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Nr. — LV. Jahrga«» Mittwoch den Lv. Juli IVIL 4- »ilcheittt täglich nach«, mit ilurnahme der Sonn- und Festtage. ttukgade 4 mit .Die Zeit in Wort und Bild' vierteljährlich 2,1« ^ In Dresden durch Boten 2,4« ^ In ganz Deutschland ftei HauS 2 S2 in Oesterreich 4,4» IO illudgabr N ohne illustrierte Beilage vierteljährlich I.dt« In Dresden durch Boten 2,1V In ganz Deutschland sret tzaii« 2,22 in Oesterreich 4,«7 X. - ikinzcl Nr, I« 4, Anabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht und Freiheit Inserate werden die ^gespaltene Petitzeile oder deren Raun, mit lü >>, Reklamen mit 5« ^ die Heile berechnet, bei Wiede,Hutungen entsprechenden Rabatt, Vuchdrnikeret. Medaillon »iid BeschnfiSftelle, Dresden, Pillnitzer Strafte 4». — Fernsprecher I!1U« AurRückgabe nnverlangt. SchrtftstUikeketneVerbindltchketl RedaklionS-Sprechstunde: II bis 12 Uhr, Lrkrisckencl unä labenill Dredo-Lis-Drops V, l>iunä IS p«. üerlinx L kvckstroli, vresäea. dlieäsrlsgen in allen Ltscltteilen. Schuldentilgung — Ausgleichssonds. Verschiedene falsche Gerüchte wurden bezüglich der Finanzlage des Reiches in Umlauf gesetzt. In Nr. 156 (14. Juli) suchten wir diesen Entstellungen entgegenzutreten und sie auf ihr richtiges Maß zurückzusühren. Nunmehr schickt uns Neichstagsabgeordneter M. Erzberger einen aus führlichen Artikel, den wir mit Rücksicht ans das fach männische Ansehen des Genannten veröffentlichen wollen. Der Herr Abgeordnete schreibt uns: Der ungemein günstige Abschluß des Jahres 1910 mit seinem Ueberschuß von 118 Millionen Mark hat eine ganze Reihe falscher Behauptungen hervortreten lassen. Anf- fallenderweise haben auch Neichstagsabgeordnete, die doch den Etat kennen sollten, hierzu ein erhebliches Stück bei- getragcn. So behauptet ein Abgeordneter, man habe 1910 schon 152 Millionen Mark getilgt und keinen Pfennig neue Schulden gemacht. Von anderer Seite kommt die Antwort, gar nichts ist getilgt worden, man hat sogar noch gewaltige neue Schulden gemacht. Ein Dritter beschränkt die Fort setzung der Pumpwirtschaft auf 31 Millionei' Mark ein. Heine einzige dieser Behauptungen ist zutreffend und man muß verwundert fragen, daß selbst über feststehende Tat sachen so widersprechende Behauptungen ausgestellt werden können, Wie steht denn die Sache in Wirklichkeit? Ter ge nehmigte Etat für 1910 enthält noch einen Anleihebetrag von 148 Millionen Mark. An dieser Summe war aber schon in Abzug gebracht der für Tilgung der Neichsschulden ausgeworfene Betrag von 32 Millionen Mark. Würde der Etat glatt durchgeführt worden sein, so hätte das Reich 148 Millionen Mark neuer Anleihen gemacht und nichts abbezahlt. Nun ist aber nicht die ganze Summe von 148 Millionen Mark als eine verwerfliche Pumpwirtschait anzusehen, sondern darunter befinde» sich 32,5 Millionen Mark für Neichspost und Reichs-Eisenbahnen, welclje ihre Verzinsung und Amortisation anfbringen und daher auszu scheiden sind, also bleibt noch ein Nest von 115,5 Millionen Mark als Anleihe übrig, welcher für nichtwerbende Zwecke ausgegebcn werden sollte (Nord-Ostsee-,Hanal, Festungen, strategische Eisenbahnen, Schiffsbauten). Da aber der Etat für 1910 mit einem Ueberschuß von 118 Millionen Mark abschloß, so ist dieser Anleihebedarf glatt gedeckt, es bleibt sogar noch ein reiner Ueberschuß von 2,5 Millionen Mark übrig, den man für tatsächliche Schuldentilgung gutschreiben muß. So sieht in Wahrheit das Jahr 1910 kaufmännisch für sich betrachtet aus, es schließt ohne Schulden ab und hat für Heimzahlung alter Schulden noch 2,5 Millionen Mark übrig gelassen-, aber 152 Millionen Mark sind nicht getilgt worden, ebenso ist die Pnmpwirtsclxift nicht fortgesetzt wor den. Das Schlußresultat ist vielmehr ein über alles Er warten günstiges. Das laufende Jahr 1911 scheint sich ähnlich zu ent wickeln; der genehmigte