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Ein Mahnwort. Berlin, den 17. April 1904. Aus Abgeordnetenkreisen schreibt man uns: „Wohin soll dies Gerede führen?" So muß jedermann aus- rufen, wenn er die wiederaufgenommenen Reichstagsverhand- lungcn liest, und so seufzen jeden Abend ein großer Teil der in Berlin anwesenden Abgeordneten. Man hat vielfach geglaubt, daß nach Ostern die Etatberatung in einem flotteren Tempo vor sich gehen werde, und nun zeigt sich das Gegenteil. Die ganze erste Woche mußte der Reichstag dem Etat des Reichskanzlers widmen und was ist dabei eigentlich herausgekommen? Außer fünf dicken stenogr«phi- scheu Berichten nichts! Die Zeitungen klagen so oft über den schlechten Besuch der Reichstagssitzungen, nicht immer mit Recht! Gerade in den zwei ersten Tagen nach Ostern war das Haus sehr gut besetzt: aber manche Ab geordnete sind wieder abgereist. Sie sagten uns, wir sehen, daß das endlose Gerede wieder beginnt: was tun wir hier? Wir billigen dieses Verhalten nicht, aber wir finden es begreiflich! Da soll der einzelne Abgeordnete noch in Berlin sitzen, die Zeit versäumen und von seinem eigenen Geldbeutel leben? Zu Hause hat er seine Familie und sein Geschäft und beide leiden not unter der parla mentarischen Nichtstuerei in Berlin: dann reist er eben wieder heim, und so ist ein beschlußfähiges Haus nahezu eine Seltenheit geworden. Damit aber ist dem Redestrom jeder Damm weggenommen, Nun zeigt sich gerade beim Etat des Reichskanzlers, daß die großen Parteien sehr zurückhaltend sind. Obwohl das Zentrum am meisten angegriffen worden ist, haben nur die Abgeordneten Bachem und Spahn gesprochen und niemand wird sagen können, daß sie ausführlich geworden seien. Aber auch der Sozialdemokratie kann man diesmal keine Schuld zusprechen; auch von ihr sind nur zwei Redner (David und Bebel) aufgetreten, und wenn Bebel auch etwas lange geredet und gedonnert hat. so darf man doch nicht behaupten, daß diese Partei schuld sei an der Verzögerung der Arbeiten. Die kleinen Parteien sind es diesmal, die sich nicht mäßigen können; so bat allein z. B. die Reichs partei schon drei Redner ins Feld gesendet. Wohin sott dies führen? Daß der Reichstag vor Pfingsten nicht mehr als den Etat fertigstellen kann, ist soviel wie sicher; man rechnet auch schon in den parlamentarischen Kreisen mit dieser Eventualität. Ob nach Pfingsten Sitzungen stattfinden, ist noch eine unbeschlossene Sache; in parlamentarischen Kreisen ist keine große Lust da, im Juni sich nochmals zu ver sammeln. Eine Vertagung über den Sommer würde dadurch notwendig werden, da eine Reihe von Vorlagen sonst unter den Tisch fällt. Für manche würde es aber sehr schade sein; nur nennen hier nur die Kaufmannsgerichte, Ent schädigung unschuldig Verhafteter, das Servisklassengesetz nsw. Anderen weinen »vir allerdings gar keine Träne nach; hierzu gehören die beiden Börsengesetze, von denen das „Berl. Tageblatt" schreibt: „Die Vertagung der Börsengesetznovelle ist nach unseren Informationen beschlossene Sache. Auf Anregungen, wo nach der Entwurf bald ans die Tagesordnung des Reichs tages gesetzt werden möge, hat der Präsident des Reichs tags geantwortet, daß erst der Etat erledigt werden müsse. Bis zur völligen Beendigung derBehandlung des Etats dürften noch mindestens drei Wochen vergehen. Wenn es dann wirklich zu einer ersten Lesung des Entwurfes der Börsen- gesetznovelle kommen sollte, wird er vermutlich in dcrKoin- Der Evangelische Bund als Hüter der Wissenschaft Mission stecken bleiben. Fraglich ist aber sogar, ob es über haupt zur ersten Lesung kommen wird. Ein sehr großer Teil des Zentrums hat sich gegen jede Reform des Börsen gesetzes erklärt." Diese Nachricht ist ganz zutreffend, nur hat sich im letzten Satz ein Irrtum eingeschlichen; nicht nur „ein sehr großer Teil des Zentrums, sondern das