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und wissen 275 — 2. ver. IY28 Läctisisctie VoIIiZreitun ^us äen» InlNalL Wilhelm Kahl: Im Hafen von Venlngraid. A. Jwars: Falsche Brillantem Franz Joh. Bierfack: Nebelnacht. Ioh. Franz v. Kunowski: Weg aus dem Dunkel. Michaela Rott: Kastor, der Höllenhuird. Alice Fliege!: Meinem Kinde. Fritz Müller-Partenkirchen: Schiff oder Floß. Hans Eäsgen: Ein Wabdbaum. Im Uakei» von l^enii»§raä Voo lVUlrelo» «sl.1 Das ist nicht Bremerhaven oder Hamburg, auch nicht Marseille oder Calais. Die Hirnzentrale ist staatliche In stitution. Die Lenker sind wenig gut bezahlte Angestellte. Infolgedessen: der Apparat ist klein, übersichtlich, ohne das Tempo „kapitalistischer" Hast. Fast in der Stadt, am Ein fluß der Njewa und da wo sich die Fontanka und Jekatari- nofga öffnet, wird Stückgut gelöscht. Nur gelöscht. Wie viele Fertigfabrikate kommen aus dem heutigen Rußland über die Ostsee heraus? — Viel geht hinein. Nahe, fast auf den Kai liegen riesige Kesselhauben, stehen Walzen für den Straßenbau, Maschinen für die Landwirtschaft: Motorpflüge, Mäher und dergleichen. Manches davon wohl monatelang. Es sind Sieder und Kessel und Kessel hauben darunter, rot von Nost. „Solingen" oder „Dort mund" oder der Name einer französischen Stadt steht darauf. Aber jetzt sind sie in Rußland, und irgendwann vielleicht auch einmal bei dem Besteller. Dieweil zockeln nickende Gäule vor Leiterwagen mit fauligem Stroh, auch ein paar Kisten oder braunen Häuten vielleicht, über das aufgeweichte Hafengelände in die rückwärts gelegenen Schuppen. Selten einmal rattert ein alter Lastkraftwagen — in westeuropäischen Häfen lügen sie lange in irgendeiner Ecke beim alten Eisen — über die Kais: noch seltener beladen. Zwei bis drei Mann stehen darin mit Pelzkappe und roter Leibbinde. Hafenarbeiter! Da löschen sie ein Schiff. Wohl sechzig Mann. In langen Mänteln viele, mit farbigen Westen andere, fast alle aber mit roten Binden. Sie haben die Arbeitsplätze verlost und kauderwelschen nun, schreien, gestikulieren, sind aber fleißig und arbeiten. Siebzehn Mann an einem klei nen Wagen, auf den der Kran eben eine Ladung Eisen- platten herunter gelassen hat. Den rollen sie über die Stege in den Schuppen hinein, langsam, vorsichtig, ein Mann an dem anderen, dennoch rufend, kreischend. „klon lninnrvl" „dis pns kumsrl" „Smoking koi-bickcksn!" steht groß über allen Toren und an den Wänden der Hatten. Sie drehen sich ihre Zigaretten in den kleinen Pausen und rauchen in die Arbeit hinein. Neun Stunden dauert die Schicht. Fünf bis sechs Rubel verdienen sie beim Stückgutlöschen und arbeiten im Akkord. Dazwischen muffeln sie trockenes Schwarzbrot und trinken Wasser, das die Schiffe in großen Kesseln bereit stellen. Vielleicht hat auch einer einen Apfel dazu. Es war während eines 14tägigen Hafenaufenthaltes nicht ein Arbeiter zu sehen, der eine warme Mahlzeit genossen hätte. Aber der Arbeiter sind viele, und ein Mkndestloh», ist ihnen garantiert. Von der Njewamündung her oder zu ihr hin saust ein Motorboot hin und wider. Im übrigen treiben Fischer nachen im offenen Wasser und ziehen die Schleifnetze hin ter sich her, für einen Hafen immerhin ein seltenes Bild. Im Holzhafen ist es lebendiger. Die Schicht ebenso lang, und den Arbeitern im Akkord sind drei bis vier Rubel Mindestlohn garantiert. Der Hafen öffnet sich im letzten Viertel des Seekanals. An Bojen liegen die Schiffe hinter einander. Reihe an Reihe: Dänen, Deutsche, Franzosen und Engländer, letztere trotz des Abbruchs der diploma tischen Beziehungen. Rußland hat Holz, viel Holz, Papier-, Stamm- und Vretterholz, und die Schiffe tragen es fort. Eine respek table Ausfuhr! Große plumpe Holzkähne von erstaun lichen Ausmaßen bringen es und