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Nr. <1. Seile IS Sonntag. den 22. Februar 1tt2ü Ail-ungsmöglichkeilen -es Kinos Don Richard M u ck e r ma n n - Essen. . . Es glänzt der Asphalt — der feuchte Abendnebel wird von jähen Lichlbiindeln zerrissen — es drängt und schiebt sich in dunkle» Ballen über den Damm — das Volk, zu seinem Thealer, zu seiner Kunststälte, zu seiner Erholung, zu seinem Vergnügen — zum Kino. Und dieses Drängen und Schieben zum Lichtspiel ist nicht gebunden an Ort und Zeit, es ist cüoas so gemeinschaftliches aus dem Erdenrund, fast noch ge- meinscl-aftlicher als der Mensch selbst. Völker, di« sich hassen bis zum Tode — weinen und lochen allabendlich Uber Gleich- empsundenes. jubeln allabendlich den gleichen Sternen der Lein- wand zu. sei es nun Asta Nielsen, Henny Borten oder Iackie Coogan oder Harold Lloyd. Etiva zehn Millionen Menschen auf der weiten Welt besuchen täglich ihre 50 000 Lichtspiel, thcater. Keine staatliche Organisation, keine Presse, kein Roman ivar je so gewaltig, wie diese Sclbstorganisation des kinobesuchen- ben Volkes, dieses Volkes, das seinem Instinkte solgt, geschickt geführt vom Kapital. Und das ist di« eine große Tatsache, die die Bildungsmög lichkeit des Kinos beweist: Zahlenmäßig erfaßt es in größtem Ausmaß die breiten Massen des Volkes. Was nützen die schönsten Ideen in den kunstvollsten Zeitschriften, wenn sie ihre Ziele nicht erreichen. Andererseits, wie furchtbar wieder wirkt sich die Zersetzung aus, ivelche durch die richtigen Kanäle mitten in die Herzen des Volkes geleitet wird. So gleicht der Siegeswg der größten Kulturersindung während der letzten dreißig Jahre jener urwüchsigen, expansiven Gebirgsquelle, die nach ivenigen hundert Metern bereits ungezählte Mühlen treibt. Es kommt nur darauf an, was und wie gemahlen wird in diesen Mühlen. Neben der geivaltigen Universalität des Kinos sst es vor allem seine Psychologie, die uns Ausschluß gibt über seine Bil dungsmöglichkeit. Der Film kann zum Unterschied vom fest stehenden Lichtbild durch den raschen, ruckweisen Lauf und die dadurch verursachte Ueberdeckung von 10 Teilbildchen in der Sekunde auf unserer Netzhaut den natürlichen Eindruck von un unterbrochenen Dewegungsvorgängen Hervorrufen. Und da ge schieht das Eigentümliche, daß. wie alle Bewegungsreize, so auch die optischen, starke Gefühlsäußerungen auslösen, die hinwie derum sich in einer gewissen Erregung des passiven Zuschauers äußern. Etwas Aehnliches finden wir in der Biologie in der Tat sache, daß manche fleischfressenden Tiere auf die tierische Nahrung erst reagieren, sobald sie sich bewegt. In der Bewegung also lügt diese unmittelbare Wirkung aus unser Gefühlsleben. Pro fessor Dr. Ackerknecht, dieser rührige Erforscher des Licht spieles, äußert sich darüber mit Recht: „Es leuchtet ein, daß das Besondere aller Wirkung des Lichtsnieles als der Träger opti scher Bewegungsreize im Gefühlsmäßigen liegt, genauer, in der verhältnismäßigen Stärke seiner gefühligen Faktoren, und daß daher jede bildungspflegliche Wertung des Lichtspieles vor allem dies« ins Auge fassen mutz. So haben wir dann im Kino ein gewaltiges Hilfsmittel. Wissen und Gefühl zu bereichern und zu vertiefen. Es wird heute niemand mehr leugnen können, daß tatsächlich ein großer Teil der kincmatographischen