gesamte Zentrum hat sich gegen jede Reform des Börsengesetzes erklärt, und wenn dieses den ominösen Vermerk erhält: „Durch Liegen lassen erledigt!" so bereitet es uns eine herzliche Genug tuung. Was dann mit den sozialpolitischen Resolutionen geschehen soll, steht noch dahin; es ist nur gut. daß sie als Initiativanträge noch bestehen und so zur Beratung ge langen können. Aber wir müssen wieder fragen: Wohin soll dies führen? Alle Freunde des Parlamentarismus müssen sich diese Frage vorlegen! Ein hervorragender Parlamentarier sagte uns dieser Tage: „Wir ersticken in unserer eigenen Arbeit!" Damit ist der Nagel ans den Kopf getroffen; denn so wie jetzt kann es nicht weiter gehen, der Parla mentarismus geht sonst zu Grunde! Ein Heilmittel nur gibt es in dieser Kalamität und dies hat die Regierung in Händen: es ist die Gewährung von Anwesenheits- geldern. Man gebe dein Reichstag ein Pauschale, das er nach der Zahl der Sitzung und der Anwesenden zu ver teilen hat und man wird sehen, wie rasch sich die Hallen füllen und wie prompt gearbeitet wird. Schon die Tat sache, daß die Sozialdemokratie nicht sehr erfreut ist durch die Gewährung von Auwesenheitsgeldern, sollte zu denken geben; diese machen die „kleinen Herrgötter" selbständiger und unabhängiger von Bebel! Warum zögert die Ne gierung? Sie trifft in erster Linie die Schuld an der parlamentarischen Notlage, an der sie ja auch in gewissem Sinne teilnimint. Wie lange sind die Staatssekretäre und ihre Räte an den Reichstag gebunden! Graf Posadowsky sitzt mit seinem Rate schon fast 2 Monate deS neuen Jahres im Reichstage! Deshalb liegt es im allseitigen Interesse, tunlichst bald Anwesenheitsgelder eiuzuführen! Reichstag. s. Berlin. 68. Sitzung am 16. April 1904. Der Reichstag hat heute endlich den Etat deö Reichskanzlers zu Ende beraten, sodas; am Montag nur noch der Antrag des Zentrums über die Snbmissionsfrage zur Debatte stchi. Heule setzte l)r. Bachem mit einer sehr eindrucksvollen Rede ein, indem er zuerst nachwieS, wie der Antrag Müller-Meiningen de» Einfluß des Reichstags schwäch». Dieser Antrag gestattet nämlich dem Bundesrate, die Zustimmung zu den Gesetzentwürfen des Reichstags spätestens am Tage vor dem Zusammentritt deö neugewähllen Reichstages zu geben. Wenn nun »nbcaucme Gesetzentwürfe am Schluffe der Legislaturperiode im Reichstage angenommen werden, dann kann der BnndeSral sie begnem unter den Tisch fallen lassen. l)r. Bachem gibt dann entgegen den einseitigen Darstellungen des Abg. Blumenthal eine objektive Schilderung des bekannten Falles. Rach dem dort geltenden Gesetz muß jeder Kult im Orte eine» eigenen Friedhof haben. DaS Berbvl, kirchliche Amtshandlungen vorzunehmen, ist eine rein kirchliche Sache, zu der der Staat den Bischof oder den Geistlichen nicht zwingen kann. Die Freiheit des Demokraten Blumenthal äußert sich in dem Ruf desselben nach dem Placet und anderen Mitteln aus der Rumpelkammer des Staats- lirchentums. Rur gegen die Katholiken macht man diesen Radau; wenn auf einem protestantischen Friedhof ein umgekehrter Fall ver kommt, schweigt alles. Tie Katholiken sind bereit, den Protestanten auf ihren'Friedhöfen einen entsprechenden Raum zu geben; auch in Metz wird es so kommen, wenn ^ die Regierung die im Wege stehenden Erlasse einmal aushcbt. Man lasse die tendenziöse Aus nützung fallen, und cs kommt absolut keine Störung deS konfessionellen Friedens vor. (lebhaftes Bravo!) Der konservative Abg. v. Oldenburg machte sodann einen rücksichtslosen Angriff auf den Reichskanzler, weil er nicht genügend für die Itandwirlschast tue. Er meinte: Es gebe ein starkes Lehne» lehrkorpsr der Iveroe, weil er in seinen antiultrcmwtttanen Kampfesreden Sachen Produziere, die mit dem wissenschaftlichen Ansehen eines deutschen Hochschullehrers unvereinbar seien. Ebenso soll^ dem Herrn Superintendenten