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Nr. 10. Sächsische Donnerstag, den 14. Januar 1904. 3. Jahrgang. Erscheint täglich nachm, mit rlusnnbme der Sü»»> und gesilaac. Ve»«ßchpr«iS: Äierteljührl. I Mk. SO Pf. sohne Beslellgeld». Bei aukündeuischen Poslanslnll. >t. Zeilunaspreisl. Einzelnummer lO Pf. RednklionS-Sprechllunde: II I Uhr. olKSMUNg Unabhängige! lageblan MUlaMeit. siecbt u. freibett. Inserate werden die 6§esdnltene Petitzeile nder dereil Nnnm mit ^ I/» Pt deretdnet. dei Wiederdelung bedeutender ^ndntt. Puchdrn^rrei. Redaktion und vicschä,»«-steile: rreSden. Pillnistcr Slraste I!» Herniln.iin-i: «m, I Reichstag. Fünf Interpellationen hat Graf Ballestrem auf die Tagesordnung der ersten Sitzung des Reichstages im neuen Jahr gesetzt; aber auch er hat nicht angenommen, daß sämtliche an einem Tage beantwortet werden können, sondern er wollte nur aus- drücken, daß sämtliche gleichberechtigt sind und nacheinander verhandelt werden müssen. Als stärkste Fraktion hat das Zentrum den Vortritt mit seiner Interpellation Trimborn über die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine und die Schaffung von Arbeitskammern; hier muß die Negierung Farbe be kennen und der Reichskanzler zeigen, ob er gegenüber der christlichen Arbeiterdeputation nur den Mund gespitzt hat oder ob er auch pfeifen will. Eine große Mehrheit ist im Reichstage vorhanden, sodaß ein weiteres Zögern nicht erklärlich ist. Die Sozialdemokraten kommen als zweitstärkste Fraktion mit der Anfrage über die Bekämpfung der so verheerenden Wurmkraukheit, das Zentrum hat bekanntlich in dieser Sache einen eigenen Antrag eingebracht, in dem es eine gemeinsame Bekämpfung der Krankheit durch ein einheitliches Vorgehen der Einzelstaaten fordert. Wohl ist seitens des Oberbergamtes Dortmund im Juli lüOst eine Verschärfung der polizeilichen Maßnahmen verfügt worden, aber wir halten diese für ungenügend, da Tausende und Abertausende von Arbeitern bedroht sind. Im Interesse dieser Arbeiter wie der Allgemeinheit ist dringend geboten, alles aufzuwenden, um dieser verheerenden Krankheit Einhalt zu gebieten. Heute kennt man noch nicht einmal den Umfang der Erkrankung; bei der Beratung dieser Inter pellation dürfte sich volle Einigkeit im Zielpunkte ergeben, wenn auch die Sozialdemokratie nicht unterlassen wird. Angriffe auf einzelne Parteien zu unternehmen. Die Nationalliberalen sind gleich mit 2 Interpellationen da; die erste betrifft die Alters- und Invalidenversicherung der selbständigen Handwerker, ein ungemein schwieriges Gebiet; die Konservativen fordern hier schon die Ausdehnung des gesamten Versicherungswesens auf die Handwerker. Wir halten diese Ueberstürzung für total verfehlt; erst sollen sich die Handwerker selber äußern. Wozu hat man denn die Handwerkskammern? Eine Entscheidung in dieser Frage ohne Anhörung des organisierten Handwerks muß sich sehr schwer rächen; bis dato aber stehen die Kundgebungen der einzelnen Kammern sehr widersprechend da; deshalb ist ein Gesamturteil des organisierten Handwerks herbeizuführen. Mit dem Zeugniszwaug der Redakteure befaßt sich die zweite uationalliberale Interpellation; hier liegt in der Tat ein unhaltbarer Zustand vor. Nennt der Redakteur seinen Gewährsmann, so gilt dies in der ganzen Welt als ein schofler Vertranensbruch; verweigert er aber die Nennung des Namens, dann sperrt ihn der Untersuchungsrichter auf einige Monate ein; was soll da der arme Redakteur anfangen? Er kann es bekanntlich schon in seiner Zeitung nicht allen Leuten recht machen und nun steht er hier vor einem Konflikt zwischen Gesetz und moralischer Verpflichtung. Die konservative Interpellation über die Kündigung der Handelsverträge macht sicher der Negierung am meisten Schwierigkeit; da fällt das Antworten schwer. Um so leichter können die Parteien reden. Graf Kanitz hat schon angekündigt, daß er mit Bomben und Granaten schießen werde und die Sozialdemokratie ist auch nicht stumm! Was bei sämtlichen .7 Interpellationen heranskonnnt, steht zur Stunde »och dahin; Anträge