Projektionen direkte Schulung und Bildung zum Endziel haben, nämiich die sogenannten Lehr- und Kulturfilme, die man allerdings erst seit kürzerer Zeit in den Kinos zu bieten ivagt. Da scheint der Film allmächtig zu sein. Es gibt heute kein Gebiet, das nicht mit der Aufnahmekamera erforscht wäre, mit mehr oder weniger Erfolg, und sei es selbst «in philosophisches System. Der Film bedient sich hierbei nicht nur der Reproduktion der wirklichen Natur, sondern auch vorliegender Bilderphotographien, Zeich nungen. Modelle, die er durch Zuhilfenahme verschiedenartigster Tricks verwertet. Nehmen wir zunächst einmal die beweg! chen Vorgänge, welche uns nur der Film vermitteln kann. Da ist zu nächst die Entwicklung der Mikro-Kinematographie und der Röntgenkinematographie von ungeheurer Bedeutung. Dadurch, daß der Ablauf der Bewegung, je nach Be dürfnis, im Bilde verlangsamt oder beschleunigt werden kann, daß man in das Innere des Körpers einzudringen imstande ist. vermittelt uns der Film eine Menge Erscheinungen, di« wir in der Natur überhaupt nicht oder ganz unvollkommen zu sehen bekommen. Ich erinnere nur an die Dewcgungserscheinungcn des Menschen, des Tier- und Pflanzenreiches, an lausende Men schen, galoppierende Pferde, einen Bienenschwarm bei der Ar beit, ausblühende Blumen und dergleichen. Wer interessiert sich nickt für die physiologischen Funktionen des Körpers, zum Bei spiel beim Atmen der Lungen, bei der Verdauung des Magens. Das alles vermittelt uns in lebenswahrer Darstellung der Film. Und so können wir irgendein anderes Gebiet herausgreifen. Dr. Kabus hat in seinem Werk über den Lehrfilm 25 große Gebiete zusammengestellt, die der Film bisher bearbeitet hat, be- ginnend mit der Zoologie, über Länder- und Völkerkunde zur Geschichte. Religion und so fort bis zum Berufsfilm. Aeußerst interessante Bilder waren das Ergebnis, besonders der sogen. Zeitlupen und Zeitrafferaufnahmen, die mit Ver langsamung oder 10- bis Mtausendfacher Beschleunigung Wachs- tumserschcinungen vor Augen führten, z. B. das Keimen einer Bohne, das Knospen einer Roßkastanie, das Aufblühen der Rose, der Viktoria regia. Das, was man bei Tieren als Lebcnsgewohn- heitcn bezeichnet, die Kämpfe, Spiel«, Wanderungen, Flüge und dergl-, hat man im F'iin festhalten können, z. B. Käm'se von Hirschkäsern, der Hochzeitsflug der Bienenkönigin, die Ge burt einer Arbeitsbiene. Neben diesen ausgesprochenen Lehrfilmen muffen wir den Kulturfilm erwähnen. Mit diesem Namen bezeichnet man Filmwerke, welche neben ihrer unterhaltenden Form einen nütz klärt es sich vielleicht daraus, daß ihm dieses Gebiet zu vertraut nmr. um noch poetisch wirken zu können. In den „Albigensern" findet sich die telepathische Erscheinung eines ermordeten Gra sen. Von den kleineren Gedichten sind „Der Naubschätz", „War nung im Traume" und „Der traurige Mönch" zu nennen. In W. Nnabes „Hungerimstor" kommt eine -Hellseherin vor, welche die Verstorbenen auf der Straße herumgehen sieht und davon wie von etwas ganz Alltäglichein erzählt. In der Novelle „Das letzte Recht" wiederum ist ein Wahrtraum einge- slochten. Paul Heyse macht in seinen Werken nicht selten An spielungen auf okkulte Phänomene. In der Novelle „KleoMtra" bringt er sogar die ausführliche Schilderung einer geradezu dra matisch wirkenden Anmeldung einer