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unc! Vvi88er» k^r. 5 — b. Januar 1924 83cfisisckie Volkgreituris 8ücfisisckie Volksreikmx Ävllenauer Schleuse—Leningrad Zu Schiss nach Rufzland Leicht ist es für einen verdächtigen Mitteleuropäer nie, die Grenzen der S. S. S.R. zu überschreiten, und verdächtig im Sinne der Sowjets scheint jeder z» sein, der ohne die genüg same Abstempelung der K P D aus langen Wegen über Ber- lin oder gar Moskau versucht, sich die notwendigen Papiere mit viel Geduld zu beschossen. Leichter, schneller und bedeutend verläßlicher geht der Weg anders. Aber der Zufall spielt nicht jedem ein Kausfahrteischifs unter die Füße, das bestimmt ist. von der letzten Schleuse des Kaiser-Wilhelm-Kanals in Holtenau in dreieinhalbtägiger Fahrt schnurstracks in die Mündung der Newa einzulaufen. Nach der Versicherung des von der Regierung in Moskau selbst herausgegebcnen Führers durch die Union ist Leningrad Immerhin nächst Moskau die wichligste Stadt des Sowjetstaates Ihr Hafen ist der größte der vereinigten Republiken. Als der einzige Ausgangspunkt des Rätestaatcs zum baltische» Meer und als Kulturzentrum macht Leningrad nach eben demselben Führer selbst Moskau den Vorrang streitig. Also! Die Spannung, mit der man den Frachtdampscr in der Schleuse erwartet, ist immerhin keine alltägliche, und sie scheint selbst in ihrer Intensität — bei Erwartung des zu Er fahrenden — berechtigt. Als Malere verkappt Ganz ohne Formalitäten ist auch eine Fahrt mit dem Frnchtdampser nicht zu machen, zumal nicht wenn man ihn mit der Absicht betreten will am Ziel der Reise und in den Tagen ber Löschung und Neubeladung Stadt und Land zu sehen Das Gepäck geht also durch die Zollstellen und sein Besitzer durch die Büros des Maklers und der polizeilichen Paßstelle zu dem Musterungsbeamlen. Dort ist es ratsam, seine wirkliche und gut bürgerliche Existenz gemächlich und ohne Skrupel ab- zuftreifen wie Schlangen ihre verbrauchte Haut, und Seemann zu werden. Es ist danach völlig gleich, ob Zahlmeister oder Verwal ter oder Stewart oder Trimmer die neue Berufsbezeichnung ist. wie sie nach der Anmusterung des Mustcrungsbuches ausweist Jedenfalls genügt drüben in dem ersehnten Hafen das Musterungsbuch vollauf zur Erlangung eines' Ausweises mit dem man das Land betreten und die kontrollierende Hafen wache unangefochten passieren kann. Für Unkundige hat auch im eigenen Lande die Erledigung der jeweils geforderten Formalitäten ihre Schwierigkeiten, und ehe man sich versteht, ist man über das vorgestreckte Bein irgendeiner Vorschrift gestolpert, so daß man nun nochmals, wie der vorsichtige Moslem, dieselbe Wegstrecke mit größter Achtsamkeit wandert. So kam es. daß das Schiff, nachdem es Kanal und Schleuse mit größter Achlsamkeit passiert hatte, draußen an der Kieler Förde vor Anker gehen und aus die Neunngemusterten warten mußte. Wir wurden mit der Bar kasse des Maklers hinausgefahren und klommen über die Strick leiter zur Reeling hoch. Eine halbe Stunde später schwimmt das Schiss durch die Bucht und an dem Feuerschiff vorbei in die außerordentlich ruhige und stille See. Der Abend legt sich über die weite Fläche der leise gehenden Wasser. Wolken ziehen sich zusammen kata k/lorxana Von Alexandra David-Ncel. Eine Frau, Aleiandra David - Neet , Französin wie es scheint, dran« in Begleitung ihres Pslegesohnes, des Lama el. PsngLe» in» verboten« Tibet ein, sand als Pilgerin unter Strapazen und Entdebrungen ihren Weg zum heiligen Lhasa. In ihrem — an dieser Stelle bereits gewürdigten — Buch , Arsopa" hat sie ihr, Erlebnisse sestgehalten. Mit Erlaubnis des Berlages I. A. B r « ck h a u » .Leipzig, drucken wir das folgende Kapitel ab. das einen kleinen Begriff der m-rnnigsachen Schwierigkeiten, mit denen di« mutig, Fra« zu kämpfen hatte gibt. Endlich lag der Dakar-Paß, sich von einem grauen Abend himmel mächtig abhebend, vor