Meher-Zwickan der iumorm (Mtwa verliehene Dvktvrtitel wieder aberkannt werden, da er in seiner Los von Rom Mache nichts weniger als eine doktorwürdige Wissenschaft bekunde. Noch verblüffender als diese Nachrichten ist die andere, daß der Evangelische Bund wider die „Wartburg" protestieren »volle, ebenfalls wegen ihres unwissenschaftlichen Drauflos- schreibens; nicht bloß, daß sie alte hnndertinal widerlegte Geschichtsmärchen anflische, dulde sie Mitarbeiter, welche den Protestantismus in der ullerschliininsten Weise bloß- stelle; babe sie doch jüngst die Sensationsnachricht gebracht, daß der „Jesnitismns" bereits mitten im Lager des Pro testantismus stehe. Das ist nun Tatsache, so unglaublich es klingt. In der !i. „Jesniten-Nnmmer" dieses Hetzorgans iNr. 12 vom 18. März 1!>0-t> beglückt ein Herr Gustav Mir die Welt mit der nagelneuen Entdeckung, daß die Machtlosigkeit des Protestantismus gegen die Jesuiten daher käme, weil der Jesnitismns „bereits mitten im protestantischen Lager stehe; ja ein großer Teil des protestantischen Volkes ihm schon rettungslos verfallen zu sein scheine". Es wäre jammerschade, wenn der „Beweis" für diese Behauptung nicht weiteren Kreisen zugänglich gemacht würde: „Wenn »vir sehen müssen, wie die Religion gewissen Richtungen deS Protestantismus lediglich als Mittel dient, ihre politischen Geschäfte damit zu mache»»: »venu so oft der Hauptzweck aller Religion anch bei nnS darin gefunden »vird, die Autorität der staatlichen Gewalten zu schützen und eine äußerlich kirchliche Korrektheit zu erzielen ; wenn immer »nieder alles, was sich Formeln und Dogmen nicht beugen will, als „Unglaube" abgetan und erbittert bekänipft »vird, ohne das leiseste Verständnis für wahre innerliche Herzensfrömmigkeit — so ist das doch eine durch das deutsche Volk nach den» Manne draußen, dessen Denkmal in Erz vor dem Reichstag steht, nach dem Fürsten Bismarck. Wenn Graf Büloiv von dessen Geiste Spuren ausweist, so ist es gut um das deutsche Vaterland! Singer (Soz.) trat dein Vorredner entgegen und meinte: Wenn je ein Reichskanzler in einseitiger Weise für die Landwirt schaft eingetreten ist, so tat es Graf Büloiv. Nur das nimmersatte, habgierige Agrariertum kann deshalb diesem noch Vorwürfe machen. Für den Antrag Müller-Meiningen stimmen wir, obwohl »vir manche Bedenken haben; namentlich erklären wir, daß die Annahme des Antrages in keiner Weise bedeuten soll, daß »vir mit der Aufhebung des 8 2 nicht einverstanden sind. Staatssekretär Graf Posadowökh: Die Gesetzgebung hat in den letzten Jahre» doch nicht gestockt: wir machen eher zuviel Gesetze als zu wenige. Wenn man nicht auf die Mehrheit im Reichstage hören soll, sondern auf die Volksstimmung, so hört der Parlamentarismus einfach auf. (Sehr richtig!) Dr. Müller-Meiningen (Vp.): Wir haben nicht den Antrag gestellt auö Mißfallen über Aushebung des Artikels 2; cs handelt sich nur um eine zufällige und äußerliche Verbindung; denn »vir sind alle (Rufe: Nicht alle!) für die Aushebung dieses Artikels. Schräder (Fr. Ver): Der Reichskanzler sucht mit dein Zentrum gut Freund zu sein und deshalb kommt er ihm entgegen. Nicht nur in orthodoxen, auch in liberalen Kreisen hält man die Aufhebung des Artikels 2 für ein Unglück. In katholischen Kreisen fordert man immer mehr. Tie Katholiken trennen sich absichtlich auf jedem Teil des Lebens von den Protestanten ab. Die Kirchen müssen sich einordnen in unser Staaisleben; die katholische Kirche muß sich dem Staate unlerordnen! Einen solchen unverdienten Angriff mit solch rücksichtsloser Schärfe habe ich im Reichstage noch nie gegen einen Reichskanzler gehört, wie cs heute der Abg. v. Oldenburg getan hat. Reichskanzler Graf Büloiv: Ich kann meine Politik nicht ans Dank oder Undank zurichlen, sondern nur auf die Interessen des ganzen Landes. Ohne meine beharrlichen Bemühungen würde