Sterbenden. In der No velle „Der letzt« Eentauer" wiederum bringt er ein Beispiel für das sogenannte Geistertheater. Der Erzähler steht, in Erinne rungen versunken, um Mitternacht vor einer Wcinkeipe, in der er mit mehreren bereits verstorbenen Künstlern manch fröhlichen Abend erlebt hat. Beim Betreten der Stube findet er die alten Lreunde um den Stammtisch versammelt. Keiner bot ihm die Hand, und auch sonst war ein Zug von Fremdheit, Ernst und Kummer in ihren Mienen. Im Verlaufe dieses unheimlichen Zusammenseins erzählt dann einer der Geister die groteske Ge schichte vom letzten Centauren. Anklämzs an Ucbersiuulichcs finden sich auch bei El. Bren tano, A. ». Chamisso. Jean Paul, Grabbe, Th. Storm, Gutzkow, Mörike und C. F. Meyer. Hainerling l)at als Dichter den Okkultismus kaum be rührt: als Denker hingegen hat er sich ausdrücklich zu ihm be kannt. Im 2. Band der „Atomistik des Willens" findet sich näm lich ein Kapitel „Magische Wirkungen", in welchem er die mei sten okkulten Phänomene erwähnt uird deren Möglichkeit durch- lichen und belehrenden Inhalt aus irgendeinem Gebiete der Wis senschaft vermitteln. Ein guter Kulturfilm ist unter Umstände» noch viel geeigneter als der ausgesprochene Lehrfilm, dem Volke im Kino Bildung und Wissen zu vermitteln, da es in recht ver ständlicher, unterhaltender und weniger ermüdender Form ge schehen kann. Diese, Wissen und Bildung vermittelnden Film« haben na türlich für die weiteren Volksschichten nur einen Zweck, wenn sie auch tatsächlich im Spielplan der Kinotheater verivendet werden. Wie sieht es aber In der Praxis au» mit der Auswertung dieser Bildungsmöglichkeit? Daß Reformgesellschaften, wie auch das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht den bildenden Film propagieren, ist schon etwas, aber nur rin Tropfen auf den heißen Stein. Filmfabrikation und Film Projektion — also Industrie und Kino — das sind in erster Linie die Faktoren, di« be! dieser Frage von Bedeutung sind. Und gerade von diesen Faktoren ist ganz unglaublich gesündigt worden. Dank seines geivaltig schnellen Siegeslaufes wurde der Film für seine In dustrie recht gewinnbringend und meterweise immer mehr „fabriziert". Er kam gar nicht darauf, kulturell zu denken. So ivar es möglich, daß eine Flut von Schmutz und Kitsch in das Volk gebracht wurde. Es entstanden mit Recht scharfe Gegner; es entspann sich ein scharfer Kampf um das Kino. Da kam das Lichtspielgesetz und schloß die Kloake. Größte Unsittlichkeit wurde gcbannt und vor allem die Jugend nach Möglichkeit geschützt. Eine Besserung aber konnte nur von innen heraus kommen. Das erkannte die Industrie und es läßt sich nicht leugnen, daß sie heute auf Reform des Kinos eingestellt ist, wie deutlich der U fa-Dec la-Konzern beweist. Langsam muß vor allem auch der Spielfilm in die Tiefe wachsen. Es geht ihm wie einem zu schnell aufgeschossenen Jungen; Herz und Hirn sind zurück geblieben, er ist unterernährt und falsch ernährt. Bei der Film industrie also bester Wille. Doch, die ich rief, die Geister, die iverd' ich nicht mehr los — „das zieht nicht mehr", „da kommt keiner", „das Volk will etwas ganz anderes sehen", so haben mir viele Theaterbesitzer geklagt. Sensationen, Abenteuer, Sinnen kitzel ist besonders bei jüngeren Leuten der Geschmack, und diesen im Anfang so sorglos gezüchteten