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Nmnmer 1» Sächsische Dolkszeilung 1» -uni IS29 Äugenberg erhält -iktatorische Befugnisse Berlin, 16. Juni Der Vorstand der Deutschnationalen Volkspartei trat gestern »ormittag im Reichstag zu einer Sitzung zusammen, deren Er- gebnis bedeutsame Folgerungen für die weitere Entwicklung der Partei haben kann, Es ist bekannt, daß Hugenberg, seit «r den Parteivorsitz innehat, bestrebt ist, diese Machtposition >u erweitern und sie vor allem auch in der Reichstags fraktion zu größerer Auswirkung zu bringen. Die seiner zeit bei der Wahl Hugenbergs vollzogene Trennung zwischen Partei- und Fraktionsvorsitz behagt ihm nicht. Er ist seit dieser Zeit bemüht, die Befugnisse des Parteivorsitzenden auch gegen über der Reichstagsfraktion derart auszudehnen und sestzulegen, daß er bei etwaigen Meinungsverschiedenheiten di« letzte Entscheidung zu treffen hat. Die Reichstagsfraktion der Deutschnationalen Volkspartet hat sich vor einigen Wochen be reits mit dieser Frage befaßt und mit geringer Stimmenmehr heit gegen die Pläne Hugenbergs Stellung genommen. Nun hat sich auch der deutschnationale Parteivorstand in seiner gestri. gen Sitzung dieser „Anregungen" angenommen, die in erster Linie von dem Abgeordneten von Winterfeld vertreten wurden. Nach eingehender Aussprache wurde mit allen Stimmen gegen den Abgeordneten Hartwig ein Antrag angenommen, der den Machtbestrebungen Hugenbergs in weitestem Umfange entgegenkommt. Der Antrag hat folgenden Wortlaut: „Der Parteivorstand ist einmütig der Auffassung, das, e» das Recht und die Pflicht des Parteivorstandes und seines Vorsitzenden ist, die Richtlinien der Politik der Deutsch- nationalen Volkspartei entscheidend sestzulegen. Dazu gehört insbesondere die Entscheidung über di« Frage einer Beteili gung an der Regierung." Wenn es in diesem Beschluß als Pflicht des Parteivor standes und des Parteivorsitzenden bezeichnet wird, „die Richt linien der Politik der Dcutschnationalen Bolkspartei entscheidend sestzulegen" und insbesondere über die hochpolitische Frage einer Regierungsbeteiligung zu bestimmen, so wird man sich darüber klar sein müssen, daß hier weniger an den Vorstand, als an den Vorsitzenden, d. h. an Herrn Hugenberg, gedacht tst. Es ist gewiß auch bei anderen Parteien üblich, daß die Fraktionen vor großen politischen Entscheidungen auch die Meinung des Parteivorstandes zu Rate ziehen. Um ein solches verständnisvolles Zusammenarbeiten herbeizuführen, bedarf es weder besonderer Anträge noch besonderer Beschlüsse. Für das weitreichende Machtstreben Hugenbergs ist es jedoch durchaus bezeichnend, daß er sich in dieser Form und im Gegensatz zu gewichtigen Meinungen in der Partei das Recht zur letzten und obersten Ent scheidung parteiamtlich schaffen und garan tieren läßt. Das bestätigt mit aller Deutlchikeit den Willen, seine Herrschaft in der Partei zu einer allumfassenden Diktatur auszubauen, läßt aber zugleich erkennen, daß Hugen berg ohne eine solche garantierte Machtstellung zu einer einheitlichen und reibungslosen Führung der Partei gar nicht in der Lage ist. Es ist kein Zufall, daß der deutschnationale Parteivorstand zugleich mit diesem bemerkenswerten Beschluß seine groß« »Offensive gegen den Pariser Tributplan" «röffnet hat. Wir haben vollstes Verständnis dafür, daß die Pariser Vereinbarungen deutscherseits mit größter Sorge und ernstem Verantwortungsbewußtsein geprüft werden. Di« Deutschnationalen verkennen jedoch die Aufgabe, die ihnen als der führenden Oppositionspartei in schwerer Stunde zukommt, wenn sie sich mit Eifer bemühen, in dieser Frage innen politische Fronten auszurichten und ihre ab lehnende Haltung als die „Haltung der vaterländi sche« Bewegung" hinzustellen. Aus gewichtigen Gründen möchten wir uns mit dieser Bemerkung zu dem Ton der deutschnationalen Ossensive be gnügen, di« im übrigen heute bereits ein« Reihe von parla mentarischen Maßnahmen ins Auge saßt. So wird u. a. in der Entschließung