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Deutscher Reichstag. Sitzung vom 27. Mai, 11 Uhr 18 Minuten. Die dritte Lesung der Reichsversicherungsordnung wird fortgesetzt und zwar bei der Generaldebatte. Abg. Fischer-Berlin (Soz.) polemisiert gegen den Abg. Trimborn. Die Nationalliberalen wollen wieder an die Regierungskrippe kommen, sie verbünden sich mit dem Zentrum, um diesem Essen und Köln zu sichern; die Libe ralen sollen dann einige andere Mandate erhalten. Die Nationalliberalen sind schuld an der heutigen Gestaltung der Reichsversicherungsordnung. Das Zentrum hat die Vorlage noch verschlechtert, zum Beispiel bei der Waisen- sürsorge. Abg. Horn-Reusi (Ntl.): Das Werk ist das größte, wenn wir von dem Bürgerlichen Gesetzbuche absehen, was bisher im Reichstage zum Abschlüsse gebracht worden ist Es ist schon ein Wunder, daß die Vorlage bis zur dritten Lesung gediehen ist. Das danken wir hauptsächlich der eif rigen Tätigkeit in der Kommission, bei der die Regierung hervorragenden Anteil genommen hat. Ein Ideal ist das Werk freilich nicht, denn eine Anzahl von Wünschen mutz- leu zurückgestellt werden. Bei den sozialdemokratischen An trägen handelt es sich um unerfüllbare Forderungen, die die Industrie leistungsunfähig und die Arbeiter brotlos machen würden. (Sehr richtig!) Gegenüber dem Anslande steht Teutschland noch einzig da. Soweit keine Mißstände be stehen, wird die Selbstverwaltung nicht angetastct. Durch die Reichsversicherungsordnung gewinnen wir wieder einen großen Vorsprung auf sozialpolitischem Gebiete vor allen Kulturvölkern. (Lebhafter Beifall.) Staatssekretär Dr. Delbrück: Der Entwurf hat durch bic Arbeiten des Reichstages manche Veränderung erfahren, die ich nicht wünschte. Die Richtlinien des Entwurfes sind vielfach verschoben worden. Die drei Versicherungsarten sind verschiedenartig aufgebaut und ihre Vereinheitlichung ist nicht so leicht. Wenn ich mir bei der Neuorganisation auch dieses oder jenes anders gewünscht hätte, so ist es doch cin Fortschritt, daß wir einen gleichmäßigen Jnstanzenzug bekommen haben, dem die Krankenversicherung eingefügt ist. Um eine Beschränkung der Selbstverwaltung handelt es sich bei den Krankenkassenverwaltungen nicht. Dieses Gesetz bringt die Krankenversicherung außer für die Landarbeiter auch für die Heimarbeiter und nichtständigen Arbeiter. Da zu tritt die Versorgung der Hinterbliebenen. Wir haben hier geboten, was wir bieten konnten. Die Annahme dieses Gesetzes wird einen erheblichen Fortschritt bedeuten, des halb freuen wir uns, daß es uns gelungen ist, uns mit der größeren Mehrheit des Hauses zu einigen. Wir werden aus der Kampagne herausgehen mit dem Bewußtsein, ein gut Stück vaterländische Arbeit geleistet zu haben. (Leb haftes Bravo!) Abg. Korfanty (Pole): Den Aktiven dieses Ge- icyes stehen so viele Passiven gegenüber, die insbesondere nir unsere Landsleute so große Nachteile bringen, daß die Vorteile des Gesetzes weit überwogen werden. Anderseits wollen wir die Vorteile nicht von der Hand weisen und, um gerecht zu sein, werden wir zum Ausdrucke dafür, daß wir für die Verschlechterungen die Verantwortung nicht über nehmen wollen, uns bei der Abstimmung der Stimme ent halten. Abg. Becker-Arnsberg (Ztr.): Bei diesem Gesetze waren die Kompromisse mehr als bei anderen eine Not wendigkeit, sonst wäre es überhaupt nicht möglich gewesen, die Ncichsversicherungsordnung jemals zustande zu bringen. Ein Kompromiß mit den Sozialdemokraten war nicht mög lich, da sie unter allen Umständen das Gesetz ablehnen woll ten. Auch mit der Fortschrittlichen Dolkspartei war es nicht möglich. Praktische Sozialpolitik ist mit ihr noch nie mals zu treiben gewesen. (Oho! links. Sehr richtig! im Zentrum.) Tie Folge des Verhaltens dieser Partei wird sein, daß sie bei den nächsten Wahlen mit den Sozialdemo kraten in einen Topf