Etat sieht noch eine Anleihe von 97 Millionen Mark vor, nachdem schon alle Ausgaben für Schuldentilgungen in Abzug gebracht worden sind. In diesen 97 Millionen Mark neuer Schulden stecken aber 36,3 Millionen Mark Ausgaben für werbende Anlagen (Wohnungen, Reichspost und Reichs-Eisenb.ihnen), so daß noch rund 60 Millionen Mark Zuschuß für Nord-Ostsee- Kanal, Festungen und Schiffsbauten enthalten sind. Die bisherige Entwicklung der Einnahmen für 1911 läßt hoffen, daß diese Summe durch Ueberschüsse gedeckt wird und dann steht 1911 ebenso glänzend da wie 1910. Für 1912 nun aber ist es Aufgabe des Voranschlages zum Etat, ohne einen Pfennig für nichtwerbende Anlagen auSzukommcn. 1913 muß dann die wirkliche Schnldenrückzahlung bringen und die Zukunft uns ans dieser Höhe halten. Beeinträchtigt nun diese Feststellung das Lob auf die Gesundung der Neichsfinanzen? Mit nichten. Man muß vielmehr zur richtigen Beurteilung der Gesamtlage aus das Jahr 1909 zurückgehen, wo man die Reform schuf. Am 7. Januar 1909 ist der Finanzkommissiou eine Denkschrift des Reichsschatzamtes unterbreitet worden, in weicher die Znkunftsbelastnng des Reiches durch neue Anleihen für die fünf Jahre 1909 bis 1913 auf 762 Millionen Mark be rechnet worden war und zioar nur durch Ausgaben die schon damals im Prinzip oder schon in den eisten Raten ge nehmigt waren. Diese Kostenberechnung ist seither um rund 40 Millionen Mark erhöht worden (Mehrausgabe für Festungen), so daß man mit 800 Millionen Mark neuer Schulden rechnen mußte, die von 1910 ab zu machen sind. Auf dieser Berechnung war mit die ganze Neichssiuanz- rcsorm aufgebaut. Von dieser bevorstehenden Schulden summe von 800 Millionen Mark gehen nur 135 Millionen Mark für werbende Zwecke ab, so daß nach dem Plane der Negierung noch 665 Millionen Mark neuer Schulden ge macht werden sollten. Ter Reichstag bat an diesem Vor schläge nichts geändert, er hat insbesondere nicht die Summe der neuen Steuern erhöht, um diese Schuldenlast nicht herabzumindern. Verteilt man die schon kontrahierte Schuldenlast gleichmäßig auf die Jahre 1910, 1911, 1912 und 1913, dann würden jährlich 160 Millionen Mark An leihe erforderlich gewesen sein. Daneben sollten von der ordentlichen Neichsschuld jährlich 45 Millionen Mark ge tilgt werden, so daß noch eine Vermehrung der Neichs schulden um durchschnittlich 115 Millionen Mark pro Jahr eintrcten sollte. Wenn man sich nun diese Berechnung vor Angen hält, und daneben die Tatsache, daß man schon 1910 nicht nur ohne neue Schulden auskam, sondern noch 2,5 Millionen Mark tatsächlich heimzahlen konnte, dann versteht man erst den großen Fortschritt in der Gesundung der Neichsfinanzen gegenüber dem Resormplane der Regierung. Es besteht heute somit begründete Aussicht, daß man die in Aussicht genommenen >665 Millionen Mark Schulden nicht aufzu nehmen braucht, sondern daß man schon im Finanz- guinquenat zur tatsächlichen Schuldcnverminderung kommt und das ist entscheidend. Schulden, die für werbende An lagen gemacht werden, brauchen uns nicht zu drücken und können hier ganz ausscheiden. Der über alle Erwartungen günstige Abschluß von 1910 legt aber noch eine andere Frage nahe, die zur Herbei führung einer gewissen Stabilität der Neichsfinanzen jetzt auch in Angriff genommen werden mutz. Unter dem Ueber schuß von 118 Millionen Mark befinden sich auch rund 82 Millionen Mark als vermehrter Ueberschuß aus Neichs post und Reichs-Eisenbahnen. Es dürfte sich empfehlen, solche Ueberschüsse künftig anders zu behandeln, sie nicht zur Schuldentilgung zu verwenden, sondern sie in einem unter der Verwaltung des Neichsjchatzamtes stehenden Ausgleichs fonds cmzusammeln, bis dieser die Höhe von 200 Millionen Mark erreicht hat. Dieser Ausgleichssonds soll dann dazu dienen, etwaige Fehlbeträge dieser Betriebe gegenüber dem Etat-Voranschlag zu decken, im übrigen