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Onter^Llltuns und 98 — 29. ^pril 1928 ZäckLisclie Volksreituii^ Ein Schutz N'° e°rn,en Der junge Förster warj Vas Gewehr über die Schulter und trat aus der Tür. Aus der anderen Seite der Strohe stand die irre Marie Gehre und schien aus jemand zu warten. Lin paar Kinder drängten sich neugierig um sie herum, sragten und kreischten laut auf, wenn sic etwas Unsinniges antwortete. Er ging gutmütig hinüber, jagte die schreienden Juugen ausein ander und nickte dem Mädchen freundlich zu. „Tag, Marie!" Sie sah ihm mit grohen, glänzenden Augen entgegen, schien etwas zu suchen in ihren verwirrten Sinne» und atmete hastig, mit halboffenein Munde. Dann, als könnte sie sich nicht über winden, faßte sie plötzlich des Försters Arm, pretzte die Lippen zusammen und wollte ihn zurück über die Strotze ziehen. Er wehrte erstaunt ab und wunderte sich, wie klar das Mädchen aussah in ihrem Eifer. Mitleid mit ihr und ihrer Krankheit a»oll in ihm auf. Dann versuchte er sich freizumachen und sprach begütigend auf sie ein. „Wird ja nun alles gut, Marie, ist nun bald alles besser, und wenn Hans erst zurückkommt — lange ist es ja nicht mehr —" Das Mädchen wimmerte leise auf und rang nach Worten. Ihm tat schon leid, datz er von ihrem Bruder gesprochen hatte. Er rechnete nach, datz die drei Monate, die der andere im Gefängnis sein mutzte, wohl vorüber seien. War ja nicht viel geworden, trotzdem 's ein rückfälliger Wilddieb war. Er selbst hatte sich bestmöglich eingesetzt für ihn — Mariens wegen. Der junge Jäger versuchte langsam weiter zu gehen, aber das Mädchen folgte ihm mit so sinnlosen, erregten Gebärden, datz er noch einmal stehen blieb und nach ein paar stillen Worten suchte. Da kreischte sie plötzlich auf: „Hans, Hans!" Sie hob die Hände, als wollte sie sich wehren, versuchte ihn verzweifelt zurückzuzerren und schluchzte leise vor Erregung. „Ist Hans zurückgekommen?" fragte der Jäger. Sie nickte rasch, datz die Haare ihr wirr in die Stirn flogen, und wurde ruhiger, als hält' er verstanden, was sie wollte. Ein unbehag liches Gefühl beschlich den Förster plötzlich, er wußte nicht recht, warum. Drüben blieben ein paar Leute stehen, sahen den beiden zu und lachten, so datz er sich ärgerlich freimachte. „Paß auf, du — patz auf!" Das Mädchen hatte es plötzlich hinter ihm hergcschrien. Der Förster sah sich erzürnt um, Marie Gehrs war zurückgeblieben, lehnte an einem Baum und hatte die Hände fest zusammengepretzt wie in wirrem Streit mit sich selbst. Der Hochwald begann dicht hinter dem Dorf. Dämmerung lag wie ein dunkles Netz in de» Wipfeln, spann sich zwischen den Hellen Leibern der Buchen und ließ tausend große Fäden zur Erde sinken. Aus den Wiesen hoben die Nebel ihr strähniges Haupt, ballten sich zusammen und zogen wie ein wogender Heereszug über die Waldwege. Der junge Jäger schritt seinen abendlichen Rundgang ab, bog nach links zur Eichenschonung hinüber und ging wohl eine halbe Stunde mit raschen Schritten durch die Schneisen. Einmal kam er zu der Stelle, wo er vor einem halben Jahre Marie Gehre' Bruder beim Bock getroffen hatte.' In Hellem Mondschein war's gewesen; der Bursche war blitzschnell aufgesprungen und hatte nach der Flinte gegriffen. War nur gut, daß er rechtzeitig in Anschlag gegangen war und datz der andere es einsah und nachgab, als er ihn abfvhren mutzte. War ein harter Gang gewesen, Maries Bruder anzu zeigen. Damals war's auch ausgegangen, zwischen ihm und dem Mädchen. Wer weiß, was jetzt wär', wenn er den Burschen nicht getroffen hätte? Ob ihre Krankheit wohl gekommen wär' oder ob's darüber ausbrach? Der Förster schüttelte sich, als möcht' er die Gedanken