bereits angesagt, daß die Deutschnationalen auf Grund des Artikels 72 der Reichsverfassung im Reichstag den Antrag stellen werden, die Verkündung de» notwendigen Genehm igungsgesetzes aus 2 Mo nate ansznsetzen. (Diesem Antrag muß bekanntlich statt- gegeben werden, wenn ein Drittel der anwesenden Mitglieder des Reichstages es verlangt. Gesetze, die Reichstag und Reichs- rat für dringlich erklären, kann jedoch der Reichspräsident un geachtet dieses Verlangens verkünden.) Ferner ist nach der Entschließung beabsichtigt, auf Grund dieses Vorgehens nach Artikel 73, Absatz 2, ein Volksbegehren über das Genchmi- gungsgesetz, oder, falls dies nicht möglich sein sollte, ein an deres Volksbegehren einzubringen, „das den Widerruf der Kriegsschuldlüge gesetzlich vorschreibt, der erpreßten Grundlage alle Zwangsdiktate und uns abgenötigten Verträge". Die Deutschnationalen empfinden begreiflicherweise ange sichts dieser Offensive das Bedürfnis, die Tatsache zu bereini gen, daß sie seinerzeit zu 50 Prozent für den Damesplan ge stimmt haben. Denn der Parteivorstand laßt noch erklären, daß die ehemaligen Befürworter und Gegner des Dawesplanes innerhalb der Partei sich in voller Einigung zum Kampfe gegen dag Pariser Vcrhandlungsergcbnis zusammengesunde« hätten. Der jahrelange Widerstreit dieser beiden Richtungen habe sich gelöst, und es bestünde Einigung über Richtung, Ziel und Weg. Abschluß -er Rakslagung Direkte -eutsch-potnische Verhandlungen in -er Liquidationsfrage Grundsätzliche Einigung clc. Madrid, 15. Juni. In seinem letzten Verhandlungstag hatte der Völkerbunds rat nocheine harte Nuß zu knacken: die gestern kurz skizzierte Liquidationsfrage. In dem größten Teil der vergangenen Nacht mar man unter Anspannung aller Kräfte bemüht gewesen, die erlösende Einigungsformel zu finden. Das Ergebnis der so langwierigen Einigungs bemühungen ist folgendes: Deutschland und Polen werden unter Führung des Natspräsidenten Adatschi bzw. eines im allseitigen Einvernehmen gestellten neutralen Vor sitzenden bis zur nächsten Tagung im September direkte Verhandlungen über die strittigen Fragen führen. Deutscherseits wurde Bedeutsames erreicht. So besteht Einigung darüber, daß die Polen in Zukunft nicht mehr einseitig entschei den können, ob ein deutscher Minderheitsangehörigcr die pol nische Staatsangehörigkeit besitzt oder nicht. Die Polen haben sich ferner offiziell verpflichtet, die bis zum heutigen Tage vor genommenen Liquidationen bei denjenigen rückgängig zu machen, bei denen festgestellt wird, daß ihnen die polnische Staatsangehörigkeit zu Unrecht abgesprochen worden ist. Wenn die Rückerstattung des liquidierten Eigentums in nstur, nicht mehr möglich ist, soll an ihre Stelle eine billige Eeld- entschädigung treten, über welche die Polen aber ebenfalls nicht einseitig befinden können. Der Bericht, den Adatschi in diesem Sinne vorlegte, wurde vom Rat einstimmig angenommen. Ob sich die Hoffnungen, die an die gefun dene Lösung geknüpft werden, erfüllen, bleibt dahingestellt. Wenn sie unbefriedigend verlaufen, wird Deutschland an den ständigen Gerichtshof im Haag appellieren. Stresemann nahm bet Erklärung seiner Zustimmung zu dem Bericht Veranlassung, in einer im Ton sehr konzilianten, in der Sache sehr nachdrücklichen Rede aus dt« gestrigen Ausführungen Zaleskis über di« Oppelner Zwischenfälle zurückzukommen. Er hielt dem Ver treter Polens vor, daß die amtlichen deutschen Stellen seinerzeit alles nur mögliche getan haben, um ihr Bedauern Uber die Oppelner Zwischenfälle zum Ausdruck zu bringe» und die Schuldigen einer gerechten Bestrafung zuzuführen. Was kann man mehr von einem Staate verlangen? Durch den hemmungslosen propagandistischen Miß brauch, der von polnischer Seile bis in die letzten Tage hinein mit den bedauerlichen Zwischenfällen getrieben worden sei, sei an den polnischen Beziehungen ein weit größerer Schaden angerichtet worden als durch die Vorgänge selbst. Die Antwort Zaleskis war sehr kurz und von