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Nr. LS« So»rnaberid den 81. Oktober ivi»k. 7 achslscheNolksffitung U!!>.-W.U. d«r>o...^ und reich rr»a«d. « ^MMALsLUL I N«abka«Wks Tageblatt für Wahrheit, Recht «.Freiheit ,Hk » ^"""«e'r'retsnl'e nr.evbü. ^AWMMmer^O Pf^-- Re d ctt l wn S-Sp rechstuude: 11—IL U d r. Atelier tür künKlerizciie ^fiotogrspßje vi-ercteri. ^ra^er 5lr. 30. Hückrte gurrelcknungen uns d(e«1slllen. Anerkennung 5r. Lminenr «1er 8sr«t>n»>; fürrt-krrdlrctioir von ^r»g. ^ilialsn In sllsn LiaclttsIIsn P^U> §etie ' ./, vrescien, fernsprockvr 8r. 2641, 3932, 4820, 2466, 3878. 4783, 896. «/i ^ o ^ ^ wO ^ ^ c^l-e— Q- O -Z 04 Die Resolution des (Kvannelifchen Bundes. (Siehe N . 227. 232, 239 und 245 der..Sächsi'chen BottSzeiturg".) 5. Sittrnvrrfall und „Reformation" in der Kirche. Es ist nichts gefährlicher, als die Mißbräuche, die in einer Kirche eingerissen sind, schonend mit dem Mantel christlicher Liebe bedecken zu wollen, und die kirchliche Auto rität verwaltet ihr Amt schlecht, die nicht mit rascher Hand und scharfem Messer die Radikalkur vornimmt. Eine solche Methode stößt jedoch stets auf scharfen Widerstand. Nicht die einflußlosesten Personen sind meist von dem Uebel er- griffen; es wuchert gerade dort, wo man sich schon etwas herausnehmen darf. So war es beim Ausgange des Mit- telalters. Neben dem vielen Guten hatten sich auch bekla genswerte Mißbräuche cingeschlichen; eine Reform war dringend vonnöten, aber eine Reform, wie sie bereits im zwölften Jahrhundert segensreich eingesetzt und reiche Früchte gebracht hatte. Tenn nicht das Wesen der Kirche war zu verbessern, sondern reformbedürftig war die kirch liche Disziplin und die kirchliche Verwaltung. Im 15. Jahr hundert war ein Neformgeist eingezogen. Da trat der Au gustinermönch Dr. Martin Luther auf und leitete eine Be wegung in die Bahn, welche den Fortgang der Kirchenvcr- besserung zerstörte und zu einer Spaltung führte, zu deren Erinnerung das protestantische Deutschland am heuti gen Tage ein eigenes Fest — das sogenannte Reforma- t i o n 3 f e st — feiert. An diesem Tage wird von der Kanzel das Herz der j^irchenbesucher zur Dankbarkeit für diese Tat Luthers an geregt. Hierbei werden die Lichter in drastischer Weise durch das Anlegen tiefer Schatten hervorgehoben, man malt den Niedergang der katholischen Kirche mit schwarzen Farben, um die Wiedergeburt des sittlichen und religiösen Lebens durch Luther glänzen zu lassen. Ebenso sind die ReligionS- lchrbücher bestrebt, die damaligen Zustände in der Kirche als die traurigsten darzustellen. Wenn es an der Hand der geschichtlichen Wahrheit geschieht, so sind wir die letzten, die das beanstanden würden; es waren genug Uebelstände da, so daß man nicht mehr dazu zu dichten braucht. Man soll bei der Wahrheit bleiben. Die Ucbertreibungen und un wahren Darstellungen in dieser Beziehung geben uns gerade heute Veranlassung, dieses .Kapitel aus den evangelisch- lutherisck)en Religionsbüchern zuerst zu behandeln. Wir haben es hier weniger mit einzelnen Stellen auS den Büchern zu tun, als vielmehr mit einem ganz zusam menhängenden System, das überall zutage tritt. In Nr. 239 zitierten wir aus dem „Leitfaden für den evangelischen Religionsunterricht an höheren Lehranstalten" eine Stelle, welche von den „bejammernswerten Mißbräuchen und Irr- tümern der Kirche" spricht; alle bisherigen Reformations versuche wären am Papsttum gescheitert. Weder die Kirche mit ihren Reformkonzilien noch einzelne reformatorische Männer mit ihren mutigen Angriffen — hierzu zählt das Buch die ..Vorreformatoren" Petrus Waldus, John Wielif, Johannes Huß und Hieronymus Savonarola — hätten etwas Bleibendes erreicht. Und daran sei bloß das Papst tum schuld gelvesen. Denn