die Mittel der Neichskasse zu verstärken. Man hätte dann eine Garantie, daß der Reinertrag dieser beide» Reichsunternehmungen absolut gesichert bleibt, und ein recht willkürlich schwankender Faktor wäre aus dem Etat entfernt. Zölle und Verbrauchsabgaben, sowie die Stempelalgaben sind noch genügend unsichere, der Konjunktur unterworfene Ein- nahmeguellen. Ter zu schaffende Ansgleichsfonds soll nicht in den betreffenden Verwaltungen geführt werden, wie es im preußischen Eisenbahnministerium geschieht, sondern im Reichsschatzamtc, das dann den Ausgleich zu vollziehen hat. Vielleicht nimmt man im Neichsschatzamte diesen Gedanken auf und bringt eine entsprechende Etatsvorschrift für 1912. Im Reichstage dürften sich hiergegen Bedenken kaum er heben, da man an guten Finanzen und Hilfsquellen überall ein politisches Interesse hat. Alles in allem, unsere Neichsfinanzen entwickeln sich weit besser, als der kühnste Optimist 1909 hätte annehmen können. ' . Politische Rundschau. Dresden, den 18 Juli 1911. — Die neue Maß- und GewichtSordouug für da« Deutsche Reich tritt am 1. April 1912 in Kraft. Nach dem neuen Gesetze ist die bei den Längenmaßen, den Flüssig. keitSmaßen, den Hohlmaßen für trockene Gegenstände, den Gewichten, den Wagen für eine größte zulässige Last bis ausschließlich 3000 Kilogramm sowie den Fässern kür Bier zwei Jabre; bei den Wagen für eine größte zulässige Last von 3000 Kilogramm und darüber und den Fässern für Wein und Obstwein drei Jahre. Die Frist beginnt mit dem Ablaufe desjenigen Kalenderjahres, in welchem die letzte Eichung vorgenommen worden ist. Um dem praktischen Bedürfnisse zu entsprechen, werden Gewichte zu 250 und 126 Gramm eingeführt. Als „eichpflichtiger" Verkehr gilt der Handelsverkehr auch dann, wenn er nicht in offenen Verkaufsstellen statifindet. (Konsumvereine). Es ist nicht nur die Anwendung, sondern auch die Bereithaltung unrichtiger Meß- und Wiegegeräte im eichpflichtigen Verkehr untersagt. Mit dem erwähnten Zeitpunkte tritt auch zu- meist eine Verstaatlichung der bisherigen Gemeinde-Eich ämter ein. Rrichstngspräsidrnt Graf v. Schwerin läßt aus drücklich erklären, daß er keine Veranlassung habe, sein Amt als Neichstagspräsident niederzulegen. DaS hat auch niemand erwartet, mit Ausnahme einiger liberaler über hitzter Sommer-Redakteure. Die tagende deutsche Strafrechtskoinmissio» hat be züglich der Strafen manche wichtige, allgemein inter essierende Neuerung beschlossen. So soll die vorläufige Ent Der soziale Grundzug in der Familie des Bischofs v. ketteler. (Von einem Schäler des verewigten Bischofs) „Wollen wir die Zeit erkennen, so müssen wir die soziale Frage zu ergründen suchen. Wer sie begreift, der erkennt die Gegenwart, wer sic nicht begreift, dem ist Gegenwart und Zukunft ein Rätsel" — mit diesen program- matisckien Worten leitete der nachmalige Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr v. Ketteler am ersten Advents sonntage, den 3. Dezember 1848, auf der Domkanzel in Mainz seine zweite Predigt ein. Hatte die erste den Agui- naten in seinem Lapidarstil die christliche Lehre vom Eigen tum entwickeln lassen, so prägte die zweite, gehalten im Tone des seraphischen Franziskus die Pflicht der Barm herzigkeit und opferfreudigen Nächstenliebe dem Gemüte ein. Oder glaubte man nicht die Flammensprache des Armen von Assisi zu spüren, wenn der Redner ausrnft: „Wie ist es möglich, daß uns noch der Ueberfluß schmeckt, während unsere Brüder am Notwendigen Mangel leiden? Wie ist es möglich, daß wir an Trink- und Tanzqelagen noch Freude finden, und daß uns das natürliche Herz nicht ber^/ und zerreißt, wenn wir der armen Kranken gedenken, Av' in der Ficberglut ihre Arme nach Labung ausstreckcn und niemand finden, der sie ihnen reicht? Wie ist es möglich, daß wir noch mit Freuden in den Straßen der großen Städte einhcrwandern, wo wir auf jedem