geworfen wird. (Sehr richtig!) Die Haltung der Sozialdemokraten gegenüber der Herabsetzung der Altersgrenze entspricht nicht der Haltung, die sie auf ihren Parteitagen eingenommen hat. In Jena haben sie den Antrag auf Herabsetzung auf das 65. Lebensjahr ab gelehnt. (Hört, hört!) Wenn man die damalige Rede des Abg. Molkenbuhr durchlieft, so kommt man zn dem Ergeb nisse, daß die Sozialdemokratie jetzt geradezu im Interesse des Großgrundbesitzes und gegen die Interessen der Ar beiter handelt. (Beifall.) Abg. Dr. Mugdan (Vp.) polemisiert gegen den Abg. Becker. Abg. Becker (Ztr.): Daß die Reform, die jetzt mit der Neichsversicherungsordnung angenommen wird, eine muster gültige sei, behaupten wir keineswegs. Die Reichsversiche rungsordnung wird aber eine geeignete Grundlage zur Weiterarbeit sein. Abg. Molkenbuhr (Soz.) wendet sich gegen die Ausführungen des Abg. Becker betreffend die Altersgrenze. Damit schließt die Generaldebatte. Die Spezialdebatte wird auf Montag 11 Uhr vertagt. Schluß )T7 Uhr. 5S. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands in Mainz. («.—1«. August 1U11.) Anträge für die vom 6.—10. August in Mainz tagende 58. General- Versammlung der Katholiken Deutschlands mögen baldigst bei dem Unterzeichneten ersten Vorsitzenden der Nedner- kommission eingereicht werden. Unter Hinweis auf die Geschäftsordnung wird ausdrücklich bemerkt, daß Anträge, die später als vier Wochen vor dem Beginn der Versamm lung, d. h. nach dem 9. Juli, einkommen, auf Beratung nicht rechnen können. Mainz, den 23. Mai. Die Rednerkommission: Dr. Bend ix, Domkapitular. Kirche und Unterricht. si Die Hauptverhandlung gegen Pfarrer Jatho wird erst nach Pfingsten stattfinden. Jathos Beistände. Professor Baumgarten-Kiel und Pfarrer Traub-Dortmund, haben den Vorsitzenden des Spruchkollegiums gebeten, ihnen ge mäß de» 8 8, Absatz 2 des Jnlehrengrs tz>'s Einsicht in die Akten zu gestatten und Kenntnis von der Geichättkordnung zu geben, nach welcher die mündlichen Verhandln! gen ge- hcmdhabt werden. Hierauf wmde ihnen der Bescheid, daß die vorgesehene Geschäftsordnung, sobald sie dem Gesetz entsprechend festgesetzt sei, öffentlich bekannt gemacht werde. k Inspektion der italienischen Seminare. Vor einigen Jahren wurden alle italienischen Seminare durch apostolische Visitatoren inspiziert. Aus Grund der Ergebnisse dieser Inspektion verfügte Papst Pins X. eine vollständige Reorganisation dieser Institute. Nun will der Papst die ersten Resultate dieser Reorganisation wissen. Er hat zu diesem Zwecke eine große Anzahl neuer apostolischer Visitatoren für ganz Italien ernannt, von denen einige bereits ihre Tour begonnen haben. Vermischtes. V Chinesische Heilmittel gegen die Pest« Der heroische Kampf der Aerzte, Missionäre und Missions schwestern gegen die furchtbare Seuche der Lungenpest er forderte gerade in China riesigen Entsagungsnint und höchste- seelische Kraftanspannung, mußte doch der panische Schrecken, der von der grauenhaften Todesernte ausging, die apathi schen, allein Europäischen feindlich gegenübcrstehenden Re gierungen erst mürbe machen, damit sie den einfachsten Maß nahmen der Vernunft Recht verschafften. Anderseits bilde ten die abergläubischen, verblendeten Volksmassen täglich neue Hindernisse. Einen ungemein interessanten Beitrag zn dieser Sachlage und zugleich ein beredtes Zeugnis für die todcsverachtende Nächstenliebe der katholischen Missions stationen liefert I>. Gäng mit einem Aufsatze in der neuesten (Juni-) Nummer der rühmlichst bekannten „Katholischen Missionen" (Freibnrg, Herder, jährlich 12 Hefte 5 Mark), dem wir nachstehendes bemerkenswerte Detail entnehmen.1 Die breite Masse der Bevölkerung hatte von dem heran ziehende» Nebel keine Ahnung und dachte an keine Vorkeh rungen. In einem nahen kleinen Dorfe starben an einem einzigen Tage elf Personen an einer