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Mittwoch den 5. Juli 1911 »Meint täglich nach«, mit Ausnahme der Sonn- und Festtage. rlosgatic I mit .Die Zeit In Wort und Bild' vierteljährlich 2. l<» An Dresden durch Boten 2 4« In ganz Teutlchland frei HauS 2 52 ^ in Oesterreich 4 45 L Ausgabe l> ohne illuitrierte Beilage vierteljährlich I.tsft 4S. srn Dresden durch Boten 2,1« In ganz Deutschland sret paus 2,22 X: in Oesterreich 4,«7 tc — Liiijei Nr. I« 4 Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht und Freiheit Inserat» werden die Ngespnltene Petitzeile oder deren Raum mit 15 4. Reklamen mit 50 4 die Heile berechnet, bei Wiederholungen entsprechenden Rabatt Buchdruiferei. Redaktion und tiieschäftsftelle: Dresden, Ptlluiqer Strafte 45. — Fernsprecher I!t«N FiirRitilgabeunverlang». LchriststitcheketneVerbindltchket« RedaltionS Sprechslundc: II bis 12 Uhr. Lrkrisckenä unä Isbenci! Vreclo-Lis-Vrops V, p«un<i IS in. kerliax ä kvckstrvli, strestleii. t^iedeflaken in allen Stadtteilen. Eine Wendung in der deutschen Alaroklopoiitik. Die Fäden in der Marokkopolitik laufe» bunt durch einander, nahezu jedes Jahr wird eine andere Nummer und eine andere Farbe gewählt. Ain Schlüsse erhält inan ein solch vielfarbiges Gewebe, das; einem die Augen über laufen, wenn man die Arbeit der letzten zehn Jahre erblickt. Man hat vielfach den Eindruck, als ob im neuen Jahre zum Teil das wieder aufgelöst werden soll, was im alten Jahre gesponnen worden ist. Es sind jetzt zehn Jahre verflossen, daß ein . hervoragender deutscher Großindustrieller sich in Marokko Bergrechte erwerben wollte, er frug auf dem Auswärtigen Amte an, ob diese geschäftliche Aktion die Diplomatie nicht störe; aber man würdigte ihn kaum einer Antwort. Der jüngste Legationsrat hat dem deutschen Eisen- und Stahlkönige den Stuhl vor die Türe gesetzt. Hätte man damals den mutigen Industriellen unterstützt, so wäre heute in Marokko eine deutsche Einflußsphäre vor handen, über die keine Großmacht zur Tagesordnung über gehen könnte. Aber nach diesem Empfange unterließ der Mann jede geschäftliche Aktion. Drei Jahre später wurde das französisch-englische Abkomen über Aegypten und Marokko perfett. Zuerst war man in Berlin verdutzt, denn ans der ewigen Gegnerschaft zwischen Frankreich »nd Angel sachsen ruhte ein Teil unserer Auslandspolitik. Dann aber setzte inan eine heitere MaSke z» dem verlorenen Spiel auf. Unsere verantwortungsvollen Diplomaten lächelten »nd freuten sich, daß nun eine Neibungsfläche weniger vor handen sei; doch schon nenn Monate später wurde ein ganz anderer Faden in den politischen Webstnhl cingewebt. Tie Kaiserreise nach Tanger fand statt. Der Kaiser verhielt sich skeptisch gegen den Vorschlag seines Reiieadjutante». Er ließ beim Verantwortlichen Fürsten Bülow ansragen, ob die Landung in Tanger in den politischen Gejamtrahmen passe. Dic Antwort „ausgezeichnet" kam zurück. Der Kaiser unternahm das äußerst gefährliche Unternehmen der Lan dung und betonte in seiner Rede die Unabhängigkeit des Sultans. Damit war das Schlagwort für die nächsten fünf Jahre geprägt. I» Frankreich horchte man ans und sah bekümmert nach dem deutsche» Osten, Ivo Gewitterwolken sich auftürmten. Rasch ivnrden 200 Millionen Mark zur Erhöhung der Schlagfertigkeit der Armee bewilligt, aber der gerissene Ge schäftsmann und Politiker Nonvier traute der Sache nicht und ließ durch einen Pcrtanensmann dem deutschen Kaiser ein Sonderabkommen über Marokko anbieten. Ter ränke- ipinnende Telcassv sollte über Bord geworfen werden. Frankreich und Deutschland sollten sich in Marokko teilen, alles sich auch in Ruhe und Frieden abwickeln. Dem Fürste» Bülow paßte damals die Politik der Ruhe nicht. Er unterbreitete diese äußerst günstige Offerte dem Kaiser gar nicht und so folgte dessen Rede zu Karlsruhe, die den Kriegsgerüchten nur neue Nahrung gaben; die deutsche Diplomatie hatte sich jetzt nur eine einzige Aufgabe gesetzt, Frankreich sollte gezwungen werden, in einer inter nationalen Konferenz über das Schicksal Marokkos ent scheiden zu lassen. So kam man nach Algeciras, wo Deutsch land von allen Großmächten verlassen dastand und nur allein Oesterreich als