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Nummer 211 — 23. Jahrgang Omal wöchtl. Bezugspreis: f. September 2 R.-M. auSschl. Bestellgeld. Berechnung der Anzeigen nach Rent..Mark. Preise: Die eingespaltene Petitzeile 30 f. Familien« u. BereinSanz., Gesuche 20 H. Die Pet't-Reklamezeile 89 mm breit, 1 Offertengebühr für Selbstabholer 20 H, bei Uebersendung d. d. Post außerdem Porto« zuschlag. Preis s. d. Einzelnummer 10 Renten-Pfennig. Geschäftlicher Teil: Jotef Fohmann. Dresden. SiicklWe Donnerstag, 11. Sept. 1924 Im Falle höherer Gewalt erlischt jede Verpflichtung auf Lieferung sowie Erfüllung v. Anz.-Austräge» u Leistung v. Schadenersatz. Für undeutlich u o. Fernspr übermittelte Anzeigen übernehmen wir keine Ver antwortung. Unverlangt eingesandte u. mit Nlickport: nicht versehene Manuskripte werden nicht ansbewahrt Sprechstunde der Redaktion k bis 6 Uhr nachmittags Hauptschriftletter: Dr. Joses Albert. Dresden Tageszeitung für christliche Politik und Kultur GesckiüftSftell« der Sächsischen Volks,eltuug und Drink und Verlag > Snronla-Buchdnickerel GmbH.. ^ DroSden-A. IS, Lolbeliislratze 4S, Fcruru! MLL, Polt- scheckkonioDreSden 1479? IliWiiIliiiig M Wk»' Ae Well litt Mil« Hz lieue Ml> Redaktion der Sächsische» Volks,eitung Dresden - A. 16 HolbcinllragelS. gernrnl S27L2 und 3SK38 Tessiner Eindrücke Um den Achtstundentag Nie KMeiir ln Am Bern, 10. September. Die Konferenz der Arbeitsminister Englands, Frankreichs, Belgiens uno Deutschlands beriet gestern nachmittag, nachdem sie am Montag die Erklärungen der einzelnen Länder angrhört hatte, über die einzelnen Artikel der Washingtoner Kon vention über den Achtstundentag. Es wurde bereits über verschiedene Fragen eine Uebercinstiminnng erzielt. Man hegt die Hoffnung, bald zu einer Verständigung z» gelangen. Die Minister sinv von ihren technischen Beiräten begleitet, die an den Ver handlungen ebenfalls tcilnehmen. Der deutsche Arbeitsmin'stec ist von den Sachverständigen Dc. Schnitzler und Dr. Rnfele.r begleitet. Ter belgische Arbeitsminister gab einem Schweizer Ver treter gegenüber folgende Erklärung ab: Belgien ist bereit, das Washingtoner Abkommen anzuerkenne», aber unter drei Bedingungen: 1. müssen alle Länder dem Abkommen An stimmen. 2. Die gesetzliche Voraussetzung für seine Durch führung schaffen. 3. Muß Deutschland sie annehmen, und darf sich nicht auf seine internationalen Verpflichtungen berufe», um eine längere Arbeitszeit als die anderen Staaten elnzuführsn. England hätte sich bereit erklärt, ohne Rücksicht auf die Maßnahmen der anderen Staaten dem Washingtoner Abkommen. Ml»izi«s M Mli Bedeutsame Erklärungen des Papstes. Rom, 10. September. Eine Anzahl Studenten brachten im Vatikan dem Heiligen Bater ihre Huldigung dar. Dieser dankte und hielt dabei eine Rede, in der er sich gegen diejenigen wandte, die behaupteten, der Papst solle sich nicht um Politik kümmern. Nachdem der Papst die Notwendigkeit einer ernsten poli tischen Erziehung betont hatte, sagte er über die Mitarbeit der Katholiken mit den Sozialisten in anderen Ländern, es gebe erstens Verschiedenheiten der Verhältnisse unter historischen Voraussetzungen. Dann aber gebe es einen wesentlichen Unter schied zwischen der Mitarbeit mit einer Partei, die schon im Besitze der Macht sei, und der Begünstigung des Aufkommens dieser Partei. Der Papst bedauerte, daß die Katholiken sich untereinander bekämpften, und daß es solche gebe, die bei einer Partei mitwirkten, die sich als akonfessionell bezeichne. MlenM Wi> MMMWe Essen, 10. September. Zn den Meldungen über eine bevorstehende E r m äßig n n g der Kohlenpreise hört man, daß die Organe der Kohlen- wirtschast sich tatsächlich mit der Frage einer Ermäßigung der Kohlenpreise um 10 v. H. beschäftigen. Dabei kommt aber zunächst nicht das Nuhrgebict, sondern die übrigen Kohlenreviere in Betracht. Innerhalb oeS RnhrkohlcnLergbaues hat man sich mit der Frage