sind hierbei geschäftS- ordmmgsmäßig nicht zulässig, so handelt es sich nur um den Aufmarsch der Parteien und der Regierung. Die hier durch erzielte Klarheit aber ist auch etwas wert, da dann beim Etat die Sache weiter verfolgt werden kann. Die Wohnungsfrage. Dem Zentrumsabgeordneten vr. Jäger gebührt das das große Verdienst, ans dem so schwierigen und doch so wichtigen Gebiete der Wohnungsfrage immer und immer wieder als Mahner aufzntreten, um der ganzen Gesellschaft, dem Reiche, den Einzelstaaten, den Gemeinden und den einzelnen Berufsständen ihre nicht geringen Pflichten in dieser Richtung darzulegen; recht lebhaften Dank schuldet man deshalb auch dem verdienten Parlamentarier; denn auch heute noch — ja vielleicht heute mehr als je früher hat das Sprichwort recht, wenn es sagt: „Gut gewohnt ist halb gelebt". Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß das größte Stück Lösung der sozialen Fragen in einer wirksamen Wohnungöreform liegt; denn was nützen alle sanitären Maßregeln in der Fabrik, wenn der Arbeiter in seiner Wohn- und Schlafstätte viel schlimmer daran ist, als im Arbeitssaal? Schlechte Wohnungen treiben den Arbeiter oft geradenwegs in das Wirtshaus und so dein Alkohol in die Arme; ungesunde Wohnungen sind die furchtbarsten Krankheitserreger. I)r. Jäger verfolgt sein Ziel mit eiserner Konseguenz und ist für dieses erfolgreich litterarisch tätig; im Vorjahr hat er im Reichstage eine Resolution zur Annahme ge bracht, in welcher er eine Zusammenstellung der seitherigen Maßnahmen zur Linderung der Wohnungsnot fordert und Heuer hat er mit Unterstützung von Zentrumsabgeordneten in Verbindung mit Nationalliberalen und freisinniger Ver einigung deii Antrag gestellt, eine Reichskonnnission zur allseitigen Erörterung und Prüfung dieser Angelegenheit zu bilden. Aber im bayerischen Landtage, dem I)r. Jäger gleichfalls angehört, ist er nicht minder für Durchführung einer weitgreifenden Reform auf diesem Gebiete bestrebt: so hat er eben eine sehr umfangreiche „Denkschrift über die Wohnungsfrage" als eine eigene Beilage der Drucksachen der Abgeordnetenkammer veröffentlicht, die von gründlichem Fleiße und ungemein großem Wissen des Verfassers Zeugnis gibt. Es fehlt uns der Raum, um hier näher ans dieses Schriftstück einzugehen und so müssen wir uns mit der Mitteilung einiger „Tatsachen der Wohnungsnot" deren Jäger 27 aufführt, begnügen. Die Hälfte und vielfach mehr der städtischen Bevölkerung lebt in Wohnungen von ein oder zwei nicht immer heiz baren Räumen; die Zahl der Personen auf ein heizbares Zimmer steht im umgekehrten Verhältnis zur Größe der Wohnung und der Mietpreis ist um so höher, je kleiner und meist auch je schlechter die Wohnung ist. Je kleiner das Einkommen ist, mn so größer ist der Teil desselben, den die Miete verschlingt; je mehr Personen in einem Zimmer sind, mn so häufiger ist der Todesengel die Tuber kulose. die Mietskasernen haben einen förmlichen Siegeszng in den Großstädten angetreten und bringen stets Verteue rungen der Wohnungen mit, die die Spekulation noch mehr begünstigen, was allerdings auch die Art unseres Hypotheken kredits tut. Man muß l),-. Jäger zu aufrichtigem Danke für seine Schrift verpflichtet sein; jeder, der es mit dem sittlichen und leiblichen Wohle des Volkes gut ineint, muß ihn hier unterstützen. Namentlich ist cs Pflicht der Gemeinden fördernd einzngreifen. i)>. Jäger führt eine Reihe von i Beispielen an, wo dies bereits mit großem Erfolg geschehen ist; wir nennen hier nur die Stadt Ulm. Durch Auf stellung von Bauplätzen, insonderheit aber durch Aistkanf von Bauplätzen ist die Gemeinde in erster Linie in der Lage, der Spekulation den LeöenSfaden abznschneiden. Hier durch ist gleichzeitig das größte Hindernis für eine wirksame Wahlreform entfernt. v. Berlin. 