es sei selbst von dem verderbten Zeitgeist erfaßt gewesen, so zum Beispiel Papst Alexan der VI., der einer der verworfensten Männer gewesen sei. Denn er sei der Mörder Savonarolas gewesen, habe sich mit Verrat, Mord und Unzucht befleckt. Aus diesem Papst macht man ein Ungeheuer, um da mit zu demonstrieren, das ganze Papsttum wäre verderbt gewesen. Aber Papst Alexander VI. ist nicht an der Hinrichtung Savonarolas schuld, denn dieser Schwär mer wurde von den Florentinern aus eigenem Antriebe festgenommen und von der florentinischen Justiz dem Feuer- tode überliefert. Wenn beim Unterricht das Charakterbild Alexanders entwickelt wird, dann sind wir überzeugt, daß auch die unsinnige Fabel von dem Morde an dem Türken prinzen Zizim, von der Vergiftung des Kardinals Orsini und von dem großen Vergiftungsbankett aufmarschiert, in dem der Papst sich selbst durch Verwechslung der Flaschen den Tod zugezogen haben soll. Auch wird noch hier und da des Papstes Bündnis mit dem Sultan Erwähnung getan, eben- so erzählt, er habe fünf uneheliche Kinder gehabt. Einen Beweis hat niemand hierfür erbracht, und Cäsar Borgia, der als sein Sohn gilt, wurde von seinen leiblichen Eltern als Kind anerkannt und dies Zeugnis von ihnen beschworen. Alexanders sittliche Verfehlungen fallen in die Zeit zurück, wo er noch nicht zum Papste gewählt worden war, also vor den 11. August 1492. Lucretia Borgia, geboren 1478, welche Poesie und Prosa als Buhlerin hinstcllt, war sittenrein. (Dergl. die Papstgeschichte von Dr. Gröne und jene von GregoroviuS.) Also selbst dieser eine Papst Alexander VI. wäre noch kein Beweis, daß das Papsttum von dem „der- derbten Zeitgeiste" erfaßt worden sei. Gerade in den Religionsbüchern soll man die moralische Verantwortlichkeit für frevelhafte Urteile stärken, statt sie ourch solche logische Fehler selbst zu begehen. Niemals ist es einem Katholiken beigekommen, die Päpste ausnahms los als tadellose Männer hinzustellen: manche hatten in ihrem Vorleben düstere Flecken und mögen auch bei Ver waltung ihres Amtes sich Mißgriffe nnd Aergernisse zu schulden kommen lassen. Aber in ihren amtlichen .Kund gebungen stehen die Päpste ohne Ausnahme als tadellose Zeugen des christlichen (Glaubens, als mutige Anwälte des christlichen Sittengesetzes gegen die Propheten des Um sturzes und der Irrlehre da. Warum zeichnen denn die Protestanten die Päpste und das Papsttum immer nur nach den gehässigen Berichten der Kirchenfeinde? Was würden sie denn sagen, wenn wir einmal das Charakterbild Luthers nach dem beurteilen würden, was seine zeitgenössischen (Gegner über ihn allgemein erzählt haben? So sei man auch gerecht den Päpsten gegenüber. Wenn das obige Religions lehrbuch von den dem Papst Alexander VI. angedichteten Eigenschaften: „Verrat, Mord, Unzucht" das weggestrichen hätte, was die p r o t e st a n t i s ch e n (Geschichts schreiber selb st als erlogen bezeichnen, so würde sich ein Charakter ergeben, der selb st einer katholischen oder protestantischen Fürsten- d y n a st i e zur Zierde gereichen würde! Den Päpsten wird weiters eine maßlose „Herrsch sucht" 1), „Habsucht", „schanilose Ausbeutung des Ablasses" nachgesagt, der höheren Geistlichkeit „Ueppigkeit", den PfarrklernS „Unwissenheit, Roheit nnd (Gemeinheit" 2). Und dann schließt Netoliczka: „Tie gewaltige Persönlich keit, deren Glaubensbegeisterung und Willenskraft die er forderliche Umgestaltung herbeizuführcn vermochte, trat mit Martin Luther in dis Geschichte ein." — Und als dieser „Reformator" am Abend seines Lebens sein Lebenswerk, die „Reformation" an Haupt und Gliedern, ansah, rief er verzweifelt aus: „Zuvor, wo man sollte unter des Papstes Verführungen und falschen Gottesdiensten gute Werte tun, da war jeder