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Nr. L80 — S. Jahrgang DienStag den V. August IVIO MlhfislheUolksffitung Erscheint täglich »ach«, mit «uSicahme der Eomi< und Festtnge. »«»-ab, L., Mit .Die Zeit in «ort und «>Id- dierteljährlich st IO In Dresden durch Boten !t,4U In gang Deutschlllnd sret Haus L,8id Ä. "Mi-LNAMSK-L- für Wahrheit, Recht und Freiheit Unabhängiges Tageblatt Inserat« werden die «gespaltene Prtitjeile oder deren Sim m mit IS S.ReName» mit Vit -i die Zeile berechnet, bei Wiederholungen entsprechende» Rabatt ^i'fs'iseksnc! uncj labelics lDcecio-^isbescski V« s^kunct 15 ^fenni^s. Gerling 8, siockstroh, Dresden. kilsrtsc-Igtzvn In ailsn Stsctttsllsn. :«>b Die Petttionen im Reichslage. Von Dr. Beizer, M. d. R u. d. A, Vorfitzender der Pettttonskomniisston. ^Entnommen der politischen Wochenzettung ,DaS Zentrum".- Während in allen Verfassungen der deutschen Einzel staaten (so in Preußen durch Artikel 32) das Petitionsrecht der Staatsbürger, Körperschaften Mid Vereinigungen aus drücklich gewährleistet ist, mangelt eine solche Betonung der deutschen Neichsverfnssung. Ta indes durch Artikel 23 der- selben dein Reichstage das Recht gegeben ist, an ihn gerich tete Petitionen dem Vundesrate resp. dem Reichskanzler zu überweisen, liegt auch schon hierin das Petitionsrecht der Neichsangehörigen begründet. Daß von diesem wichtigen politischen Rechte gerade dem Reichstage gegenüber sc! in in Anbetracht der gewaltigen Materiell, die nach Artikel ! der Neichsverfassung der Gesetzgebung und Veaussichtigung desselben unterliegen, eilt ganz außerordentlicher (Gebrauch Zemacht wird, dürfte allgemein bekannt sein — wie die Tau sende von Eingaben, die jährlich bei unserer Volksvertretung einlaufen, von dieser aber behandelt und erledigt werden, darüber dürfte eine kleine Auseinandersetzung für die wei tere Oeffentlichkeit nickst ohne Interesse sein, sie dürste auch vielen, die sich vertrauensvoll an den Reichstag wenden, einen Fingerzeig geben. Nach 8 20 der Geschäftsordnung ist für die Bearbeitung der eingehenden Petitionen die ständige aus 28 Mitgliedern bestehende Petitionskomniission eingesetzt, die in regelmäßig zwei mehrstündigen Sitzungen in der Wocl>e ihrer Aufgabe g-recht zu werden versucht. Petitionen, die mit einem Gegenstände in Verbindung stehen, der bereits einer Kom mission überlviesen ist (denken wir aus jüngster Zeit an das Kali-, das Wertznwachssteuergesetz), können letzterer durch Verfügung des Präsidenten direkt überwiesen werden: war die Petition aber bereits an die Petitionskomniission abge geben, so erfolgt die Ueberweisung nur auf deren Antrag (8 28 Absatz l der Gesckstiftsordnung). Von dieser Befug nis lvird regelmäßig Gebrauch gemacht und damit das Ar beitspensum verringert: zieht man aber andererseits in Be tracht, daß der Reichstag (iin Gegensätze zum Abgeordneten hauses die in 8 20 a. a. O. vorgesehenen „Fachkommissionen" für Handel und Gewerbe, für das Justizwcsen und für Fi nanzen und Zölle nicht gebildet hat, so bedarf es doch noch der ganzen Arbeitskraft der Konimission, wenn sie ihre Geschäfte erledigen will. An eine totale Aufarbeitung der Petitionen ist natur gemäß deshalb nicht zu denken, weil tagtäglich bis zu Ses sionsschluß Eingaben einlausen: — immerhin ist es der Kommission in den letzten Jahre,: doch geglückt, über den weitaus größten Teil der Petitionen eine Entscheidung her- bcizuführen. Wir geben hier die Zahlen auS den beiden letzten Ses- sionen die zugleich die Art und Weise der Erledigung illustrieren: >ks find in den Sessionen I 1907/S II 1029/10 I. Abschnitt überhaupt etngegangen . S26Ü 1687 Petitionen Hiervon wurden der Pet.-Kom. überwiesen 8669 719 , Hiervon wurden erledigt durch Ueberweisung an den Reichskanzler . . . . 