liegen hart an den Schiffen. Die Ladung von sechs oder sieben solcher Kähne nimmt ein mittelgroßer Frachtdampfer in sich auf, 800 bis 900 englischer Faden. Dazwischen dampfen kleine vier eckige Kasten in Schleppzügen an mit geschnittenen Brettern. Die Winden spielen, di« Mastbäume drehen sich, und zwischen den Schiffen her, unten im Wasser, winden sich die kleinen Schleppooote. Wer könnte da fischen wie unten an der Stückgutrampe? Man läuft vom Holzhafen her eine halbe Stund« über Bahngcleise, von Schuppen, immer fast an riesigen Holz lagern vorbei in die Stadt. Arbeiter sortieren darin, Frauen mit roten Kopftüchern und in ramponiertem Zivil. Eine Rauchhalle oder so was, klein und ganz aus Holz, wird neugebaut. Aber ein großer Neubau steht in der Mauer höhe schon seit Jahren fertig, und oben auf dem roten Mauerwerk wuchert Gras und Gesträuch. An der Sperre kontrolliert die wachhabende „Genossin" die Hafenpässe. Die Frauen lösen sich mit den Soldaten ab, sind selbst welche am Ende, und versehen ihren Dienst wie diese. Auf dem Rückweg stapft man am Kanal vorüber über die hölzernen Kais. Sie liegen auf einem Gerüstbau, und das Wasser blinkt darunter. Der Eisbrecher Krassin wird erwartet. Er läuft nach seinen Hilfsfahrten im Nordmeer in den Heimathafen ein. Alle Schiffe haben reich geflaggt, die Kreuzer an der Bolschaja Njewa und die fremden Frachtdampfer an den Kais und im Holzhafen. Er hat es verdient, der Krassin. Ein Fliegergeschwader fliegt ihm entgegen. Kleine Marinefahrzeug« holen ihn ein. Das Volk steht auf den Kais und sieht dem Schauspiel zu. Da er vorüberzieht mit Jubel und Musik, steht es teilnahms los und stumm. blekelnaekt Von krön- Fol, klvrsaclr Wind, der über die Dächer springt, huscht in den Graben hinter das Hans; steigt Lber'n Zaun der Nebel und trinkt die funkelnde,, Fenster aus. Weitet und breitet sein ödes Tuch nah der Nacht vor die Augen hin, schließend die Tore, wie ein Buch, vor'm letzten, unheimlichen Sinn. Arm von den ungeschrienen Schrei',, schlagen die Uhren Stunden aus. Es muß ein Grab geschaufelt sein irgendwo, so eng ist das Haus. aus «lein Ounkrel Vom Fol», von lLuoovvslrl Horst Scheermann erwachte. Stockdunkel umgab ihn, und auch der Alkoholrausch, der durch den kurzen Schlaf vorüber gehend verdrängt gewesen war, wurde wieder toll wirbelnder Herr in seinem schmerzenden Hirn. So gut es diese Begleit umstände eben zuließen, versuchte sich der Trunkene über sein« augenblickliche Lage klar zu werden. Er saß, und das war zunächst das einzig Gewisse, ganz be quem aus einer Polsterbank. Totenstille und tiesstes Schwarz rinsum. Der Einsame begann unruhig zu werden und ver wünschte die Trunkenheit, die ihn nicht denken ließ Er gab sich einen Ruck, preßte die Hände aus die pochenden Schläfen und stierte in das Dunkel, bis es mit roten Pünktchen vor seinen Augen zu flimmern begann. Dann fuhr er mit der Hand im Halbkreis vor sich hin, stieß an etwas Hartes, griss zu. Metall — eine Stange. Mit einem Male wußte Horst Scheermann, wo er sich be fand! In einem Abteil der Untergrundbahn saß er irgendwo, ausrnngicrt, vom Personal übersehen, auf einer Endstation in einem der Schächte unterhalb der großen Stadt. Es überlief den Einsamen ein kalter Schauer bei dieser Erkenntnis. Es war ihm, als müßte er ersticken, als drückte ihn das Dunkel zu Boden. Mit doppelter Kraft kehrte die Trunkenheit zurück, die er mühsam bei seinem Denken verdrängt hatte. Mit schlotternden Knien schob er sich von seinem Sitze, tastete sich durch den Wagen, öffnete eine Tür und fiel hinunter auf die Geleise. Es dauerte Minuten, bis er sich wieder aufrichtete. Immer an den Wagen entlang, dann zwischen den Schienen, stolperte er vorwärts. Eiskalt wehte die Luft durch die Tunnelbauten, nichts