fremdartigen Krank heit, wie die Leute sagten. Auf einem Rundgange entdeckten die Frauen in der westlichen Vorstadt drei Leichen; daneben waren drei Frauen mit dem Anfertigen der Totenkleider be schäftigt, mußten aber ihre Arbeit bald einstellen, da sie aufs Krankenbett sanken. Indes konnten sie sich nicht dazu ver stehen. ins Jsolierspital zn gehen. Tags darauf waren sie tot und die übrigen Familienmitglieder schon von der Seuche angesteckt. So starben in weniger als einer Woche sämtliche 16 Personen. Es war eine herzzerreißende Szene, die Sker- bendcn und die Toten, darunter ein neugeborenes Kind, durcheinander liegen zu sehen. Wie die Berichte unserer Missionäre aus dem Innern lauten, hat sich die Epidemie an mehreren Orten gezeigt und viele Opfer gefordert. Der Mandarin in stzechiä, der ohne Zweifel als Retter seines Volkes berühmt werden sollte, veröffentlichte ein großes Dekret voll echter Chinescnweishcit, worin er seine Schutz befohlenen über die Pest und deren Heilmittel anfklärte. Es — 8 — Als Lesbia beflügelten Schrittes über den schmalen Fußweg eilte, hatte sie die Empfindung, als bedeute diese Nacht den Höhepunkt ihres unglücklichen Daseins. Seit dem vor zwei Jahren erfolgten Tode ihrer Mutter war sie notgedrungen eines Hausgenossin ihres Onkels geworden, und obschon man sie nicht gerade unfreundlich behandelte, fühlte sich ihre zartfühlende, empfind liche Natur abgestoben von dem Mangel an jeglicher Wärme, der in diesem Hanse herrschte. Die zynische Selbstsucht Roger Daubenys, die brutale Ge nußsucht Jninans und — späterhin — die kriechende Bewunderung in James Reynells schlauen Augen machte sie förmlich krank. Dazu kam noch der düstere Eindruck, den das Marschland auf sie machte und der das Gefühl der Einsam keit immer schärfer in ihr hervortreten ließ. Der einzige Lichtpunkt in dieser torstlosen Existenz war die Bekannt schaft, die sie rein zufällig mit Leonard Wynter gemacht hatte. Wohl kannte sie ihn wirklich nur „oberflächlich", wie sie dem guten Doktor Argles errötend gestanden hatte, aber das hinderte sie nicht, mit besonderer Vorliebe des küh nen jungen Mannes zu gedenken, der ihr einst über einen angeschwollenen Teich geholfen hatte, und dessen recht seltenen Besuche in der Windmühle jedes mal eine Begegnung herbeiführten, die — darüber konnte eine Täuschung wohl nicht besteheil, — beiden Teilen zum Vergnügen gereichte. Vielleicht verlieh ihr das Bewußtsein, Leonards Großvater beizustchen, förml'ch Flügel, als sie den Weg zn dessen Behausung zurücklcgte. Sie mußte unter allen Umständen vor Jnnian Daubeny anlangen, der sicherlich auch ohne Säumen seinen Weg antretcn würde. Die sich gespenstisch vom dunklen Nachthimmcl abhebenden Flügel der Windmühle und die Verengerung des zn einer kleinen Anhöhe emporführenden Pfades besagten ihr, daß sic ihrem Ziele schon ganz nahe sei. Ein paar Minuten später öffnete sie die Tür der Mühle und gelangte in einen runden Raum, der Kapitän Wynter als Wohn zimmer diente. Bei dem dämmerigen Scheine einer auf dem Tische brennen den kleinen Lampe erkannte sic mit raschem Blicke, daß sich in dem nur dürftig eingerichteten Raume niemand aufhalte. Eine Leiter führte von hier in einen anderen Raum hinauf, den der Mühlenbesitzer, wie sic wußte, als Schlafzimmer benutzte, und ohne Zögern kletterte sie zu der Falltür hinauf, die den Zugang bildete. Auch hier brannte eine Lampe, deren spärliches Licht auf das Nollbett in einer Ecke und die darausliegende regiungslose Gestalt fiel. Sonst befand sich nwmand im Zimmer und voll Entrüstung sagte sich Lesbia, daß die alte Frau, die der Doktor am Bette des Kranken zurückgelasscn hatte, ihrer Aufgabe überdrüssig geworden und nach Hause gegangen war. Das junge Mädchen eilte zunächst an das Bett, um sich zu überzeugen, ob der Patient irgendwelche Zeichen wiederkehrenden Bewußtseins von