verscheuchen. Wär' der verwünscht« Bursche nicht gewesen! Ihm siel wieder ein, datz Hans Gehrs aus dem Gefängnis zurück war; ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn, als wäre eine große Traurigkeit im Walde rings um ihn. Er mutzte daran denken, wie sehr der andere damals gebettelt hatte, ihn frei zu lassen, und wie er ihm dann gedroht hatte. Mas sagt« er noch? Wenn er wiederkäme —! Vorn durch die Stämme blinkte eine weite, einfarbene Fläche, das war der See. Oder es war Nebel, der über dem Wasser lag und wie ein hohes Feld über die Wiesen gestiegen' war, an den Ufern die Wurzeln der Bäume überschwemmte und leise, ganz leise höher wogte. Der Weg verlor sich in seinem grauen Feld. Noch einmal sah der Förster über die zähe, gleichmäßige Flut, aus der die Wipfel der Bäume mit kurzen, dicken Stämmen herausragten, dann ging's abwärts, und er fühlte den Dampf in seinem Atem, feucht und eiskalt. Ein paar rasche Schritte kamen plötzlich hinter ihm auf. Er wandte sich und sah ärgerlich Marie Gehrs, die ihm wohl gefolgt war und ihn flehend zu sich winkte. Er wollte gleichgültig weitcrgehen, überlegte, wie er sie wohl am besten nach Hause schassen könnte. Aber das Mädchen rief leise hinter ihm her, folgte und hielt ihn plötzlich fest, mit so unsäglich traurigen, flehenden Gebärden, daß er erstaunt stehen blieb. Sie versuchte noch einmal irgend etwas zu sagen, atmete Nichts ist so wichtig wie unser Tag, Nichts ist so selig wie unsere Liebe, Wie unseres Herzens blutwarmer Schlag, Wie unserer Sehnsucht rankende Triebe. Nichts ist so traurig wie unser Leid, Nichts ist so bitter wie unsere Sorgen. Nichts vergleicht sich der Seligkeit, Die wir erhoffen von unserem Morgen. Denn wir fühlen nur unser Leben, Denn wir sehnen nur unser Glück, Denn wir sieben mit unserem Siebe Nur das Eigene, Stück um Stück. Mögen um uns her Welten fallen, remdes Geschick berührt uns kaum, o ist auch den anderen allen Unser Sein nur ein Schatten und Traum. k. Sokrbagdaiver-Uvimckal. Aus dem Inhalt. Jens Lornseu: Ein Schutz. F. Schr vngham«r-H« lindu I: Wir. Richard Zillmer: Erlösung. Gerettet. Maria Meyer: Cchulhauslathl. Ern st Zacharias : Kleine Freuden. Heinrich Leis: Laternen. Zwangsversteigerung der Villa Napoleons l. ans Elba. / hoch und sah ihn aus ihren zitternde» Lidern so furchtsam an, daß er plötzlich an jene andere Zeit denken mutzte, wo sie ebenso vor ihm gestanden hatte, nur datz ihre Auge» klar waren und ihre Hand sich wehrte, wenn er sie an sich ziehen wollte. „Komm, Marie", sagte er leise und versucht« sie zur Seite zu drängen, aber sie hielt ihn fest mit all ihrer Zähigkeit. Dann gab sie ihn in plötzlicher Widerstandslosigkeit frei. Der junge Förster ging rasch weiter, horchte aus ihren Schritt, merkte, datz sie zurückblieb, datz sie ihn einholte und datz sie dann wieder neben ihm war in unsinniger Angst und Verzweiflung. Einen Augenblick lang schien sie um irgendein Wort zu ringen, das auf ihrer kranken Seele lag. Dann lief sie in raschem Entschluß mit schweren Schritten vor ihm her, weiter und weiter, bis der Nebel sie aufnahm und nur noch der harte Waldbodcn vorn unter ihren Füßen pochte. Es war dämmerig grau geworden; der Nebel zog das letzte Licht auf und schien schmutzig fahl, kaum, datz man die nächsten Stämme unterscheiden konnte. Ein Schutz kam vor vorn, ein Schrei und ein dumpfer Schlag, als siele ein Körper schwer zu Boden. Der junge Förster rannte in unsinnigen Sprüngen voran, die Flinte schutzfertig vorm Leib. Irgendwo huschte ein Schatten im Grau, dann fand er Marie mit zerrissener Schläfe quer im Weg. Die hatte Hans Gehrs' Schutz ausgefangen. Was der Ritter seiner Dame schenkte. Di« Ritter des Mittelalters