1. Sitzung am 12. Januar 1W4. Der Reichstag nahm heute mittag um 2 Uhr seine Sitzungen wieder auf; am Lonntage hatte der Telegraph die Abgeordneten zur Sitzung gerufen und „alle, alle kamen." Es ist nicht wörtlich zu nehmen, aber das Haus war un- gemein gut besetzt, obwohl in Baden und Bayern die Land tage versammelt sind. Die definitive Wahl des Präsidiums erfolgte im Wege der Akklamation und ergab die Wahl des seitherigen Präsidiums. Die erste Lesung der Rechnungs- ergebnisse ging recht rasch von statten. i)r. Bachem rügte hierbei die kolossalen Etatsüberschreitungen im Kolonial- etat, die einen großen Teil der Schuld an unserer Zmanz- miscre tragen; vom neuen Reichsschatzamtssekretär hofft er eine Besserung. Dasbach (Ztr.) stimmt hier zu. Die Regierung schwieg zu den Wünschen aus dem Hause. Die Beratung der Denkschrift über die Anleihegesetzc gab dem freisinnigen Kämpf Veranlassung, sich nach dem Befinden der Börscnreform zu erkundigen, aber Freiherr von Stengel gab keine Antwort auf die Anzapfung, sondern äußerte sich nur über das Verfahren bei künftigen Emissionen. I)r. Spahn konnte konstatiereil. daß die Zustände an der Börse sich gebessert hätten, seit das heutige Börsengesetz be- stehe. Wenn bis dahin große Unruhe sich im Hause zeigte, so stieg jetzt das Interesse, als die Beratung der Inter- pellationen begann. lieber die erste derselben, die des Abgeordneten Trimborn, konnte die Debatte nicht er- öffnet werden, da Graf Posadowskv erklärte, daß der Reichs kanzler wohl die Anfrage beantworten werde, aber dies erst in einigen Tagen tun könne. Die Erklärung darf als ein günstiges Zeichen angesehen werden, denn eine Sitzung des StaalSininisterinms dürfte sich mit der Frage befassen, um eine positive Erklärung abgeben zu können. Die zweite Interpellation wurde sodann sofort beant wortet, die sozialdemokratische Interpellation über die Wnrin- krankheit, begründet vom Abg. Sachse. Staatssekretär Graf PosadowSky betont, daß Staat und Private alles tun müssen, um der Krankheit Herr zn werden; es sei auch schon viel geschehen in dieser Richtung. Der preußische HandelSminister Möller sammelte die gesamte sozialdemo kratische Fraktion um sich, als er die seitherigen Maß nahmen der preußischen Bergbehörden darlegtc. Die Be sprechung der Interpellation wird auf morgen vertagt. Politische Rundschau. Deutschland. — Der Kaiser empfing am Sonnabend den Kardinal Erzbischof Frhr. v. Skrbensky in besonderer Audienz, die etwa eine Viertelstunde dauerte. Dann trat der Kaiser aus dem Empfangszimmer heraus und ließ sich durch den Kardinal dessen Begleiter, die Herren ilr. HohauS und Picha, vorstellen. Der Monarch unterhielt sich mit allen in liebenswürdigster Weise. Der Bitte des Kardinals, der Kaiser möge seine Huld auch fernerhin den Katholiken der Grafschaft Glatz znwenden, wurde seitens des Kaisers be reitwilligst Erhörnng zngesagt. Rach der Audienz ließ sich die Kaiserin den Kardinal und seine Begleiter verstellen. Alsdann wurden die Herren zur Königlichen Tafel zuge- zogen. Nach der Tafel hielt das Kaiserpaar Eercle ab. Sonntag mittags leistete der Kardinal einer Einladung zur Tafel beim österreichisch ungarischen Botschafter v. Szögyeny Manch Folge. Am Abend war der Kardin.-l Gast des Kultusministers. Montag trat er über Breslau, wo er den Kardinal Kopp besuchte, die Rückreise nach Prag an. Der Kaiser wohnte am Montag den Feierlichkeiten anläßlich der Vermählung der Gräfin Armgard zn Stol Die Wahl des Berufs. Wiederum hat die Zeit des nahenden Schulschlusses den Eltern und Vormündern die wichtige Frage der Berufswahl ihrer Pflegebefohlenen nahegelegt. Früher hieß es in den Familien des besseren Mittelstandes in solchem Falle nur „Was soll der Junge werden?" Für die Töchter verstand es sich von selbst, daß sie von der Mutter in den Fertigkeiten unterwiesen wurden, die die Führung eines Haushalts erheischte, und derselben zur Hand gingen, bis der Gatte sie in das eigene Heim führte. Blieben sie un- vermählt, so schien es ebenfalls selbstverständlich, daß sie ihr Leben damit auSfüllten, als hilfreiche „Tanten" überall da einzuspringen, wo es im Verwandtenkreise gerade recht viel Arbeit gab oder aus irgend einem Grunde im Haus halt Hilfe Not tat, ohne nennenswerten Dank dafür zu ernten. Dies hat sich in unserer