er hellte das lastende Schwarz und kein Laut ringsum, kein Zeichen von Leben. Horst Scheermann gröhlte und rief. Hallend schlug der Widerhall an seine schmerzenden Ohren, es rauschte um ihn auf wie Stimmen tausend Unsichtbarer: Ent setzen trieb ihn vorwärts. Bergauf, bergab, um Ecken und Winkel, die Knie waren vom Fallen blutig, die Hände auf geschlammt vom Schotter der Geleise — vorwärts! Und plötzlich ein neuer, unbekannter Ton, der langsam näher und näher zitterte, erst unten in den Schienen, dann an den Wänden entlang lief, immer fester und fester wurde, ganze Orkane Luft vor sich Hertrieb und dann blitzend und donnernd vorüberraste — ein Zug! Eng an die Wand gequetscht, stierte der Trunkene den Lichtern nach. Da glitt der Tod um Haaresbreite an ihm vor bei. Und ging Scheermann bisher, so lief er jetzt, was seine Lungen konnten, dem Ziele, dem endlichen, ungewissen und -ellen entgegen. — Arbeiter, die den ersten Frühzng der Untergrundbahn be nutzten und auf dem Bahnsteig warteten, erlebten an diesen« Morgen ein seltsames Schauspiel. Heulend und blutix schwanke aus einem der Tunnel ein abgehetzter Mann hervor — scharfes Knirschen von Bremsen, einen halben Nieter vor dem Unglücklichen hält zitternd ein soeben einfahrender Zug, Man hebt den Unverletzten zum Bahnsteig empor und stellt seine Personalien fest. „Betrunken" sagt der Bahnhofsvorsteher voller Ekel im grauen Morgen zu den Werklouten, — dann geht der Zug ab — Horst Scheermann brachte seit dieser Nacht nicht einen Tropfen Alkohol wieder über die Lippen: keiner wußte warum, nur seine Frau, die aber schwieg und dankte der Nacht, die ihr den Mann wiedergegeben. — kslselre 8r!IIai»tei» Von Ivvnr» Lady Gwendolin Clinton schüttelte mißbilligend den Kops, als ihr Mr. Harare Staines erklärte, er wünsche ihre Stief tochter. Miß Ellinor Clinton, zu heiraten." „Nein, mein Junge", sagte sie gleichmütig, „diesen Ge danken schlag dir aus dem Kops. Du bist zwar mein Neffe, ob gleich wir nicht blutsverwandt sind, da ich aus der Familie der Naeburns stamme, die dem Lande schon seit den Stuart- zciten Admirale und Generale gegeben hat, du aber der Sohn des Bruders meines ersten Gatten, Joe Staines, Wirkwaren suqros und ckstail bist, für Ellinor paßt du mir aber doch nicht. Wirkwaren sngros und ckoto.il sind zwar ein schönes Ge schäft, mit Ellinor aber will ich höher hinaus." „Tante" warf Harare ein, „Ellinor gab mir ihr Ver sprechen." „Ellinor ist minderjährig, ihr Versprechen hat keine Gültigkeit." „Du kannst sie nicht zwingen, einen Mann zu heiraten, den sic nicht liebt." „Puh, was kauf ich mir dafür", fragte Lady Gwendolin, die trotz ihrer sonstigen Vornehmheit manchmal gewöhnliche Ausdrücke gebrauchte. „Man muß immer schauen! daß man in die Höhe kommt." Lady Gwendolin sprach aus Erfahrung, weil Miß Gwendolin Raeburns, ehe sie Mrs Staines wurde, im Wirkwarengeschäft en gros und ckstail, Joe Staines L Bruder die Schreibmaschine gegen ein Wochensalär von 25 Schilling ge klopft hatte. „Tante", meinte Horace, „Ellinor wird mir ihr Versprechen halten, in zwei Jahren ist sie großjährig." Lady Gwendolin lachte. „Auch dann hängt die Bemessung der Mitgift von den Eltern ab. Eigenes Vermögen hat sie nicht, und eine arme Frau kannst du nicht brauchen, trotz deiner Wirkwaren en gros und ckstail." Das war Horaces letzte Unterredung mit der Tante gewesen, bis er die Einladung zur Garden Party auf Schloß Roztow «rhielt. Die Einladung versetzte ihn in einen Freudentaumel. Er sollte Ellinor Wiedersehen, die Tante mochte sich wohl be sonnen haben. Die freudige Hoffnung führte ihn in die Olympia Bar. wo ihn Ralph Marley traf, wie er sich andächtig die Nase mit unterschiedlichen Cocktail begoß. Weil Marley beim Cocktail vertilgen auch seinen