widmeten den Damen ihres Herzens sogenannt« Minnekästchen, die als Liebes- und Freundschaftsgeschenk« eine bedeutsame Bilderschrift aufwiesen. Alles was die Herzen der Menschen jener Tag« erfüllt«, ist hier dargestellt: Kampf und Adente»- ', ritterliche Hebungen und Jagden, Gesellschaftsspiele und Licbesbetcucrungen, oft durch erklärende Inschriften er läutert, in dem tieferen Sinn aber nur der Empfängerin vor- stündlich. Diese Minnekästchen gewähren einen Einblick in das mittelalterliche Leben auch da, wo all« andern Kunstdenkmäler fehlen, und sind daher für Kultur- und Kunstgeschichte von höch ster Bedeutung. Eine Veröffentlichung der erhaltenen „Minne kästchen im Mittelalter" wird nun nach jahrelangen Vorberei tungen durch Heinrich Kohlhansscn im Verlag für Kunstwissen schaft zu Berlin veranstaltet. Mehrere Hundert mittelalter liche Holzkästchen werden hier abgebildet, und in ihrem Zu sammenhang mit der gleichzeitigen Literatur und Kultur er läutert. Hier wird nicht nur eine neue Fundgrube für die Ikonographie. Waffen- und Kostümkunde. Heraldik usw. eröffnet, sondern auch ein« bisher noch kaum beachtete Fülle von Kunst werken geboten, die in ihren besten Leistungen zu den schön sten Arbeiten der Gotik zu rechnn sind. Erlösung Bon Richard Zillmer. Karl Petri starrte regungslos in das lastende Dunkel seiner Krankenstube. Knarrend setzte nebenan die Uhr zum Schlagen an — es klang wie der mühsame Atemzug einer asthmatischen Brust — und dann hinkten die zwölf Schläge der alten Uhr röchelnd durch den Raum. - Nach einem Augenblick tiefen Schweigens, wie Erschöpfung nach der Anstrengung, setzte plötz lich wieder im Nebenraum das Geräusch der Nähmaschine ein. Der Kranke zuckt« zusammen, sein Leib krümmte sich wie unter körperlichem Schmerz, dann versank er wieder in das Labyrinth seiner Grübeleien. Petri lacht« bitter vor sich hin, als er sich erinnerte, wie sie als junges Brautpaar manchmal vor einer schönen Villa oder einem Landhäuschen mit schmuckem Garten stehengebliebe» waren und halb verschämt ihre Hoffnung hatten laut werden lassen, es vielleicht auch einmal so weit zu bringen. Was hofft nicht alles die Jugend in solchen Tagen! Aber sie wären heute, wenn auch weit entfernt von jenen verwegenen ^räumen, den noch glücklich gewesen im Leben und Sorgen für ihre beiden Kinder, wenn nicht diese Krankheit gekommen wäre. Das Unglück begann mit einer Erkältung, die vernachläsjigt wurde, weil sie so geringfügig erschien. „Du hast einen Husten, der mir gar nicht gefallen will. Geh doch mal zum Arzt", hatte seine Frau dann manchmal gesagt. Er aber hatte nicht darauf geachtet, bis er sich endlich doch in Behandlung begeben mutzte; man schickte ihn in Lungenheilstätten, doch diese tückische Krank heit hatte schon zu fest Wurzel in seinem Körper gefaßt. Immer zahlreicher und länger waren die Arbeitspausen geworden, und jetzt lag er schon seit mehr als vier Wochen fest. Petri wußte, datz seine Tag« gezählt waren, und manchmal wünschte er das Ende hirbei, aber dann wieder erschienen ihm solch« Gedanken eine Sünde gegen sein« Familie, die er un- versorgt zurücklietz. Das bißchen Krankengeld reichte nicht aus, feine Frau arbeitete bis spät in die Nacht an der Nähmaschine, er aber wand sich vor Seelenqual b«t de« Gedank««, datz ji« auch für ihn mitarbeite, und er fühlte sich als Schmarotzer in seinem Heim, trotzdem ihn sein Weib m.t aller Liebe und Zart heit umsorgte. Unablässig hatte er über Möglichkeiten gegrübclt, wie er seine Seele von dieser Last befreien könnte, damit er ruhig aus der Welt scheiden dürfte. So hatte er heimlich angesangcn, Lotterie zu spielen, und der Gedanke war zur fixen Idee ge worden, datz er