1072 781 durch llebergang zur Tages- ordnung 290 3l77 durch frühere Beschlüsse . . 121 für ungeeignet zur Erörterung im Plenum wurden erklärt 1091 270f unerledigt blieben . . 392 367 Die PetttionSkommlsfion hat erstattet: schriftliche Berichte .... 206 <ki Nachträge dazu .... 10 , mündliche Berichte . . . . 5 F Zu der Aufstellung aus der Session 1M7/1909 bemer ken wir. daß die riesige Zahl der Petitionen und der Ab gaben an andere Kommissionen sich durch die Reichsfinanz- reforin erklärt, und wenn bei der Aufstellung für die lau fende Session die Zahl der bis jetzt unerledigten Eingaben groß erscheint, so darf demgegenüber bemerkt werden, daß unter den unerledigten Nummern eine große Zahl von Petitionen enthalten ist, die zurückgestellt wurden, weil sie Materien betreffen, über die im Herbste Gesetzentwürfe er wartet werden (so über die Gewerbeordnung und die kauf männische Sozialreform), die also dann zweckmäßig an die zu bildenden Spezialkommissionen abgegeben nvrde» könne». UebrigenS wird nach der gegebenen Aufstellung wohl auch fernerhin von der Bildung von Fachkommissionen abge sehen werden können, zumal deren Besetzung und Tätigkeit bei dem Bukett von Gesetzentwürfen, das dem Reichstage Vl-ßmo — > ? (steiler für künstlerische Photographie 0re5cjeri, si'raKei' 3tralZe 30. tiücbKe Ousreiclmcmgeri uns /Nesaiiieri. gnerlcermcmg 5r. kminenr ses Nsrsinsk kürst-brrbisclioi; von Prag. N jährlich von den verbündeten Negierungen überreickst zu werden Pflegt, und das in der Session 1W7/1W0 die Bil dung von annähernd 40 Kommissionen notwendig machte, erhebliche Schwierigkeiten bereiten dürste. Die Tätigkeit in der Petitionskomniission spielt sich folgendermaßen ab: Für jede Petition bestimmt der Vor sitzende Referenten und Korreferenten. Es ist Praxis, mit den Referaten Mitglieder zu betraue», die durch ihre Wahl kreise oder durch ihre Beschäftigung an den betreffenden Eingaben besonders interessiert sind — bei prinzipiellen Fragen werden die Referenten regelmäßig aus gegenüber- stehenden Parteien genommen —: ist zum Beispiel bei einer Eingabe um Erlaß einer Mühlenumsatzsteuer ein Deutsch- konservativer Referent, so wird der Korreferent aus d-n Reihen der Fortschrittlichen Volkspartei oder der Sozial demokratie genommen. Beide Referenten, der Korreferent zuerst, haben ein kurzes schriftliches Gutachten abzngeben, kommt dann die Petition in der Koinniission zur Verhand lung, so stattet der Referent mündlichen Bericht ab, a» den sich die Diskussion und die Beschlußfassung anschließt. Tie Beschlüsse der.Kommission können in zwei Gruppen zerlegt werden — in solche, die ohne Berichte im Plenum ans Grund gedrängter Uebersichten und unter Angabe kurzer Entscheidungsgründe erledigt werden sollen, und in solche, über die (schriftliche oder mündliche) Berichte an das Plenum (gemäß 8 28 Absatz 3 und 1 der Geschäftsordnung) zu er statten sind. Wenden wir uns zur ersten Gruppe, bei der der Tenor der Entscheidung regelmäßig lautet: „ungeeignet zur Er örterung im Plenum." Die Begründung zu diesem Votum ist die verschieden artigste: zur Orientierung, besonders für Petenten selbst, wolle» wir die gebräuchlichsten hier anführen: „weil der Reichstag nicht zuständig ist" — so, wenn es sich um eine Landessache, wie um Dienstansprüche eiuzel- staatlicher Beamten handelt, „weil der Jnstanzenzug nicht erschöpft ist" — solange Petent im ordentlichen Verfahren zu seinem Rechte kommen kann, ist die Einwirkung des Reichstages ausgeschlossen, „weil neiies Beweismaterial nicht beigebrnckst ist" seit der Entscheidung über eine vorhergegangene Petition gleichen Inhaltes, „weil der Reichstag nicht in der Lage ist, Unterstützun gen zu gewähren" — hierfür sind der allerhöchste Disposi tion? oder die