Geschmack nun umzulenken, ist freilich nicht so einfach. Das Volk war eben durch die Kinos zu verwöhnt und wird es auch zu einem großen Teil noch heute. Und wenn man manchmal diese Niesenausivahl in den Schau kästen sieht, möchte man schier an der Bildungsmöglichkeit des Kinos zweifeln: Brand, Mord, gesprengte Brücken, wachsende Pflanzen, Schneelandschaften, im bunten Wirbel. — Der Sangui niker sucht sich Charlie El)aplin, „der Choleriker bevorzugt" Schlagende Wetter, der Melancholiker erlebt den „Weltunter gang" in 32 Akten, für den Phlegmatiker haben gerade die Zeit lupenaufnahmen das richtige Tempo, wo alles steht, wenn es läuft, und wo alles schwebt, wenn es fällt. Der Theaterbesitzer sucht sich natürlich durch alle möglichen Gründe zu entschuldigen, vor allem durch die hohe Steuerbclastung. Er hat natürlich auch lieber ein volles Haus als leere Stühle. Der Mangel an guten Filmen ist kein Entschuldigungsgrund mehr, und cs scheint, daß sich auch im Volk allmählich ein Umschwung vollzieht. Jeder sollte grundsätzlich nur die Kinos besuchen, die wirklich bestrebt sind, Bildungswerte zu vermitteln. Es hat sich in den letzten Monaten gezeigt, daß wirklich künstlerisch hochstehende Filme auch guten Anklang gefunden haben. Ich erwähne nur: „Die Nibelungen", „Nintintin". „Der Glöckner von Notredame", „Die zehn Gebote", „Wein. Weib, Gesang", „Nanuk, der Eskimo". „Die Gefahren der Berge", „Mutter", „Schiffbrüchige unter Kan nibalen", „Auf afrikanischen Iagdfeldern" usw. Es ist sehr zu begrüßen, daß die meisten der heutigen Kinos dazu übergegangen sind, Lehr- und Kulturfilme in ihre Pro gramme aufzunehmen. Wie dankbar wird gerade in diesen Wochen der Zeppelin-Film von vielen Seiten begrüßt, der es allen Bewohnern Deutschlands ermöglicht, wenigstens auf der Leinwand den gewaltigen Flug unseres großen deutschen Lust- Kreuzers zu verfolgen. Naturgemäß bietet die Feststellung, ob ein Film künstleri schen oder volksbildcnden Wert hat, erhebliche Schwierigkeiten, die durch die Verschiedenheit der Weltanschauung, der Ge schmacksrichtung, der örtlichen Bedürfnisse und so weiter ver mehrt werden. Die beteiligten Ministerien haben den Versuch gemacht, wenigstens für Filme, deren volksbildender Charakter überwiegt, Zeugnisse einzuführen, die auf Grund einer Prüfung durch sachverständige Ausschüsse ausgestellt werden. Ein der artiger Ausschuß hat sich im Einvernehmen mit den beteiligten Ministerien bei der Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht in Berlin unter dem Namen „Ausschuß zur Begutachtung von Bildstreifen v o l k s b i l d n e r i- schcn Wertes" gebildet. Es ist ihm die Befugnis beigelegt worden, Zeugnisse mit amtlicher Geltung darüber auszustellen, daß bei einem bestimmten, durch den Ausschuß geprüften Bild streifen der volksbildcnde Charakter übevmiegt. Der Film ist noch jung und in rasender Entwicklung. Die Technik wird nicht eher rasten und ruhen, bis sie auf der Lein wand das wirkliche Leben, in seiner echten Plastik, in seiner echten Farbe und in seinen echten Geräuschen findet. Dieses Resultat wird bestimmt nicht allzu lange auf sich warten lassen. Mit der inneren Weiterentwicklung werden auch die Bildungs möglichkeiten des Kinos wachsen. Zugleich wächst aber auch die Verantwortung derer, die dem Volke diese Bildungsmöglichkeit