Zeit vollkommen geändert. Durch die Erfindung von Maschinen aller Art hat sich der häusliche Pflichtenkreis der Frau wesentlich verkleinert, der Haushalt erfordert nicht mehr die Arbeitskraft von Mutter und Töchtern, und so ist es nur natürlich, daß auch den Letzteren das Haus zu cug geworden ist. daß auch sie. wie früher nur die Söhne, hinauöstreben in die Welt, daß auch sie die Kräfte und Gaben, die ihnen Gott verliehen, nicht brachliegen lassen, sondern sie betätigen, mit einem Worte sich in einer beruflichen Tätigkeit ausleben wollen, auch pekuniär unabhängig von den Eltern auf eigenen Füßen stehend." Aber die Eltern haben sich diese „modernen An schauungen", wie sie es nennen, in den meisten Fällen ! noch nicht in dem Maße zu eigen gemacht wie ihre Töchter, und wenn diese mit ihren Plänen vor sie treten und ihre Absicht aussprechen, sich für einen Beruf auszubilden, empfinden sie Erstaunen und Unbehagen und die Ein willigung muß ihnen oftmals abgekämpft werden. Der Mutter ist es unbegreiflich, daß sich ihre Tochter nicht damit begnügen will, Staub zn wischen, zn sticken, ein wenig zu musizieren, und allenfalls zu ihrer Fortbildung noch einige „Stunden zu nehmen" und populäre Vorträge zu hören, wie sie selbst eö als junges Mädchen getan, und der Vater hört mit Erstaunen. daß das alte Wort „die Frau gehört ins Haus" nicht mehr wahr sein soll. Aber unsere heutigen jungen Mädchen sind energisch und ziel bewusst. Die Tochter setzt ihren Willen durch, sie beweist den Eltern au Beispielen ans dem Bekanntenkreise, daß sie mit ihrem Begehr nicht allein steht, und Papa und Mama fügen sich seufzend und fangen an zu überlegen, welcher Beruf denn nun wohl in Betracht zu ziehen sei. Aber nicht wie bei dem Sohne legen sie sich die Frage nach Neigung und Anlagen vor. sondern der Berus wird ge- wählt, der am meisten „standesgemäß" ist. Da wird denn manches junge Wesen, das zwar einen klugen Kopf, einen klaren Verstand, aber absolut keine Veranlagung znm Unterrichten hat. eine Lehrerin; denn der Beruf einer solchen scheint den Eltern der einzige, der sich allenfalls mit ihrer gesellschaftlichen Stellung vereinigen läßt, und das junge Mädchen geht auf alles ein. um nur überhaupt zu der sehnlich gewünschten Selbständigkeit zu gelangen. Zu spät erkennt sie. daß die Wahl eine falsche war. sie fühlt sich unbefriedigt von ihrer Tätigkeit, weil sic ^ deutlich empfindet, daß sie nichts rechtes darin leisten kann, während sie sich vielleicht in einer kaufmännischen Stellung hervorgetan hätte. In einem anderen Falle hat ein junges Mädchen „eine geschickte Hand", schon als Kind hat sie die niedlichsten Pnppenkleider geschneidert, die winzigen Hüte aufs chikste garniert. Was ihr Auge sieht, fertigen ihre zierlichen Finger, sie zeichnet auch ganz nett und nicht ohne einiges Talent, und da sie wenig Lust znm Lernen hat. so wird sie im Malen ansgebildet, aber sie kommt trotz alles kostspieligen Unterrichts nie über den Dilettantismus hinaus, sie hat weder nennenswerte künstlerische noch pekuniäre Erfolge, und ibr erwählter Berns bringt ihr daher keine Befriedigung, während sie als Putzmacherin oder Schneiderin reich und berühmt, eine Größe in ihrem Fach hätte werden können. Wenn doch alle Eltern von Töchtern endlich mit den veralteten Vorurteilen anfränmen. auch die Mädchen von klein ans zn wirtschaftlicher Selbständigkeit bestimmen und bei der Wabl ibres 'Berufs bedenke» wollen, daß ein jeder durch den Ausübenden geadelt werden kann, wenn dieser Anlagen und Neigung dafür mitbringt und seine Ausbildung eine gründliche war; denn auch daran fehlt es oft bei den jungen Mädchen, wäbrend für die Lehr- oder Studienjahre der Löhne, welcher Art sie auch sein mögen, selbstverständlich die nötigen Mittel aufgebracht werden. In 10-1.7 Johren wird dies voraussichtlich alles anders werden, nnterbalten sich doch Misere heutigen weibliche» A-B-E-Schützen schon gerade wie die kleinen Knaben darüber, was sie „werden wollen"; aber es wäre zn wünschen, daß es könnte beule schon sein. K. Bernhard.