Mann stand, erntete er Horaces Be wunderung und wurde von ihm zu Lady Gwendolins Garden Paray geladen. Es wir dabei nichts Verwunderliches. Lady Gwendolins großzügige Gastfreundschaft, über die dann die Zeitungen spaltenlange Berichte brachten, versammelte oft achtzig bis hundert Personen auf Schloß Noxtow. Ihre Ladyship mußte selbst nicht, wer alle ihre Gäste waren. Sic lud Freunde und Bekannte ein, die brachten Freunde und Bekannte mit, und so ging cs weiter. Wenn jemand nur jemanden hatte, der ihn vorstellen konnte, kam er zu Lady Gwendolins Gesellschaften. Horace hatte allerdings wegen seiner plötzlichen Einladung nach träglich Bedenken gehabt. Ralph Marley aber sah im Smoking so fashionabel aus, daß ihm ein Stein vom Herzen siel, als er seinen neuesten Bekannten der Lady vorstellte. Die übersah den jungen Mann mit flüchtigem Blick, und neigte nur, als dem Namen kein Titel und keine Würde folgte, unmerklich den Kops. Lady Gwendolin war sehr stolz und unnahbar, seit sie die zweite Gattin Sir James Clinton geworden, des millionen reichen Reeders, der für seine Verdienste um den heimischen Schiffsbau geadelt worden war. Erstens stammte sie aus der Familie der Raeburns, die seit Stuartzeiten berühmt war, zweitens trug sie den aus lOOOOO Pfund geschätzten Brillant schmuck, den ihr Sir James Clinton als Brautgeschenk verehrt hatte, und der als Sehenswürdigkeit galt. So fragte sie später ziemlich unliebenswllrdig: „Na, was hast du dir heute für einen Kunde» mitgebracht? Macht er auch in Wirkwaren oder sonst was." „Ich glaube, er ist Reporter oder sonst was bei einer Zei tung, Tante. Ich habe ihn eingeladen aus Freude über das Wiedersehen mit Ellinor." „Na. dann halt dich mal an, Junge, damit du nicht um- fnllsi", meinte Lady Gwendolin ablehnend. „Ellinor verlobt sich morgen mit Lord Harald Lovelace, mein Zureden hat ge holfen." „Mit Lord " „Lovelace, freilich, Horace. Dort kommt der Lord." „Tante, kennst Z>u den Nus, in dem er stchi?" Lady Gwendolin sah der schlanken, eleganten Gestalt des Lords freundlich entgegen. „Er hat es ein bißchen wild getrieben. Ich weiß es, Horace. Solche Wildlinge geben nachträglich die besten Ehe männer." Sie reichte dem Lord die brillantenstrahlende Hand, die dieser ehrfurchtsvoll küßte. Dann nahm sie seinen Arm. Horace sah ihr bestürzt und verstört nach. Zu Ellinors Verlobung hatte in seine gnädigste Tante geladen. Ein ehr licher Groll stiegt in der Seele des jungen Wirkwarenhändlers kn gros und ckktnil empor. Da klopfte ihm sein neuester Be kannter Mr. Ralph Marley auf die Schulter. „Was ist. Mr. Staines. Sie machen ei» Gesicht wie die Katze wenn es donnert. Hat Sie ihre Ladyship ungnädig wegen meiner Einladung be handelt." „Wenn es nur das wäre." Horace stöhnte. „Ellinor soll sich morgen mit Lord Lovelace verloben." „Oh, die junge Lady, die Sie verehren, Staines. Das ist kein Grund zum Traurigsein. Verlobt ist nicht verheiratet, da wird es noch viel Flut und Ebbe dazwischen geben. Lord Lovelace ist nicht der Mann, an der Stange zu bleiben." „Tausend Pfund zahle ich für die Gelegenheit, ihm auss Fell rücken zu können." „Tausend Pfund, Staines. Wollen Sie sich vielleicht ge legentlich an dieses Wort erinnern." Tags darauf, während sich die Mehrzahl der Gäste im Park imt Rasenspielen vergnügten, andere in der Bibliothek und im Spielzimmer saßen, lief anfangs nur ein scheues Gerücht durch das Schloß, das sich aber rasch zu der Nachricht verdichtete, der Brillantschmuck Lady Gwendolins sei in der Nacht gestohlen worden. Ein unbehagliches Gefühl bemächtigte sich der Gäste. Der Diebstahl im Schloß verdächtigte alle. Mißtrauisch sah man sich von der Seite an. Mr. Ralph Marley schlich zu Horac« Staines und raunte ihm zu. „Ich gebe Ihnen Gelegenheit