vermitteln sollen. Der große Erfinder Edison sagte einmal: „Der Film ist das machtvollste Werkzeug für GutesundBöfe s." Seinen machtvollen Strom immer mehr in die Bahnen des Guten zu lenken, das ist die Pflicht eines jeden, dem die Seele des Volkes am Herzen liegt. aus zugibt. Er sagt da auch sehr richtig: „Auf diesem ganzen Gebiete kann der Wahlspruch eines vernünftigen und besonnenen Mannes nur sein: ich bestreit« nicht, was glaubwürdige Zeugen berichten." Wenn Hamerling nun aber fortfährt: „Wahrhaft überzeugt sein kann ich jedoch nur von dem, was ich zu- fällig selbst erfahren und erlebt", so muß gegen diese beliebte und im Grunde genommen hochmütig« Behauptung sals ob nur der Sprecher richtig wahrnehmen und urteilen könne) Einspruch erhoben werden. Denn man kann durch das Studium der Litera tur sehr wohl zu einer festen Ueberzeugung von der Tatsächlich keit der okkulten Phänomene kommen; ja, die Erfahrung eines Andern kann sogar wertvoller sein, als die eigene. — Uebrigcns hatte Hamerling ein „absolut beweiskräftiges" Erlebnis. Uber das er in seiner „Prosa" unter der Ueberschrift „Was mir bei einer Hellseherin begegnete" ausführlich berichtet. Da dieses Erlebnis ungewöhnlich merkwürdig ist, sei es kurz wieder- gegeben. Gelegentlich des öffentlichen Auftretens einer Hellseherin hatte Hamerling ein wohlverschnürtes Schächtelchen bereitgeftellt, das eine Haarflechte eines vor vier Jahren verstorbenen Mäd chens enthielt, wovon außer Hamerling natürlich niemand etwas wußte. Das Schächtelchen wurde mit anderen Gegenständen auf einen Teller gelegt und dieser der Hellseherin gereicht. Zu fällig griff sie zuerst nach dem Scl>ächtelchen, um es jedoch als- bald mit Abscheu von sich zu werfen. Wegen dieses sonderbaren Verhaltens befragt, gab sie zur Antwort, daß das Schächtelchen Haare einer Verstorbenen enthalte! Dieses Erlebnis Hamerlings ist auch deshalb bemerkenswert, weil es zu jenen nicht seltenen okkulten Phänomenen gehört, bei denen Sinnestäuschung und Betrug, wie sie von den Gegnern als einzige Erklärungsweisen immer wieder vorgeschoben werden, von vornherein ausgeschlos sen sind. Bon -er russischen Literatur Eine der bedeutendsten literaturgeschichllichen Taten der letzten zehn Jahre ist die Eindeutschung der russische» Literatur. Veranlaßt wurde sie einmal schon durch den Aufentl-alt Io vieler gebildeter Russen in deutschen Städten, besonders in Berlin. Dazu kam ein tieferes Interesse, das aus dem Gefühl gleicher Probleme hier wie dort erwuchs. Im Mittelpunkt der russischen Literatur steht die religiöse und die soziale Frage, also eüvas, das auch in Deutschland im höchsten Grade fesselt. Dabei wirkte selbstverständlich mit die wachsende Hoffnung auf Ruklands Wie deraufbau überhaupt. Der Kommunist wie der Völkische sieh» mit einer ihm ganz eigentümlichen Erwartung auf das Riesen- rcich der unbegrenzten Möglichkeiten, und es wurde ja auch ganz allgemein ein« Annäherung Deutschlands a» das russische Volk sichtbar. Eine Reihe von Veröffentlichungen beziehen sich auf das russische Geistesleben überhaupt. Ich nenne etwa die mit präch tigen Einleitungen versehenen Ausgaben des Dreimaskenver lages, München: Russische Kritiker, Iwan W. Kire- jewski und Peter Tschaadajew. In ihnen komm, schon ein gut Teil des Streites zum Ausdruck, der in den 30er