überraschender Versöhnlichkeit. So erhielt die Madrider Tagung wenigstens einen versönhilchen Ausklang. Der Reichskanzler an Prof. Dr. Kahl Berlin, 17. Juni. Der Reichskanzler hat an den Reichs- tagsabgeordnelen Geheimrat Prof. Dr. Kahl folgendes Glück wunschtelegramm gesandt: „Anläßlich der Feier Jahres 80. Geburtstages sende ich Ihnen, zugleich im Namen der Reichsregierung, die herzlichsten Glückwünsche. In nie versagender Arbeitsfreude haben Sie dem deutschen Batcrlande auf den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft, wie des politischen Lebens hervorragende Dienst« geleistet. Sie haben sich in den letzten Jahren als Vorsitzender des Rechtsausschusses des Reichstages und dann des Ausschusses für die Beratring des Reichsstrasaesetzbuchs durch Förderung der großen Gesetzeswerke aus den, Gebiete des Nechtswesens ein unvergleichliches Verdienst erworben. Es ist mir ein auf richtiges Bedürfnis. Ihnen be> diesem festlichen Anlaß für dies« großen Leistungen zu danken und der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß Sie in gleicher bewundernswerter Rüstigkeit un» Geistessrischo noch recht lange zum Nutzen unsere» Vaterland«« Ihr Lebensivcrk fortsetzen mögen." * Der Wiener Burgschauspiclcr Max Devrienk »f-. Wie ge meldet »und, ist der berühmte Wiener Burgschauspicler Mix Dcv- rient gestern in Ek»r in der «Schweiz gestorben. Max Devrient wurde an, 12. Dezember 1857 in Hannover geboren. Er entstammt einer Sstnruipielersamilie. Obwohl sein Vater klm znm Studium zwingen wollte, ging er zur Bülm« und kam 1878 a„ das Dresdner Hofchealer. Im Fahre 1881 wurde er an das Wiener Rtngtlreater verpflichtet. Nachdem dieses „och im selben Fahre nicbergebraunt trar, ging er zum Burgtbeater. wo er Hofsclauspteler und später Oberregisseur und zeitweise auch stellvertretender Direktor wurde. Wilhelm Kahl Zu seinem 80. Geburtstag Don A> Wegman«, M. B. Am 17. Juni vollendet der Reichstagsabgeordnete und Professor an der Universität Berlin, Wilhelm Kahl, sein 80. Lebensjahr. Nicht nur seine Freunde und Schüler, nicht nur die juristische und akademische Welt, auch der Reichstag und die führende politische Presse aller Richtungen in Deutsch land und Oesterreich nehmen lebhaften Anteil an diesem Er- eignis. Das iveist auf einen Mann von ungewöhnlicher Bedeu tung hin. Seine äußere Lebensaeschlchte ist kurz erzählt. Ge boren 1849 in Klein-Heubach (Unterfranken), nahm er aktiv am Kriege 1870/71 teil und wurde 1876 Privatdozent an der juristischen Fakultät der Universität München. 1897 »urde er Professor in Rostock, 1883 in Erlangen, 1888 in Bonn. Seit 1895 ist er als Professor des Staats-, Kirchen-, Verwaltungs- und Strafrechts an der Universität Berlin tätig. Seit langen Jahren ist er Mitglied des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses. 1919 wurde er von der Deutschen Volkspartei in die National versammlung gewühlt und gehört seitdem der deutsihen Volksvertretung an. Wenn auch Kahls Interessen für das Politische sich schon früh entwickelten, wird doch der weitaus größte Teil seines erstaunlich schaffensreichen Lebens ausgefüllt mit ge lehrten Forschungen und Arbeiten, zumal mit seiner aka demischen Lehrtätigkeit. Anfang» stand bei ihm das Kirchenrecht, insbesondere das Staatskirchenrecht im Vordergrund. Mehr und mehr aber entwickelt er sich zu einem führenden Strafrechtler der klassischen Schule, ohne indes sein Interesse für seine „erst« Lieb/' zu vermindern. Das beweist sein Artikel im ersten Band des „Handbuch« der Politik" über Staat und Kirche, der mit einer geradezu souveränen Beherrschung dieser ungewöhnlich schwierigen Materie geschrieben ist. Seinem Schaffensdrang, seinem Leuereifer aenüate iiltze« Licht dis ütü« Forschung undcht« Unterwerfung vsr alademrsMn Fugesto iist yorsaar. Wir finden ihn bald auf dem Deutschen Juri st en tage, wo er in weit stärkerem Maße die Möglichkeit hatte, ihn besonders interessierende Probleme der Gesetzgebung vor wärts zu treiben. Sein