uns. und zwar als eine Ein senkung in einer gigantischen Gebirgskette, deren Abhänge an ungeheure über Flüsse gespannte Seile erinnern und würdig wären, Zyklopen als Brücken zu dienen. Das Bewußtsein, hier an der Schwelle der streng bewachten Region zu stehen, erhöhte wohl noch unfern Eindruck. Die ganze Umgebung des Passes gilt als geheiligter Boden, und die auf diesen Pfaden wan delnden Pilger haben den Göttern zahllose kleine Altäre er richtet, nur aus drei aufrechten Steinen und einem vierten, der das Dach bildet, bestehend, aus denen den Geistern geopfert wird. - Aus dem Paß selbst und die Grate der benachbarten Berge entlang sah man in ungewöhnlicher Zahl die mystischen Fähnchen, die man aus allen Höhen Tibets findet. Im halben Licht des sinkenden Tages sahen sie aus, als ob sic lebten, und glichen Kriegcrscharen, die drohend die Berge erkletterten, um den Weg nach der heiligen Stadt gegen tollkühne Reisende zu verteidigen Ein Windstoß empfing uns bei dem die ^aßhöhle bezeich nenden Steinmann: es war der wilde, eisige Kuß des herben Landes, dessen strenger Reiz mich schon lange beherrscht hatte und zu dem es mich immer wieder hinzieht. Wir verneigten uns nach allen vier Himmelsrichtungen, dem Zenit und dem I über Schiss und See, und ei» sadendünner Regen geht nieder 1 Vorn, ferne, spielen Lichter von Bojen und Feucrtürmen, von dem Regen dünn umkränzt, und langsam stoßend treiben Ma schinen und Schraube das Schiss in die Nacht. Der Dampfer hatte Stückgut geladen, deutsche Erzeugnisse aus den Eisengießereien, Hütten und Maschinenfabriken des Industrielandes an der Ruhr, die über den Rhein herunter nach Rotterdam gekommen und dort in das Seeschiff über nommen waren. Es sind lange Rohre und Eisenkonstruktionen, riesige Kessel, Dynamos und Schisssplatten, Feldbahnwagen mit getrenntem Unterbau und Schalen. Auf den meisten stan den die Namen der Heimatsabriken, man las sie nachher am russischen Kat „Dortmund" oder „Gelsenkirchen" oder „Solin gen", Bezeichnungen sür die Tragfähigkeit, Achsenspanne und dergleichen in gut deutscher oder auch fremdrussischer Beschrif tung Auch ärztliche Instrumente waren an Bord, wertvolle Erzeugnisse aus optischen Werken, sanitäre und Medikamenten sendungen in riesig großen Kisten, mehrere hundert eiserne Fässer mit Oel und dergleichen . Wer weiß, was alles die riesigen Räume schon eines mittelgroßen Seedampsers ber gen! Es ist seltsam, von der Kommandobrücke in die gähnend .leeren Räume des entladenen Schiffes herunter zu sehen, von derselben Brücke, die schon bei voller Ladung neun Meter über dein Wasserspiegel steht. Doch davon später. Noch ist das Schiff in Fahrt. Arkona wird gesichter, Born Holm und die schwedische Küste, am anderen Tage Gotland, später, im Finnischen Meerbusen die Küste von Estland und die schöne Silhouette von Reval. In de» Abendstunden werden zwei kleine Segler gesichtet. Es sind S p r i t s ch m u g g l e r, die geduldig in etwa zehn See meilen Entfernung vor der finnischen Küste warten, bis Nacht und Seegang es gestatten, daß Motorboote ihre Fracht an Land holen. Kronstadt! Len'rigrO! I» der Frühe des vierten Tages klopft der Stewart her aus. Das Feuerschiff Prijemnyj ist in Sicht, der Dampfer geht aus halbe Fahrt und stoppt. Seit drei Tagen und zwölf Stun den kommt zum erstenmal wieder der Maschinentelegraph in Bewegung Unten, tief torkelt ein kleines Boot durch die be wegte See. und etwas später klettert über die Strickleiter der Lotse hoch. Das Schiff geht wieder auf volle Fahrt. Im Süden wird Oranienbaum und Pcterhof, nördlich Kronstadt sichtbar, die Stadt überragend die große goldglän»e»de Kuppel der Andreas kathedrale. Rußland! Kronstadt! Leningrad! Mit die bedeutsamsten Plätze des vorrevulutionären und zaristischen Rußlands, sicher die bedeutendsten bei der Macht ergreifung der Sowjets und bei der Entstehung der S. S. S. R.! Die