Jahre» begann und Rußland in zwei Hälften schied. Die „Westler", unter ihnen Bielinski, einer der bedeutendsten russischen Kri tiker, suchten alles Heil im Anschluß an den Westen, die „Oest- ler" hinaegen, die „Slavophilen". darunter einer der wichtigste», Kirijewski, wollten mehr die Auswirkung altrussischen Wesens. Waren die einen vorwiegend liberal, so die anderen mehr roman tisch. Tschaadajew steht dabei für sich und deutet schon auf die römische Frage, in der sich für Rußland auch die beiden ander» entscheiden. Denn ein Verständnis für Rom wird einerseits die unbegründeten Vorurteile gegen den Westen aufheben und andererseits die Wiedererweckung der russischen Frömmigkeit und Liturgie bringen, die von Rom nicht angetastet werden sol len Tschaadajew weist schon auf Solvwieff hin, den größ'en russischen Philosophen, der um di« Jahrhundertwende gestorben ist. Seine Werke sind erschienen im Verlag „Der kommende Tag" in Stuttgart. Leider fehlen noch die geschichtlichen Bei Solowieff muß man beachten, daß der Dichter größer als der Denker ist und der Mensch wieder bedeutender als beide Sehr schön, wenn auch vielleicht noch nicht mit Ser hinreichenden Klar heit. hat über Solowieff gehandelt E. M Lange in der Sammlung „Religiöse Geister". Mathias Grünewald-Ver- lag. Gerade dieses hier und da nicht leicht geschriebene Büchlein möchten wir wärmstens empfehlen. Es ist als erste Einführung ganz hervorragend. Dem allgemein in die Psyche des russischen Volkes einführenden, sehr lesbar geschriebenen Bucke' „Die religiöse Seele Rußlands", von Professor Haas«, sind in jüngster Zeit die Dokument« „Oestliches Christentum", heraus- gegebcn von Hans Ehrenberg, gefolgt, die sehr wichtige und all gemein interessierende Texte enthalten. (T. H- Beck, München.) Erwähnt seien noch Maxim Gorkis, allerdings mit Vorsicht zu lesenden Aufsätze, die in dem Buch „Zerstörung der P e r sö n li ch Ke i s", Rudolf Kämmerer Verlag, Dresden, ge sammelt wurden und wohl geeignet sind, übertriebenen Schwär mereien für Rußland ein Ende zu machen. Auch auf Oskar Blums „Russische Köpfe" sei noch eben hingewiesen; Franz Schneider Verlag, Berlin-Leipzig, das prächtige, äußerst anschau liche Skizzen über die meistgenannten Sowjetführer der Gegen wart bringt. An literaturqeschichtlichen Werken liegt eine hübsche Ausgabe von Brückner In Jedermanns Bücherei vor. Ferdinand Hirt, Breslau, die allen Anforderungen auf engem Raume genügt. Ein wahres Kabinettstück feinster Charakteri- sierunoskunst ist die Russische Literaturgeschichte von Alexan der Eliasberg, T. H. Beck, München. Sie ist ein durchaus zuverlässiger Führer durch dieses ganze, uns noch so fremde Ge- bist. Als jüngste Neuerscheinung ist dazu getreten eine Literatur geschichte größeren Umfanges mit Illustrationen von Arthur Luther, Bibliographisches Institut. Leipzig. Luther ist viel leicht der bedeutendste und belesenste, auch im wohltuenden Sinn« nüchternste aller Rußlandkenner der Gegenwart. Zahlreich sind die Uebersetzungen aus der russischen klassi schen Literatur. Von Arthur Luther herausgegÄen sind di« Werke Puschkins, Gogols, Turgenjews, Vermon ts ws, sowie Meisterwerke der russischen Bühne, alle im Bibliographischen Institut, Leipzig. Puschkin ist der eigentliche Begründer der ruffischen Literatur, ihr erster und am Ende