einer weiteren Ermäßigung der Kohlcnpreise bisher nicht befaßt. Diese Frage ist für die Nuhrkohle im Augenblick auch weniger akut, da infolge der Differenzen inner halb des Syndikats im allgemeinen nur auf dem Nnhrkohlen- markt verkauft wird und zunächst z» Preisen, die durchschnittlich noch wesentlich mehr als lO v. H. unter den offiziellen Preisen des Syndikats liege». Die vier Bergarbciierverbände haben den Schiedsspruch über die Lohnregelung bei den südlichen Randzechen des Ruhr- gebietes ab ge lehn t. Die Grnppe der Heizer, Maschinisten uno Uebertagcarbeiter des christlichen MetallarbciterverbandeS hat den Schiedsspruch ebenfalls abgelehnt. M SIMM« Brüssel, 10. September. Nach einer Meldung des „Petit Parlsien" aus Brüssel haben ln Frameries die ausstän digen Grubenarbeiter Ingenieure und Gendarmen angegriffen. Die Streiklqge nimmt eine äußerst kritische Wendung an. Die Grube Flenu steht vollkommen unter Wasser. Vor deren In standsetzung wird voraussichtlich eine Reihe von Monaten ver streichen. Die Arbeitgeber l>aben einen Kompromißvorschlag der gemischten Grubenkommission angenommen, wonach die Lohn verkürzungen bestimmter Arbeiterkategorien in möglichst ge ringer Form vorgenommen werden sollen und die Regelung der Lohnfrage einem Ausschuß überwiesen wird. Die Arbeiterver treter werden diesen Vorschlag ihren Organisationen unter breiten. Wien, 10. September. Eine Vollversammlung des In dustriellenverbandes faßte gestern nach ziveistündiger Beratung einen Beschluß, in dem der Auffassung Ausdruck ge geben wird, daß eine Lohnerhöhung von der Metall-In dustrie in der jetzigen schweren Krisis nicht getragen werden könne. Das Bestreben, die materielle Lage der Arbeiterschaft wirklich zu verbessern, könne nur von der Grundidee ausgehen, das Roheinkommen zu erhöhen, ohne die Produktionskosten zu steigern. Der Beschluß des Industriellenverbandes wurde so gleich dem 40er-Ausschuh der Metallarbeiter mitgeteilt, der gleich darauf zur Stellungnahme zusammentrat. Die Streik-Be wegung unter den Metallarbeitern hat heute noch weiter um sich gegriffen und umfaßt jetzt etwa 24 000 Arbeiter. FWllM uild Die Weihe (Drahtbericht unserer Berliner Vertretung.) Paris, 10. September. In der französischen Presse war bereits mehrmals in der letzten Zeit die Frage erörtert worden, ob Frankreich an der Zeichnung der 800-Millionen-Anleihe teilnehmen soll. Der „Matin" schreibt in einem Leitartikel, daß die Frage der fran zösischen Beteiligung jetzt gegenüber den französischen Bank kreisen von amerikanischer Seite angeschnitten worden ist. Der amerikanische Staatssekretär für Finanzen, Mellon, hat bei seiner Anwesenheit in Frankreich gegenüber dem Gouverneur der Bank von Frankreich Rubin at sich dahin ausgesprochen, daß eine Beteiligung Frankreichs an der Anleihe, wenn auch nur in ganz geringem Umfange, erwünscht wäre. Die Anleihe sei in den Bereinigten Staaten nicht populär und die deutsch feindliche Stiinmung in der Masse sei noch zu stark. Daher sei das Publikum der Zeichnung im allgemeinen wenig geneigt. Der Widerstand würde sich aber sehr leicht beseitigen lassen, wenn Frankreich einen Teil der Anleihe selbst zeichne. Man könnte dann den amerikanischen Zeichnern sagen: Seht her. sogar Frankreich hat an dieser finanziellen Operation teil- genonimen, die weniger Deutschland, als ganz Europa aus die Beine Helsen soll." Mellon sei jedoch auf heftige Widerstände gestoßen. Man habe ihm entgegnet, daß Frankreich bereits Milliarden in die Reparationen hineiiigesteckt habe. Seit 1841 sei keine deutsche Anleihe an der Pariser Börse mehr notiert worden. Auch widerspräche es dem patriotischen' Gefühl der französischen Finanzincinner, eine Anleihe zu zeichnen, die aus Goldmark laute. — Mellon habe darauf vermittelnde Vorschläge gemacht. Der französische Anteil, der nicht mehr als !