichsten Pläne zerschlagen, seine Zukunft — ach! seine Zukunft! Hatte er denn überhaupt noch eine Zukunft? Ist denn nickst alles nur Vergangen- heit? — Schöne, selige Stunden der Vergangenheit! Das war das Ende! „Auf Wiedersehn im Frühling!" hatte sie gesagt. Der Frühling mußte in einer anderen Welt erblühen! Hier unten auf der Erde war es Herbst. — Ein loser Laden schlug draußen bin und her. Der Sturmwind riittelte in den Buchen im Schloßpark und streifte auch das letzte Blättlein von den dürren Zweigen. Auch das letzte! Jetzt stehen sie ganz kahl und bloß und stöhnen im Winde. Das ist der Herbst!