bedeutendster Dichter. In Lyrik, Drama, wie Erzählung hat er sich gleichermaßen bewährt. Bei aller Tiefe bleibt doch immer die feine, mit Liebe am Werk geformte künstlerische Linie eines Menschen, der am Geschmack vielleicht nur in England seinesgleichen hat. Ein« hübsche Er-ählung von ihm, dl« P > gue Dame, ist in einem besonderen Prachtband im Newa-Verlag, Berlin, herausgekommen. In geradezu fürstlicher Friedensaus stattung schenkte uns der Verlag Olga Diakow und Co., Berlin W. 62, drei von Puschkins besten Märchen. Ein für die Kenn« Zeichnung der russischen Art entscheidendes Gedicht „Der Rei- ter aus Erz" erschien im Orchis-Verlag. München. Von Ler- montow, der zu den beliebtesten Dichtern Rußlands gehört, kam ebenfalls Im Orchis-Verlag sein bedeutendstes Werk „Der Held unserer Zeit" noch einmal heraus. Mit Recht wird Ler- monto-w der russische Byron genannt, er, der ein Zerrissener war, ein „ewig Suchender", „in dessen Brust Himmel und Hölle sich befehdeten". Wärmstens empfehlen möchte ich die Geschichte Pam sin von Lcskow, Orchis-Verlag, den Tolstoi sogar einmal über Dostojewski stellte. Für weiteste Kreise ist ebenfalls wie diese Geschichte, Alexanders Puschkins „Die Erzählungen Vjelkins" ganz besonders geeignet. Diese beiden Bücher ge hören zu der schönsten Erzählungsliteratur der Welt. Schwie riger für das Verständnis sind die echt poetisch ausgefaßten und in seltenster Feinheit wiedergegebenen Visionen von Turgen- ew im Amalthea-Verlag, Zürich, Leipzig, Wieg. Erwähnt sei auch noch die phantastische Novelle von A. K. Tolstoi, „Der Vampyr", di« hohen Kunstforderungen genügt und zuoleich sehr packend geschrieben ist (Orchis-Verlag. München). Im Newa- Verlag, Berlin, erschien noch Alexander Block, die Zwölf, be rühmt gewordene Gedichte; der stärkst« dichterische Ausdruck der bolschewistischen Revolution. Eine ausführliche Einleitung sorgt» für Aufhellung mancher Dunkelheiten. Zum Schluß noch einiges über Tolstoi. Seine Tage bücher, die bei Eugen Diederichs herausgekommen sind, eignen ich nicht für unreife Leser, bieten aber dem philosophisch Vor» gebildeten viel. Neben tiefsinnigen Stellen über das Göttliche in- darin enthalten harte Angriffe gegen eine Kirche, die Tolstoi nur immer im Zerrbild sah. Hingegen sind hervorragend, natür lich auch nur für Reifere, sein Roman einer Ehe, seine Volkserzählungen, O. C. Recht, München, und vor allem das wundervoll« Buch Leo Tolstois Knabenalter, in Recht» Romanreihe. ' Weniger vorsichtig in pädagogischer Hinsicht als bei Tolstoi braucht man bei D o sto j e w sk i zu sein, der heute zu den Lieb, lingen der Volksbibliotheken gehört. Denn Dostojewskis Ehrl« tentum, obwohl in mancher Richtung angekränkelt oder zu rus- isch, ist doch Im tiefsten gläubig und echt, während Tolstoi nie- mals aus Buddhismus und Pantheismus herausgekommen ist. Nur, daß Dostojewski an sich, wieder gereifte Menschen voraus setzt. Wie mir Kenner versichern, Ist di« neue russische Literatur tark versumpft, wie so manche andere europäische auch. Das darf uns aber nicht abhallen, die klassische, die so edel in ihrer Sprache, so reich an Ideen, so lebenssrisch in ihrer Art ist, unserm Volk zuzuführen. Sie versteht nicht nur zu unterhalten, andern auch zu wecken, und kommt alles in allem mit ihre» Wurzeln aus christlichem Boden. M.