Schritt und Tritt arme Kinder, die wie wir Menschen, Ebenbilder Gottes sind, antreffcn. die im tiefsten sittlichen und leiblichen Ver derben heranwachsen, in der Geburt, in der Jugend und im Alter Opfer der schmachvollsten Leidenscl>aft?" So spricht nur jemand, der aus der Fülle des Herzens schöpft, der mit dem Herrn sagen kann: Mich erbarmt des Volkes. Wenn schon im allgemeinen die Familien des rheinisch-westfälischen Adels viel herzlichen Wohltätigkcits- sinn beweisen und das, was die rote Presse Junkertum zu nennen beliebt, etwas Unbekanntes in jenen Kreisen ist, so ragte die Kettelersche Familie in dieser Hinsicht besonders hervor. Kleiderpntz und kostspielige Vergnügungen boten die Eltern, Friedrich v. Ketteler und Elementine v. Wenge Beck, ihren Kindern nicht. Wenn der Kaplan von Beckum oder der spätere Pfarrer von Hepsten der Armut und verschämten Not bei Gesunden und Kranken, bei Tag und Nacht gern nachging, so war dies ein Erbteil seiner Mutter, von der berichtet wird, daß sie meistens ohne Geld heimkchrte, wenn sie im Pfarrortc Füchtorf früh morgens die hl. Messe be sucht hatte. Fehlte im .Kleiderschranke unversehens ein Stück, so wußte man. daß die Mutter es heimlich an die Armen verschenkt hatte. „Kinder, ich begreife nicht," pflegte Frau v. Ketteler zu sagen, wie man soviel von seinen Dienstboten verlangen kann. Wir haben eine viel sorgfältigere Erziehung ge nossen als sie und haben doch unsere großen Fehler. Darum müssen wir Geduld mit ihnen haben." Ihr krankes Haus gesinde pflegte sie persönlich, wie die beste barmherzige Schwester. So konnte der nachmalige Bisclwl in voller Wahrheit sagen: Kranke pflegen habe ich von meiner Mutter gelernt. Seine Schwester Sophie, verheiratet mit Graf Ferdi nand v. Mcrvcldt, berichtete Ende 1841 dem damals in München studierenden Bruder Wilhelm, daß ihr Mann bei der Michaeliskapello in Lembeck ein Krankenhaus zu bauen begonnen habe. Begeistert schreibt dieser: „Nun zu eurem Spitälchcn, das mich ganz mit Freude erfüllt! Das nenne ich einen Baum für die Ewigkeit, ein wahrhaft adeliges Unternehmen, einen neuen Beweis, wie Ferdinand in der Tat so vielseitig, allen zum guten Beispiel, sein Geld zur Ehre Gottes verwendet. Das wird euren Sec len mit tausend und abertausend Seufzern von den Betten der Kranken aus gelohnt werden. Ich wünsche, daß dieses euer Beispiel viele zur Nachahmung aneifere, damit das Volk doch wieder ein mal kennen lerne, was christliche Aufopferung ist. Tic Idee davon ist ja vielfach den Menschen und selbst den Priestern entschwunden." Richard, sei» jüngerer Bruder, vertauschte die Husarenrittmeisteruniform mit dem demütigen Kapuziner habit und opferte seine Gesundheit dem strengen Lebe» »nd der Arbeit in den Volksmissionen, denen er in drei Jahren erlag. Wilderich, ein älterer Bruder, unbeschreiblich pflicht treu, voll Wohlwollen, wahrhaft christlich demütig, immer mit allen Interessen seiner Seele bei den großen Anliegen Gottes und der Menschen (Worte des Bischofs) übernahm nach dem Tode des ersten Präses des Bonifatiusvercins, Grafen Joseph Stolberg, die Geschäftsleitung und führte sie niit seltener Pflichttreue. Zwei seiner Töchter wurden barmherzige Schwestern. Von de» Kindern seiner Schwester Anna, vermählt mit Mathias Graf v. Galen, wählten drei den priesterlichen Be ruf und wirkten als wahrhaft apostolische Männer, der älteste als Pfarrer von Lembeck, gestorben 1864 an den Folgen des Typhus, den er als freiwilliger Feldgeistlicher im dänischen Kriege sich zugezogen hatte, der jüngste als resignierter Pfarrdechant von Dülmen und der mittlere als allgemein verehrter Weihbischof von Münster. Ter Bruder dieser Genannten war niemand anders als Graf Ferdinand v. Galen, der durch seinen namens des Zentrums gestellte» Antrag am Josephstage 1877 zur sozialen Gesetzgebung im deutschen Reichstage den An stoß gab.