> Prozent des Gesamtbetrages der Anleihe ausmachen sollte, könnte in Dollars gezeichnet werden, so daß Frankreich dieses Geld gewissermaßen nicht Deutschland, sondern den Vereinigten Staaten liehe. Frankreich habe außerdem ein starkes Interesse an der finanziellen Kontrolle Deutschlands teilzunehmen. Obgleich eine Lösung dieser Frage noch nicht vorliegt, kann als wahrscheinlich bezeichnet werden, daß Frankreich sich unter dem Drucke Amerikas mit 10 Millionen Dollar, also einem Nominalbeträge von 40 Millionen Goldmark an der Anleihe beteiligen will. Nie FW m her hMenMerenz (Drahtbericht unserer Berliner Vertretung.) London, 10. Seplember. „Daily Mail" schreibt: Zum ersten Male seit vielen Jahren ist dem schottischen Kohlenexport nicht die gesamte Lieserung von Kohlen für die schwedischen Eisenbahnen zuge sallen. Bon 29 500 Tonnen Gesamtbedarf seien 12 000 Tonnen bei deutschen Zechen und nur 17 500 Tonnen bei schottischen Zechen In Auftrag gegeben worden. Tnnisid, einer der bekanntesten schottischen Kohlenexporteure erklärte, daß der schottische Anteil mit Rücksicht auf die deutsche Bewerbung beschränkt worden sei. Daß der schottischen Industrie ein so großer Teil dieses bedeutenden Auftrages entgangen sei. wäre umso inehr zu bedauern, als infolge des Absatzmangcls schon ein Teil der schottischen Gruben hätte geschlossen werden müssen. Die Schließung weiterer Gruben stehe nun bevor. (Von unserem Sonderberichterstatter.) Lugano, 8. September 1924. An der Alpen Trümmerpforte Liegt Lugano grünbekränzt. Scheerer. Dem Herbstlichen Norden entfliehend, bin ich im villen- Umsäumten, in üppiger südlicher Vegetation prangenden Lugano angelangt. In dem zauberisch schönen Gartengesilde der Südschweiz, glaubt man sich bereits nach Italien verhetzt: hier wie im vielbesungenen apenninischenSonnenlanüe, dem Ziel unserer Reise, sind Himmel, Natur und Sprache die gleichen. Wenige Schritte vom Bahnhof entfernt, nimmt mich die von Franziskanerbrüdern aus Waldbreitbach geleitete Pension Edel weiß auf, die mit einer eigenen Kapelle ausgestattet ist, in der das Atterheiligste aufbewahrt wird. Die den See entlang füh rende, schattige Kastanienallee bildet Mittelpunkt und Tummel platz der Fremdenkolonie. Entzückend ist von dort aus die Be trachtung der Abendbcleuchtung, von der der Tessiner Laviz- zari sagt: „Eine Szene von unvergleichlicher Schönheit, welche die Seele mit süßer Rührung füllt, stellt der Moment dar, da die Sonne dem Horizont sich nähert. Von Purpur und Gold erglänzende Wolken bilden eine Strahlenkrone um das schwin dende Gestiry, ein goldener Schein umzieht die Fläche des Sees und die Erde: die Berggipfel flammen, um sich bald in schwarze Schleier zu hüllen. Vom glitzernden Seespiegel steigt einsam die Pyramide des Salvators auf und wirft weithin ihren Schat ten, die Feier eines erlesenen Tages beschließend." Seit einem Vierteljahrhundert ist im Tessiner Kanton ein ansehnlicher Auf schwung in wirtschaftlicher Beziehung zu konstatieren. In seinem Klima, seinen Wasserkräften und seinem Boden besitzt er für alle Zeiten unversiegbare Quellen des Wohlstandes. Seit der Eröffnung der Gotthardbahn hat sich die Bevölkerung von Chiasso und Biasca verdreifacht, die von Bellinzona verdoppelt, die Granitindustrie in ungeahnter Weise entwickelt. In Lugano, Locarno, Fcrida, Rodi-Fiesso und in Airolo gelangte die Hotel- Industrie zu hoher Blüte. Dadurch, daß seit den Zeiten des Mittelalters die Schwei zer Herrschaft dem Tessin einen absoluten Frieden garantierte, konnten die Untertanen, zumal sie von den militärischen Ob liegenheiten ganz befreit waren, ihre ganze Tätigkeit der Kunst und t>em Kunstgewerbe widmen. Ganze Geschlechter von Bild hauern und Architekten sind entstanden, die in Mailand, Pavia, ln Rom und Venedig seit Jahrhunderten eine ununterbrochene Tätigkeit entwickelten. Wir denken da an die Künstlerfamilien Gaggino von Bissone, an die Maderna und Nodari von Maroggia, an die Fossati von