gewinnen müßte, daß er, der sein Leben lang für die Seinen gestrebt und immer das Beste gewollt hatte, doch noch dafür belohnt werden mutzte. Er kam sich wie ein Dieb vor, wenn er das geringe Einkommen durch den Lospreis noch schmälerte, aber dann dachte er wieder an die große Freude, wenn er gewänne, und mit fiebernder Erwartung sah er jeder Ziehung entgegen. Doch unerbittlich, wie das Unglück ihn zer treten hatte, schritt auch das Glück an ihm vorbei, immer wieder wurde seine verzweifelt hoffende Seele in den Abgrund bitterster Enttäuschung geschleudert. Nun ging auch die Ziehung der letzten Klasse wieder ihrem Ende entgegen, und bisher war es nichts gewesen. Die Hoffnung in ihm war schon erloschen, so datz er auch nicht mehr nach den täglichen Gewinnen In der Zeitung sah. Als ein Hustenanfall seinen Körper ergriff, kam seine Frau herein, stützte ihn, rückte die Kissen zurecht und sprach liebevoll« Worte zu ihm. Er aber konnte sie nicht ansehen. „Latz nur, sorge dich nicht um mich", wehrte er fast schroff ab. Sie aber hört« nicht darauf, und ehe sie aus dem Krankenzimmer ging, ruhte noch einen Augenblick ihr mitleidiger Blick auf ihm. Am Tage darauf kam ein Brief mit der Mitteilung an, datz Petris Nummer mit einem Gewinn gezogen wäre. Mit zittern den Händen griff er nach dem Brief, der nichts Genaueres ent hielt. Er ließ sich die Zeitungen der vorhergehenden Tage geben, doch er fand seine Nummer nicht ausgesührt. Da jedoch einige Zeitungen fehlten, tröstete er sich, datz vielleicht gerade in diesen sein Gewinn enthalten sei. Was werde cs schon sein, vielleicht ein Freilos, meinte die Frau gleichmütig, bereute aber ihre Wort«, als st« die Wirkung des Zweifels auf ihren Mann sah, und sie versprach, sofort zu dem Lotterieeinnehmer zu gehen. Als sie dorthin kam, erhielt fi« den Gewinn sogleich aue- gezahlt. Es waren dreißig Mark. Sie war nicht enttäuscht, ji« Haft« kaum mehr «»«artet. I« näher sie ab«» wird«» ihsem Heim kam, desto zögernder wurden ihre Schritte. Sie wußte, wie sich das erlöschende Leben ihres Mannes an diese letzte Hoffnung geklammert hatte, und sic dachte daran, mit welcher bangen Erwartung er ihreer Rückkehr entgegcnsah, und wie ihn dies nun vernichtend treffen würde. Unschlüssig stand sie noch eine Weile vor dem Hause, und als sie dann langsam die Treppen Hinaufstieg, wußte sie »och immer nicht, wie sie es ihm am schonendsten beibringen könnte. Wie sie ins Zimmer trat, hatte sich ihr Mann auf seinem Lager ausgerichiet und sah ihr mit fiebrig glänzenden Augen entgegen. Sie brachte kein Wort hervor, kam an sein Bett, und ihre Hand strich über seinen heißen Kopf, während ein begütigendes Lächeln auf ihrem Gesicht lag. „Nichts?" fragte er tonlos mit angstvoll stotterndem Blick. „Doch", erwiderte sie lächelnd. „Wieviel?" fuhr er nun auf. „Rate mal", sagte sie hilflos, um Zeit zu gewinnen. „Latz datz!" ries er gequält. „Ach bitte, rate doch", bat sie, denn sie fand nicht Kraft, die Zahl anszusprcchen. „Fünfzehn", begann er zaghaft. „Mehr", sagte sic und lachte ihn an. „Fünfzig?" stieß er aus und richtete sich auf. Sie schüttelte den Kopf und wollte die Wahrheit sagen, aber schon fragte er weiter: „Hundert?" Sie sah nur die Freude auf seinem abgezehrten Gesicht und brachte es nicht über sich, ihn der Täuschung zu entreißen, als er wie gejagt mit heiserer Stimme sortfuhr, während «r ihre Hand ergriff: „Fünfhundert — tausend — fünftausend —* „Halt! Halt!" ries sie jetzt erschrocken und entriß sich gewalt sam dem Bann, d«r ihr Vewutztseiu lähmte. „Ist das wahr?" flüsterte er und sank ermattet zurück. Während sie ihn bettete, um ihre Bewegung zu verbergen, hing j«t« Blick unverwandt an ihrem EesiAt.