sich gebe; sic konnte aber nichts dergleichen entdeckem Der alte Krieger, der so viele Jahre hindurch für die Königin Viktoria gekämpft hatte, lag vollkom men regungslos da, mit nach aufwärts gekehrtem faltenreichen Gesicht und blicklosen Augen, den Kops über und über mit Bandagen verhüllt. Wie Doktor Argles angedeutct hatte, konnte man für den Moment nichts für ihn tun, und da Lesbia somit anderweitig nicht in Anspruch genommen war. ging sie daran, sich auf die Defensive einzurichten für den Fall, daß sich ein Feind zeigen sollte. — 5 — „Ja, vor ein paar Minuten erst," sprach Daubcny und gab sich den An schein, als dächte er angestrengt nach. „Ich fürchte aber, daß ich Ihnen nicht helfen kann, denn ich habe bloß eine halb blöde Magd im Hanse, sowie einen dicken Koch, der um diese Zeit gewöhnlich betrunken ist. Ich kann Ihrem Wunsche also beim besten Willen nicht entsprechen. Ist der arme Mensch wirklich so übel daran?" „Er erlitt eine sehr schwere Verletzung, so daß ich eine schwierige Ope ration an ihm vornehmen mußte," lautete die Antwort. Ich verrate Ihnen wohl kein Berufsgeheimnis, wenn ich Ihnen sage, daß Kapitän Wynter in großer Gefahr schwebt. Im übrigen ist cs aber ein höchst seltsamer, inter essanter Fall. Ueberlcbt ilm der Kranke, so wird er sich zweifellos viel wohlcr fühlen, wie vor dem Unfall. Den» im Verlaufe der Operation fand und ent fernte ich einen Knochensplitter, der viele Jahre hindurch ans das Gehirn drückte nnd dessen Funktion beeinträchtigen mußte. Kommt er jemals wieder zum Bewußtsein, so glaube ich, daß auch sein Gedächtnis neu erwachen und er sich an seine Vergangenheit erinnern wird, die bisher ein Buch mit sieben Siegeln für ihn gewesen." „Da tut es mir doppelt leid, ihm keine Hilfe angedeihen lassen zu können," behauptete Roger Naubcny mit erheucheltem Interesse. „Aber Sie haben ihn gewiß nicht ganz allein gelassen?" „Die alte Mrs. Stubble ist bei ihm, aber die ist nicht nur taub, sondern auch ungeschickt und unbeholfen im höchsten Grade. Doch nun gute Nacht, meine Herren, ich muß sehen, was sich tun läßt. O, bemühen Sie sich nicht, ich finde meinen Weg auch allein." Der Doktor schritt hinaus nnd erwog im stillen die Frage, weshalb sein kurzer Besuch einen so unbehaglichen Eindruck in ihm zurückgclassc». Das wenig liebenswürdige Benehmen der gleichfalls anwesenden zwei jüngere» Männer trug gewiß nicht die Schuld daran, denn eS überraschte ihn nicht im geringsten. Allein in de» anscheinend gleichgültig, wie widerstrebend gestellre» Fragen, die Roger Taubeny an ihn gerichtet hatte, war ein lauern der Ausdruck gelegen, der ihn stutzig machte. Doktor ArglcS war cin Physiog- nomiker nnd meinte trotz der Sympathie, die der Hausherr zu bekunden ge trachtet hatte, einen Ausdruck von Grausamkeit und Furcht in seinen Zügen erkannt zu haben. Zu begründen hätte er das freilich nicht vermocht. Zwar teilte er die allgemeine Antipathie, die die Nachbarschaft den für Eindring linge angesehenen unfreundlichen Bewohnern von Grange entgegenbrachte. Allein daS war noch kein Grund, um anzunehmen, daß zwischen ihnen und dem achtzigjährigen Einsiedler in der Windmühle ernstere Differenzen oder gar ein Verbrechen trennend liege. Er hatte die Haltung der Danbenys dem Kapitän Wynter gegenüber jederzeit für hochmütige Gleichgültigkeit gehalten und entsprechend eingeschätzt. Eben schritt der Doktor durch die Halle dem Ausgange zu, als er sich leise beim Namen rufen hörte. Er wendete sich um und erblickte Lesbia Vlythe. die eilends die Treppe herabkam. Er trat auf sie zu. ..Wie geht es dem alten Herrn?" fragte sie mit einer Teilnahme, die ebenso ehrlich gemeint war, wie die Roger Taubenys geheuchelt gewesen. Der Doktor wiederholte etwas ausführlicher seinen Bericht über den Zustand des Kapitäns und erwähnte auch die Schwicriak<->i die eS ihm be- ..Jhr- Schuld "