mann bereit und willig, jetzt hat dagegen alle Welt nichts anderes gelernt, denn nur schätzen, schinden und öffentlich rauben und stehlen durch Lügen, Trügen, Wuchern, Ueber- teuern. Uebersetzen, und jedermann mit seinem Nächsten handelt, als halte er ihn nicht für seinen Freund (viel- weniger für seinen Bruder in Christo), sondern als seinen mördlichen Feinde und nur allein gern alles wollte zu sich reißen und keinem anderen nichts gönnet. Das geht täglich und nimmt ohne Unterlaß überhand und ist der gemeinste Brauch und Sitte in allen Ständen, unter Fürsten, Adel. Bürger. Bauern, in allen Höfen, Städten, Dörfern, ja schier in alleli Häusern. Sage mir, welche Stadt ist so stark oder so fromm, die da jetzt möchte so viel zusammen- bringen, daß sie einen Schulmeister oder Pfarrherrn er nährte? Ja. wenn wir's nicht zuvor hätten aus unserer Vorfahren (der Katholiken!) milden Almosen und Stiftungen, so wäre de«- Bürger halben in Städten, des Adels und der Bauern auf dem Lande das Evangelium längst getilgt und würde nicht ein einziger Prediger gespeist oder getränkt." 3) So mußte es dann Martin Luther immerfort selbst be stätigen. daß es durch „sein Evangelium" in der .Kirche so weit kam, daß die „groben Laster, Saufen, Schwelgen nicht mehr für eine Schande gehalten" wurden, sondern „zu Tugenden geworden" sind, daß er „keinen Fürsten, keinen Grafen, keinen Edelmann, keinen Bürger noch Bauer mehr wußte, der nicht geizig ist"; „je länger man das Evan- gelinm predige, je tiefer ersaufen die Leute in Geiz, Hoffart und Pracht." 4) Besonders griff die Sittenlosigkeit furcht bar verheerend um sich. Wie Luther und seine Zeitgenossen darüber klagten, ist schauderhaft. „Unreinheit und Ehe bruch gehört zu den ganz gewöhnlichen Dingen;" „über den Ehebruch lacht man nur;" „Unkeuschheit ist an der Mode, Ehebruch an der Tagesordnung;" usw. 5) Besonders klagt Luther, daß sich „die Jugend durch Trunkenheit vor der Zeit um Gesundheit, Leib und Leben bringe". 6) Ins besondere liege die Erziehung gänzlich nieder. „Schon hält niemand mehr seine Kinder zur Erlernung der schönen, viel weniger der heiligen Wissenschaften an, sondern nur zu gewinnreichen Geschäften." 7) Die überhandnehmende Unwissenheit war erschrecklich. Die Anzahl der Studenten in Wittenberg, Rostock, Leipzig und Basel war in stetem Niedergange. In Heidelberg ') H. Schindler. »Bilder au« der Kirchengeschichte'. Dreß» den 7. S 4. Dr. Neiollczka. Kirchenge ch »te. Böttingen 1900. L. 37 ff. Da« Buch dient in Chemnitz al« Lehrbuch. ') Kirchenpoltille. Walch. Xl. LK21. «) Hau«s. Walch. XHI 1K7S. 1681. ') Luther bei De Wette V S18. «> I. o. XII 789 ') I. o. VIH 881S. ') «al». XIX. 1481. hatte man war schuld 1525 mehr Professoren als Studenten. Wer ...... daran? Die allgenieine Verwirrung, welche durch das Auftreten Luthers veranlaßt worden war. Dieser hatte die Universitäten mit dem Moloch verglichen, zu dessen Ebre die Eltern ihre Kinder verbrannten: er nannte sie eine Erfindung des Teufels zur Unterdrückung des Glaubens 8) ; er hatte geschrieben, man müsse die Universi täten zermalmen, denn „seit Beginn der Welt hatte es nichts Höllischeres nnd Teuflischeres auf Erden gegeben. Tie sogenannte sittliche „R eformatio n" an der (1) e ni c i n d e war also ins Gegenteil ausgeschlagen, sie war eher eine fortschreitende Korruption zu nennen. Und wie stand es mit der „Reformation" der Geistlichkeit, des Pfarrklerus? Nach der Kirchenge. schichte von Netoliczka war er unter dem Papsttume „un wissend, roh und gemein", wie sah er unter der „Refor- mation" aus? Wizel konnte sagen, daß „er viele kannte, welche vorher Handwerker waren und vor Hunger Prediger wurden"!