kleine Insel Kotlin mit Kronstadt daraus in der schmalen Endbucht des Finnischen Meerbusens hat von jeher eine außerordentliche strategische Bedeutung gehabt. Heute, und seit die baltischen Randstaaten entstanden sind, hat sie sie mehr wie in allen Zeiten vorher. Die finnische Küste ist von der Insel nur 15 Kilometer entfernt, die estnische Grenze 75 Kilo meter. In dem Hasen von Kronstadt — das Schiss gleitet in Nadir, sprachen dabei den buddhistischen Wunsch: Freude allen Lebewesen!" und begannen den Abstieg. Ein Schneesturm raste über die Höhen, schwarze Wolken, die sich in Schlackerschnee auslösten, trieben bald hierher, bald dort hin, und wir beeilten uns, noch vor Einbruch der Nacht am Fuß dieses steilen, unwirtlichen Abhanges anzulangen. Aber es wurde früh dunkel; wir verloren den sich zwischen Erdrutschen hinschlängelnden Pfad und gerieten aus den unter unfern Füßen zerbröckelnden Steinen hoffnungslos ins Rutschen. Wir konnten uns kaum mehr auf den Füßen halten, und cs wurde geradezu gefährlich, weiterzugchen. Als wir endlich einigermaßen festen Fuß gefaßt hatten, pflanzten wir unsere Pilgerstöcke als Stütz punkte vor uns auf. Zur Sicherheit hielten wir uns aneinander sest und kauerten so mit den Lasten aus dem Rücken auf dem Schnee nieder, der von 8 Uhr abends bis 2 Uhr morgens unauf hörlich niedcrsiel. Dann erschien ein trübselig aussehendes Mondviertel zwischen den Molken, und wir stiegen in die be waldete Zone hinab. Wir ruhten gerade am Rande eines Gehölzes aus, wo ei» Feuer die großen Bäume zerstört hatte und daher jetzt nur noch kurzes Unterholz wuchs, als ich die Umrisse von zwei lang gestreckten Tieren mit phosphoreszierenden Augen bemerkte, die den Pfad mehrere Male kreuzten und am Ende in der Richtung nach dem Fluß hin verschwanden. Sie waren im Mondlicht deutlich sichtbar, und ich machte Pongden auf sie aufmerksam Er sah sie ganz gut, bestand aber hartnäckig darauf, es seien Rehe, obgleich ihre Form und ihre sonderbar funkelnden Augen aus fleischfressende wilde Tiere schließen ließen Ich verweilte noch ein wenig, um unliebsame Begegnungen zu vermeiden, und dann setzten wir unseren Abstieg nach dem Flusse fort. Wir waren erschöpft und nicht sicher, bald wieder an Wasser zu gelang«», denn der Flußlauf ging von jetzt an durch eine Schlucht, unser Pfad dagegen führte bergan. So zündeten wir in der Hoffnung, di« Tiere würden uns, wenn sie noch in der Nachbarschaft waren, dann in Rübe lasten, «in Feuer an. um einer schmalen Fahrrinne an ihm vorbei — ankert die baltische Flotte mit der wehenden und. weithin erkennbaren roten Flagge. Dazwischen liegen und zerfallen die beiden Luxus jachten des letzten Zaren. Die Gewässer nördlich der Insel sind sür größere Schisse nicht befahrbar. Südlich und in unmittelbarer Nähe an der Insel vorbei zieht sich die schmale Fahrrinne als einziger Zu gang zu Leningrad, der von Kronstadt leicht beherrscht werden kan». Man ahnt schon ohne augenblickliche Angriffe von außen und ohne revolutionäre Aktion von innen die Bedeutung und den militärischen Charakter der Stadt. Heute wird die Zahl ihrer Bewohner aus einem bestimmten Maximum gehalten, und der Eintritt in die Stadt ist sür Fremde nur mit be sonderer Erlaubnis möglich, die nicht all zu osl gegeben wer den dürste. Es hätte sich schon gelohnt, den Hafen von Kronstadt auf der photographischen Platte mitznnehmen. Aber der Lotse, der Polizeigewalt ausübt, hat ein wachsames Auge. Er verbietet sür die Dauer der Vorbeifahrt den Aufenthalt aus der Backbord seite des Schiffes. Es war nicht eben schwer, dem Verbot nach zukommen, da es etwas verspätet kam. Wir fuhren mählich und mit halber Kraft in den Seckanal ein, der, 27 Kilometer lang, den Seeschissen die Einfahrt in die Njewa Mündung und damit in die Häsen von Leningrad mög lich macht. Die Kanaleinfahrt bietet ein schönes Bild: rechts und links in weiter