Ansehen wuchs von Tagung zu Tagung. Gründlichste Beherrschung des Stoffes und un bedingtes Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit ver bunden mit einer ungewöhnlichen rednerischen Begabung machten seine Referate und seine Diskussionsreden immer wieder zu Höhepunkten der Tagungen. Seitdem er im Jahre 1902 auf dem Juristentag in Berlin die Forderung nach einer grundlegenden Reform unseres Straf rechts aufstellte, ist diese Frage nicht mehr zur Ruhe ge kommen. Seit Jahr und Tag berät der Strafrechts ausschuß des Reichstags den neuen Strafgesetzentwurf, an dessen Vorarbeiten Kahl maßgebend beteiligt gewesen ist. Wie hoch man seine Verdienste um das Zustandekommen dieser Vorlage einschätzt, wie groß das Vertrauen zu seiner Sachkunde und zu seiner Objektivität, zu seiner ganzen Persönlichkeit ist, beweist die Tatsache, daß der Reichstag ihn einmütig zum Vorsitzenden der Kommission wählte, ob gleich nach dem sonst stets üblichen Turnus die Deutsche Volkspartei nicht an der Reihe war. Es würde über den Rahmen dieser kurzen Betrachtung hinausgehen, wollte man die Tätigkeit Kahls als Vorsitzender des Strafrechts- ausschussss näher würdigen. Das eine aber sei doch be merkt: Wenn die Verhandlungen des Strafrcchtsaus- schusses auf einer Höhe stehen, die sonst nicht immer im Reichstag zu finden ist, und wenn trotz schärfster welt anschaulicher Gegensätze Meinungsverschiedenheiten durch weg in vornehm-ruhiger Form ausgetragen werden, dann ist es in erster Linie das Verdienst des objektiven, ver- ehrungswllrdigen Vorsitzenden. And wenn irgend jemand in der Lage ist, das ungemein schwierige Eesetzgebungswerk zu einem positiven Abschluß zu bringen, dann der Geheim- rat Kahl, der in der Strafrechtsreform die Krönung seines ungemein reichen Schaffens sieht. Wir sind angesichts vor- «schiedener Beschlüsse d«s Ausschusses nicht ohne ernste Sorgen hinsichtlich eines glücklichen Endes, möchten aber am .EblLütiü« KaLlü- dem auüciLtiaea Wunsche'Ausdruck verkelbenI dle Tlröfrechtsresörm iiivge unter feinet bewährten Leitung zum positiven Abschluß ge bracht werden. Mit der Erwähnung der Tätigkeit Kahls im Straf rechtsausschuß des Reichstags haben wir bereits die politische Seite im Leben des Jubilars berührt. Als er 1919 in die Nationalversammlung gewählt wurde, war er bereits 70 Jahre alt. Es gibt wenig Menschen, die iw solchem Alter noch Neigung und Kraft haben, sich dem auf reibenden parlamentarischen Leben zur Verfügung zu stellen. Wer heute den rüstigen Achtziger sieht und Ge legenheit hat, in als Vorsitzenden des Strafrechtsausschusses> zu beobachten, der ist überrascht über die geradezu er«< staun liche Frische, mit der er die Verhandlungen leitet, ist hingerissen von dem Temperament und von der! Herzenswärme, mit der er seine Ansichten verficht. Kahl hat schon früher der Nationallrberalen Partei angehürt und ist auch in der heutigen Deutschen Volkspartei aus gesprochener Anhänger der liberalen Weltanschauung. Im Jahre 1925 wurde er zum Ehrenvorsitzenden der „Liberalen Vereinigung" gewählt. Zu dem Verfechter der liberalen Grundsätze haben wir mehr als einmal kritisch Stellung nehmen müssen; aber wir werden ihm nie die Hochachtung versagen, auf die er als Mensch und als Politiker unbedingt Anspruch hat. Vor allem soll ihm nicht vergessen werden, daß er trotz seiner 70 Jahre mit einer geradezu bewundernswerten geistigen Elastizität den A n - schluß an die neue Zeit gesunden hat, früher als viele seiner viel jüngeren Parteifreunde. Er hat trotz seines Alters nicht rückwärts, sondern vorwärts geschaut, in der lleberzeugung, daß nicht das Sichversenken in die Ver gangenheit, sondern aktive Mitarbeit im Staat der Gegenwart das einzige Mittel ist, das zu- sammengeorochene Vaterland wieder aufrichten zu helfe». Kahl Ehrendoktor -er Wiener Universität Die Wiener Universität hat durch einstimmigen Beschluß des akademischen Senats Geheimrat Professor Dr. Wsthelm Kahl da» juridisck)« Chrenüokiorot verliehen.