vielfache» Fonds in den einzelnen Verwal tungen da, dagegen der Reichstag wohl in der Lage, aus besonderen Billigkeitsgründen die Gewährung einer Unter stützung-bei dem Herrn Reichskanzler zu empfehlen, „weil die Petition genügendes Material zur Aende- rung oder Erweiterung der Gesetzgebung nicht bietet" — der Reichstag kan» bei einem solchen schwerwiegenden Ver langen beanspruchen, daß dasselbe wenigstens einigermaßen motiviert ist, „weil es nicht »»gezeigt ist, i» die Aenderung eines erst vor kurzer Zeit erlassenen Gesetzes einzutreten" — derselbe Reichstag wird nur in den allerseltensten Fällen sich hierzu bereit finden. Sehr häufig muß die Entscheidung auch lauten: „ungeeignet zur Erörterung im Plenum, weil eine Nechtsverweigernng im Sinne des Artikels 77 der Reichs- Verfassung (der den Bundesstaaten das Recht gibt, im Falle einer Jnstizverweigerung und wenn ausreichende Hilfe auf gesetzlichem Wege nicht erlangt werde» kann, die ge richtliche Hilfe bei der Bundesregierung, die zu der Be schwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken) nicht vorliegt." Wie viele seitenlange Elaborate werden durch diese Ent scheidung in die Archive des Reichstages versenkt, wie viele letzte.Hoffnungen werden gerade mit dieser Begründung zu Grabe getragen! Und doch, gerade hierbei wird kaum eine falsche Entscheidung des Reichstages Vorkommen — denn wenn der Petent die ausschlaggebenden Zeugenaussagen als falsch hinstellt, die Richter für befangen erklärt, das Urteil als im Widerspruche mit den Gesetzen stehend bekritelt, so kann da vielleicht in der Tat eine unrichtige Entscheidung vorliegen (gegen die es aber unter Umständen die Wieder aufnahme des Verfahrens gibt) — ein Fchlsprnch ist aber keine Nechtsverweigcrung im Sinne des Artikels 77, der gegenüber allein dem Reichstage ein Einfluß eingeräunit ist! Als ungeeignet zur Erörterung im Plenum erklärt die Kommission natürlich auch die zahlrcickxm, immer wieder- kehrenden Petitionen von Querulanten und Geistesgestörten, die vielfach „ohne Angabe von Gründen" ablehnend beschie- de» tverden. aber auch darnach wiederholt werden, bis sie schließlich nach einer neueren Praxis für die laufende Ses- sion von dem Vorsitzenden direkt zu den Akten gcschrie- bcn werden. , , , (Schluß folgt.) Muster Weltkongreß für freies Christentum und religiösen Fortschritt. Opo. Berlin, den 6. August 1310. Wege» der Kürze der Zeit war es nickst möglich, die am Freitagabend in der Begrüßungsversammlung gehaltene Rede des Präsidenten Neichstagsabgeordneten Schräder so zu würdigen, wie es wünschenswert gewesen wäre. Wir tragen daher aus dieser Rede noch einige ck-arakteristische Stellen nach. Frankreich, so führte der Redner im Verlaufe seiner Rede weiter ans, habe sich mit großer Energie von den Fesseln der Hierarchie befreit, aber Ruhe und Friede sei deshalb noch nicht in diesen, Lande eingekchrt. Das auf dem Kongresse nicht vertretene Spanien stehe am Beginn dieses Kampfes, den Frankreich bereits durchgeführt hak. Italien sei offiziell frei, im Volke herrsäze aber nach wie vor religiöse Unfreiheit. In Rußland und auch bei uns in Deutschland sei man von den, Ideal religiöser Freiheit noch sehr weit entfernt. Die eigentlichen Verhandlungen nahmen am Sonn abend früh 8'/. Uhr ihren Anfang mit einen, Vorträge des Professors Dr. Adolf H a r n a ck - Berlin über: „Das doppelte Evangelium im Neuen Testamente." Tie Zahl der Teilnehmer, die sich zur Anhörung dieses Vortrages in einem der Säle der Berliner Universität drängten und schoben, ist mit löOO nicht zu niedrig gegriffen. Es mögen eher mehr als weniger gewesen sein. Tie Damenwelt war auch hier, wie am Begrüßungsabende, außerordentlich stark ix-rtreten. Harnack stellte, von der inaniiigfaclsen Verwendung des Wortes „evangelisch" ausgehend, einen Widerspruch im Ge brauche des Wortes „Evangelium" fest. Es bedeute, sagte er, bald die Verkündigung von Jesus Christus, de», Gottes sohn, und bald die Verkündigung Jesu Christ selbst. Die- ses doppelte Evangelium finde sich bereits im Neuen Testa mente. Hier bedeute es einmal: „Das Reich Gottes ist nahe," da»» zweitens: „Nur durch den Glauben an den Ge- kreuzigte» und Auferstandenen sind die ReichSgüter z» ge winnen." Wie ist das zweite Evangelium eigentlich entstan den? Wie verhält es sich zum ersten? Es stamme nicht erst von Paulus. Er nennt cs selbst überliefertes Gut. Die ersten Kapitel der Apostelgeschichte bestätigte» dies. Schon die ersten Jünger hätte» den Sühnetod Jesu verkündet. Aber Paulus habe auch das „erste" Evangelium, er habe als höchste Idee die des Reiches GotteS: der Tod und die Auf erstehung Jes» sei bei ihm (Paulus) nur ei», freilich das abschließende, Glied in der Verwirklichung des Heilsratcs Gottes. So komme» sich, fuhr der Redner fort, erstes und zweites Evangelium sehr nahe. Wo sind nun die Wurzeln des zweiten? Aus vier Voraussetzungen leitet Harnack sie her: l. Jesus selbst hat seine Person und sein Wirken mit der Sündenvergebung in Verbindung gesetzt, zum mindesteir den Anschluß an feine Person, die Jüngerschaft, gefordert. 2. Die Frage nach dem leidenden Messias war damals im Judentume vorhanden und die Vorstellung eines leidenden Messias Nnirde nicht negiert. Auch die Prophetie (Jes. 03) führte auf ihn. 3. Paulus mußte bei seiner Art, alles auf große Gegensätze zu bringe», Nachweisen, daß Jesus durch seinen Tod nicht nur die Forderungen des Gesetzes erfüllt, sonder» gerade durch den Tod das Sündenfleisch überwun den und abgetan und als Auferstandcner die Neuschöpfung der Menschheit im Geiste bewirkt habe. 4. Der Predigt des Paulus habe der weitverbreitete Mhthus vom sterbenden »nd anferstehenden Gott den günstigen Boden geschaffen. So konnte das zweite Evangelium zur Verkündigung der Kirche werden und scheinbar oft das erste verdrängen (in der Dogmatik). Immer fließe», sagt er, beide Ströme nebeneinander. I» der Gegenwart, die de», ersten, »nsthen- und wunderfreien, geneigter sein müßte, als dem zweite», stehe nun gerade das erste im heißen .Kampfe, weil seine Voraussetzungen vielfach geleugnet tverden: Der einige Wert der Menschenseele, der lebendige Gott und daü Sittliche als Lebensprinzip. Das zweite dagegen habe günstigere Zeit: nicht nur die „modernposiliven" Theologe» verteidige» es: auch Philosophen ans der Schule Hegels und .Hartmanns, diese freilich nur unter Eliminierung der Person Jesu. Ihre Unterstützung sei abznlehncn. Ebenso die Zwei-Natnren- lehre. Wenn aber auch unbedingt daran festgehalten werden muß, daß Jesus ein Mensch war, so stehe doch fest, daß Gott eben diesen Jesus zum Herrn und Christ für die Mensch heit gemacht hat, und daß der Glaube an ihn von jeher Got- teskinder geschaffen habe und noch schasse. So sei, schloß der Redner, das „doppelte" Evangelium heute noch so notwendig wie früher. Das erste enthalte die Wahrheit, das zweite den Weg, und beide zusammen bringen das Leben. Die Ausführungen des Redners erntete» reichen Beifall. Ter Andrang von Rednern aus aller Herren Länder, die auf dem Kongresse sprechen wollen, ist ein derart großer, daß man z» dem Mittel der Parallelversainnilnngen greifen mußte, »», jeden z» Worte kommen zu lassen. So waren beispielsweise auf Sonnabend abend vier Versammlungen z» gleicher Zeit angesetzt. Jede dieser Versammlungen be- handelte eine besondere Frage. Wenden wir uns zunächst der Haliptvcrsaminlung zu. die sich mit der Frage „Die Re- ligion und der Sozialismus" zu befassen hatte. Wir bit- ten unsere Leser, über den Bericlst nicht aclstlos zur TagcS-