Fläche das seichte Wasser des Sees, ganz sern am Horizont die Küste, und in der Mitte darin die Paral lelen der beiden schmalen Kanaldämme und die Fahrstraße da zwischen, in die wir beobachtend hineinsteuerten. Tief darin, hinter dem gießen Bogen nach Nordost, öffnen sich die großen Hafenbecken. Der Kohl> nhafen liegt leer, seit die Kohlencinsuhr aus gehört hat und die weiten Kohlengebiete Süd- und Ostrußlands auch den Norden versorgen. An den beiden Dämmen hin lausen jetzt hölzerne Kais, und tiefer hinein und näher am Lande stehen Re Verladehäuscr und Lagerschuppen wie eine selbständige Stadt. Soweit es sich nicht um Holzbauten handelt, sind sie ernachlässigt und alt, und ihr Manerwcrk bröckelt mählich her unter in das Wasser unter den Kais. Wir fahren an dem Holzhasen vorbei durch den ganzen Kanal und machen vor den weiten und neueren Verladehänsern ser Sovtorgslot, vor Bahnanlagen und Kranen nahe an dem Ausfluß der Bolschaja Njewa sest. Dort sollen die Stückgüter gelöscht werden. In der Mitte des großen Gebäudes, hoch oben im Giebel, leuchten groß und im Kreis die Embleme des Sowjetstaates: in einem Kranz von Aerhrcn Hammer und Sichel aus rotem Grund. Sie erlaunle Londraile Lange lagen die Taue nicht um die Pflöcke am Kai, als der Arzt, die Zollbehörden, Beamten der Sovtorgslot als Empsän- ger der Ladung über das Fallreep hcrauskamen. Gleichmütig sahen wir — als verkappte Passagiere — ihrem Kommen zu. Wir hatten keine Konterbande an Bord, nicht Liköre und nicht die so heißbegehrten Seidenstrümpse für russische Mäochen. Aber diese Zollbehörden sahen verteufelt militärisch aus, Revolver an dem schweren Leücrgürtel und grün bemützt. Ihr Interesse an uns war, wie sich sehr bald zeigte, reichlich groß. Es waren Truppen des politischen Geheimdienstes, die noch vor wenigen Tee zu kochen. Als wir noch beim Trinken waren, hörten wir hinter den Büschen ein Geräusch, aber wir hatten schon ange fangen, uns an das Schleichen wilder Tiere um unser Lager herum zu gewöhnen. Pongden schlief ein, und obgleich ich eigentlich wach bleiben wollte, fielen mir auch trotz allen guten Willens die Augen zu. So war ich eingeschlummert, als ein leises Schnauben mich weckte. Nur wenige Schritte von unserm Lagerplatz entfernt, blickte eins der Tiere mit den glühenden Augen mich an, deutlich sah ich sein geflecktes Fell! Ich rief Hongdcn nicht an; cs war nicht das erste Rial, daß ich mich in io unmittelbarer Nähe solcher Tiere befand; wenn sie nicht gerade gereizt oder verwundet sind, greisen sie den Men schen selten an, und ich war fest überzeugt, daß sie weder mir noch meinem Begleiter Schaden tun würden. Diese nächtliche Begegnung erinnerte mich an eine frühere, die ich vor mehreren Jahren mit einem prachtvollen Tiger gehabt halte. „Nun, du Kleiner", murmelte ich. indem ich das schöne Tier ansah, „ich habe schon einen viel größeren Fürsten des Dschun gels, als du es bist, hübsch nahe gehabt. Geh schlasen und sei glücklich!" Ich zweifle, ob der „Kleine" mich verstand, aber jcdensalls trabte er ein paar Minuten später, als er seine Neu gier befriedigt hatte, ganz gemächlich von dannen. Wir konnten uns keine längere Rast erlauben. Der Tag war angebrochen, und es war hohe Zeit, ein Versteck nicht zu nahe am Wege auj- zusuchen. So weckte ich Pongden. und wir machten uns auf; nach einigen Augenblicken zeigte er mit seinem Stock aus etwas unter den Bäumen. „Da sind sie", sagte er. Da waren die beide» ge fleckten Burschen allerdings. Sic wendeten die Köpfe nach un serer Richtung, blickten uns eine Weile an und setzten dann ihren Weg am Fluß entlang fort, während wir bergan kletterten. Allmählich, je höher wir stiegen, desto mehr, verä .erte sich der Wald, der nun viel lichter wurde. Die jetzt aufg.gangenc Sonne beleuchtete das Unterholz, und wir konnten durch Lücken im Laubwerk das jenseitige Flußuser zu unseren Füßen sehen.