Morcote, die Solari, Aprile und Casella von Carona, an die Fontana von Melide. Ganz eigenartig und überraschend mutet den Fremden zum erstenmal das Glockenspiel an, das die meisten Kirchen des Tessins mit denen der Lombardei gemein haben. Zuerst ein dumpfer Glockenschlag, dann eine lange Pause, man hält den Atem an und wartet; wiederum ertönt dumpf und hohl der gleiche Schlag, dann fallen die andern Glocken ein. Die ein fache Melodie verweht in der zitternden Luft — dann wieder das einförmige, hohle Schlagen und die Melodie. „Wie wenn eine klagende Seele aus dem Glackenstuhl ihre Rufe durchs Land erschallen ließe, als ob ein leidgebeugter Mensch der Welt seinen Schmerz offenbaren wollte, jammert und seufzt der Glockenton durch die Gassen, schleicht durch die Reblauben an die steilen Hänge hinauf und wird verweht." Häufig liest man bei den Wanderungen durch Tessiner Ort schaften auf Wirtshaüsschildern das Wort Canvetto, wodurch angedeutet wird, daß hier Wein in Kühlen Grotten lagert, die meistens durch abgebröckeltes Felsgestein auf natürliche Weise entstanden sind. Berühmt sind die Canvetti von Mendrisio, von Lapolago, von Melide, Caprino, von der Rovano bei Cevia usw. An Sonntagnachmittagen in der Sommerszeit bilden diese Grotten das ersehnte Ziel vieler Bauern- und Arbeiterfamilien. Dort schwingt das junge Volk, nach den quiekenden Tönen einer Ziehharmonika das Tanzbein, während die älteren Semester sich am Boccia- oder Moraspiel erfreuen.' Erlaubt die Witterung nicht den Aufenthalt im Freien, so wird im rauch geschwärzten Gastzimmer dem Kartenspiel gefrühiit,. wovon am beliebtesten Tresetie oder Scopa ist; weniger verbreitet ist Tarok. Nach altem Herkommen geht der Tessiner im Herbst dem Vogelfang nach. Wenn die armen gefiederten Sänger die hohen Berge überflogen haben und sich müde und matt von der lan gen Reise auf den Gipfeln der Voralpen njsberlassen, um dann nach kurzer Rast ihren Streifzugi nach dem^Eiiden anzutreten, Kird ein guter Teil mittelst Leiiftstuten, Schlingen und Netzen abgefangen. Fragt man nach deif Ursache dieser festeingewur- zelten Leidenschaft, so erfährt man, Latz die Negierung jahr hundertelang den Erwachsenen wenig anderweitige Vergnügun gen gestattete. Aus politischen Gründen hatten die Schweizer ihren Untertanen das Scheibenschießen untersagt. Turn- und Gesangvereine kannte man in damaligen Zeiten noch nicht, ebensoivenig gab es Leihbibliotheken in den kleinen Ortschaften, In denen es vor 70 Jahren noch an Elementarschulen mangelte. So gab sich der Tessiner in seinen Mußestunden dem Iagdver- gnügen hin, und da die Landvögte nur einer sehr beschränkten Zahl ihrer Untergebenen das Tragen von Flinten gestatteten, kam der Vogelfang mit Netz und Schlingen hoch. Am belieb testen mar die Jagd mit dem Roccolo (Vogelherd), die auch in ganz Oberitalien im Schwung ist. Mit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung (1874) wurde löbiicheriveise in der ganzen Eidgenossenschaft der Vogelfang mit Netzen und Schlingen ver boten. Die Gipfel der Berge von Verzasca, von der Riviera, vom Blenio und von der Basso Lcventina sind mit dunklen Tan nenwäldern bedeckt, manche tragen eine stete Schneekapuze (wie der Pizzo Magno oberhalb. Biasca), während zu ihren Füßen die Traube reifk Aber der in den Tessiner Tälern vor herrschende Baum, vom Batte die Muggio bis zur Bossa Leven- tina, ist die eßbare Kastanie. In den geschützten Tälern ge deihen außerdem Maulbeerbäume, Mandel- und Pfirsichbäume, den Rebstock trisst man noch bis über 2000 Fuß Höhe über dem Meere an. Von den Kulturpflanzen wird besonders Mais, Wein, Tabak, außerdem Getreide, Hanf angebaut, an manchen Stetten sieht man wildwachsende Lorbeer- und Feigenbäume üp pig gedeihen. Selbst der Oelbaum ist an den Seeufern reich lich vertreten: mit den «inzelstehenden Pinien und Zypressen verleiht besonders er der Landschaft ein italienisches Gepräge.