der Zollrarif schon in den Vorverhandlungen stecken geblieben sein. Wenn mit diesem neue Handelsverträge zustande kommen, so ist dies eine neue Tat für die Landwirtschaft. So leicht gehen aber die Tinge nicht, daß der Reichskanzler mir aus den Knopf drücken darf und der gedeckte Tisch für die Landwirtschaft ist da. Eine Grundregel des Fürsten Bismarck war es, nicht durch Unmögliches das praktisch Erreichbare zu gefährden. (Lebhaftes Bravo!) Gröber (Zlr.): Wir können hier nur etwas erreichen, wenn andere Parteien mit uns stimmen: denn wir sind hier nur eine Minderheit! Wir fordern die volle Gleichberechtigung für die deutschen Katholiken in allen Teilen; »vir »vollen auch überall Mit arbeiten, auch in allen Rcichsämlern und Slaalsämtern! In Frankreich herrscht nur deshalb der Radikalismus, »veil die Katho liken sich nicht am öffentlichen Leben beteiligt haben! Wir »vollen für »ns volle Freiheit, aber geben sie ebenso auch allen anderen! (Lebhaftes Bravo!» Tamil schließt die Diskussion. Die Resolution Müller-Meiningen betreffend Endtermin der Zustimmung des BnuoeSrats zu den Beschlüssen des Reichstags wnd gegen die Stimme» des Zentrums angenommen. Näaffle Sitzung Montag l Uhr. Lubiniisionsantrag. Politische Rundschau. Dcntschla-ld. Der Kaiser fuhr am 1.V d. Mls. aus dem Sleipuer au der Küste von Snrakns entlang bis zu dein schön ge legeueu Hafen van Angnsla. Der Sleipuer wurde hier vvu Hunderten von Ruder und Segelbooten umringt, deren In fassen den .Kaiser wie überall mit begeisterter Shinpathie begrüßten. Der .Kaiser nahm von der Stadlvertrelnng ein Blumenarrangement entgegen und lehrte darauf nach Syra kns zurück. Das Wetter ist andauernd schön. Kiiiscr Wilhelm soll, wie wir initteilten, beim Empiange des Abtes Krug von Ri oute Eassino eine St. Benediltnsmedaille als Dekoration getragen haben. R'nnniehr versuchen es die ..Münch. Reuest. Nachr." ihrem Leserkreise die wahre Bedeutung des Ereignisses zum Be wußtsein zu bringen. Es werden ..Beispiele wunderbarer Wirkungen" vorgesührt, unter denen natürlich die plötzliche Konversion eines Freimaurers und eines Protestanten «!> die das Tragen der Medaille hervorgebracht haben soll' Vermalerialisiernng und Veräußerlichung der Religion, »nie sie der Jesnttisinns nicht schöner hat. Das über große Gewichtlegen ans ansialtliches Kirchentnin und äußerliche Kirchlichkeit, ans kirchliche Formeln und mechanische Frömmigkeitsübnng — das ist echt jesuitischer Geist in seiner unverfälschten Fern»: und dieser röinisch- jesnitische Sauerteig in der evangelischen Kirche selbst ist der beste 'Bundesgenosse der Jesuiten, So lange er noch bei uns sein Wesen treibt, kämpfen »vir gegen den Jesnitismns mit gebrochenen Waffen." Nach dieser genialen Entdeckung sollte inan meinen, Herr Gustav Mir würde Forderung erheben, den Jesnitismns innerhalb des Protestantismus durch Belebung des Protestantismus zu bekämpfen: statt dessen fällt Herr Mir ans der Rolle und rossest mit dein Säbel gegen die Jesuiten und gegen die Regierung, welche viel zu saum selig und lahm sei. Armer Protestantismus! Armes deutsches Reich! dein Leute, die sonst von der nnnbrrwindlichen Kraft des Pro testantismus lustig fabulieren, ein selches Arinntszengnis ansstellen. Man kann es daher den zielbewussten Kämpen deS Evangelischen 'Bundes nachsühb'n, daß sie solche 'Verteidiger von sich abschütteln »vollen im Namen einer wirkliche», ernsten Wissenschaft. Da für diese Proteste das Material zum Nachweis des »nwissenschafNicheii Arbeitens nicht mangelt, »nie es den Herrn bei Tenifles Lntherbnch passiert, so ist zu erhoffen, daß der Plan zur Tat »vird und sie sich zu einem energischen Proteste anfrassen! Die Anerkennung für dieses lebendige Gerechtigkeitsgefühl »vird nicht ans- bleil'e»; hoffentlich ist die diesbezügliche Mitteilung kein Aprilscherz. Das wäre zu schade.