«», und um Prediger der neuen Lehre zu sein, war es genug, daß man lesen konnte und ein Weib hatte. Die Prädikanten standen ans so niedriger Stufe, daß Luther klagte, es gebe nur gar w e n i g e P r c d i g e r, welche „die zelm Gebote, den Glauben, das Vaterunser recht und wohl verstehen und lernen können" 1l), sie können bloß auf „Papst, Mönch. Pfaffen schelten" 12); es „werden immer weniger fromme und treue Prediger und jedermann lebt nach seinen eigenen Lüsten". 13) Daher wurden auch die Prediger verachtet. Die Leut« sagten: „Wir können ja selbst zu Hause lesen", oder: „Der Geist wird es uns lehren: wozu die Priester?" Man wollte den Priestern keinen Unterhalt mehr geben. Luther meinte, das sollte doch sein, da man ja Kuh- und Schweinehirten ihren Lohn gebe: aber die Bauern belehrten ihn: „Wir können nicht sein ohne Viehhirt, aber sehr gut ohne Pastor." 11) „Ein armer Torfpfarrer ist jetzt der aller- verächtlichste Mensch, der da sein mag, also daß kein Bauer jetzt ist, welcher ihn nicht ganz für Kot und Tr... hält und mit Füßen tritt, wie denn leider jetzt vielen geschieht." 15) Recht bitter empfand es der Reformator, daß der „Satan den Dienern des Wortes den Lebensunterhalt entzieht, so daß sie. durch Mangel und Hunger gezwungen, den Kirchen dienst verlassen und so das arme Volk, des Wortes beraubt, zu völligen Bestien werden". 16) „Im Papsttum war man milde nnd barmherzig, gab mit beiden Händen, jetzt ist es jedermann schwer, die zwei oder drei Personen, die GotteS Wort predigen. Sakramente reichen. Kranke besuchen und trösten, die Jugend ehrlich und christlich unterweisen, in einer Stadt zu ernähren, Gut, das und doch nicht vom eigenen, vom Papsttum her übrig ge- sondern fremden blieben ist." 17) Schmerzlich klagte der Reformator über die Gering schätzung der neuen Lehre, über die Vernachlässigung de> Abendmahles, wo die Leute unter dem Papsttum zu Haufen hingelaufen sind. 181 Das konnte nicht Wunder nehmen, wenn die protestantischen Geistlichen so beschaffen waren, wie wir oben sahen. Die Visitationsbücher von jener Zeit berichten von Ortschaften in der Nähe von Wittenberg im Jahre 1533 und 1534: „Die Predigten werden durch laute Widersprüche oder durch laut ausgesprochene Unschicklich keiten gestört. In Globig ging während der Erklärung des Evangeliums der Bierkrug von einem zum anderen, nicht zu reden von dem unanständigen Betragen der jungen Burschen den Mädchen gegenüber, unter dem Gottesdienste selbst." 19) Schauderhafl ist, was Vurckhardt über diese* unsittliche Betragen in den Gotteshäusern in seiner „Ge schichte der sächsischen Kirchen- und Schulvisitation, Leipzig 1879", schreibt: es ist nicht möglich, so etwas öffentlich widerzugeben . . . Luther hat also bereits selbst den Vergleich zwischen der christlichen Kirche unter dem Papsttum und der „refor mierten" Kirche ohne Papsttum gezogen. Doch wollen wir das Bild noch etwas ergänzen. Die katholische Kirche hatte viel schlechte Priester, sie hatte auch unwürdige Päpste. Aber warum nennt man in den Schulbüchern bloß diese? Warum zitiert man nicht auch die würdigen Päpste deS 15. und 16. Jahrhunderts — so Martin V.. Eugen IV.. Nikolaus V. und Julius II.? Auch der Geist im Kleru« war keineswegs so schlecht, wie man ihn tendenziös schildert. Das Zeugnis des berühmten Humanisten Wimphe- ') Wal». XII 45 >») DöMnger. '(» R fnrmation I., I I2. 113. "1 «oSl d. P onb VI. 82^4 '*) Maibrsiu«, Lebrn Luiker« k >18. ") «luKeg de« I B Mos Wal» l 61k ", Tischreden. 8tut1g«,rt und Leimig 1896 I 893 "I «»«leg. de« 4V Ps. Wal». V. 67/ ") Au»k. d. Br. an die Galat Walch. VIII. 281« ") «trchenpoft. «al». XI. 17kn "1 »atech. Schriften. Walch. X. 271k. ") Dr verre». Luther « SC3 Wegen des Reformationstages erscheint dte nächste Nn««er erst Montag den 2. November nachmittags.