brillanten Sekundanten neben sich hatte. Tic Macht mit dem stärksten europäischen Landheer und der modernen Flotte spielte in Algeciras eine Rolle, die heute noch jedem Deutschen die Schamröte ins Gesicht treiben muß. Ter wesentlichste Inhalt dieses Abkommens war ungefähr, daß Frankreich seinen Willen in allen seinen Teilen durchsetzte, obwohl die Unabhängigkeit des Sultans das Fundament des Vertrages wurde. Aut lustigem Grunde erbaute man ein Lustschloß und dieses sollte nun durch die harte Wirklichkeit bewohnt werden. Ganz natur gemäß mußten die Gegensätze schnell aufeinanderprallen. Tie vielverschlnngene ManneSmanmAngelegenheit trug dazu bei, neue Reibnngsflächen zu schaffen. Nach vielen Bemühungen gelang es im Jahre lOOO dem heutigen Staatssekretär v. Kiderlen Wächter, eine friedliche Ver abredung mit Frankreich zu treffen, aber es war nur ein schöner Fleck ans dem alten Schub. Immer deutlicher stellte es sich heraus, daß eben das gesamte Abkommen unhaltbar wurde. Frankreich drang immer weiter vor und rüstete eine Erpedition nach der anderen aus, um das Land durch eine immense Schuldenlast an Frankreich zu fesseln. Spanien wollte als historische Erbin Marokkos auch nicht zurück stehen, zumal dann, nachdem sein französischer Rivale bis Fes vorgcdrnngen war. So mußte unwillkürlich Deutsch land sich fragen, ob der alte Zustand des papiernen Ver trages aufrecht erhalten bleiben könne, da durch diese Erpe- ditione» offen ausgesprochen wurde, daß es einen unab hängigen Sultan nicht gibt, daß also nicht etwas geschützt werden kann, was in Wirklichkeit nicht vorhanden ist; nur nicht das Nachsehen bei Aufteilung des Kuchens zu haben, wurde das kleine Kanonenboot „Panther" ausgeschickt. Schon durch die Wahl des Schiffes wurde aller Welt ge zeigt. daß Deutschland an eine große Erpedition nicht denkt. Wir müßten auch einer solchen widersprechen, denn die Lehren und Schulden der Ehinaerpedition sind noch nicht vergessen. Tie Entsendung des kleine» Kanonen bootes sott nur besagen, daß Deutschland zur Stelle ist, die Vorgänge aufmerksam verfolgt und seine wirtschaftlichen Interessen schützen will. Irgend eine kriegerische Ver wickelung liegt Deutschland vollständig fern, es rechnet nur mit Bestimmtheit auf eine allseitig befriedigende endgültige Lösung der Marokkofrage ans friedlichem Wege. Von einflußreicher französischer Seite erfahren wir, daß man diese Auffassung in Paris teilt. Es wird i» dor tigen Kreisen namentlich der Gedanke ventiliert, ob man Deutschland nicht einen erheblichen Teil des französischen Kongos abtrete sofern man Frankl eich die Freiheit ließe, in Marokko unter Ansrechterhaltnng der Handelsfreiheit Ruhe und Ordnung herznstellen. Wie ein solcher Vorschlag i» Berlin ansgenommcn wird, kann zur Stunde nicht gesagt werden. Wie wisse» nur so viel, daß der Kaiser großen Werl anf eine friedliche Lösung legt und daß die verant wortlichen Instanzen im Reiche sich dieser Anisassnng an schließen. 'Selbstverständlich muß die Lösung eine solche Kin, daß sic de» deutschen Interessen gerecht wird. Politische Rundschau. Dresden, den 1. Juli ISIl. Zur »inrokkaiiischen Frage. Die Mitteilung der deutsche» Negierung an die Mächte über die Entsendung des .Panther" nach Agadir lautete der „Nordd. Allgem. Ztg." zufolge wie folgt: ..Deutsche Firme», die im Süden Marokkos und be sonders in Agadir und Ilmgegend tätig sind, sind über eine gewisse Gärung unter den dortigen Stämmen beunruhigt, die durch die letzten Ereignisse in anderen Teilen des Landes hervorgerusen zu sein scheint. Diese Firmen haben sich an die Kaiserliche Regierung mit der Bitte nm Schutz für Leben und Eigentum gewandt. Auf ihre Bitte hat die Regierung beschlossen, ein Kriegsschiff nach dem Hafen von Agadir zu entsenden, nm nötigensalls den deutschen Unter tanen und Schntzgenossen wie auch den beträchtlichen deutschen Interessen in jenen Gegenden Hilfe und Schutz zu gewähren. Sobald Ruhe und Ordnung in Marokko wiedergekehrt sein werden, soll das mit dieser Aufgabe des Schutzes betraute Schiff den Hafen von Agadir verlassen." — Dic Antwort der französischen Regierung auf die amtliche Mitteilung von der Entsendung des Panther nach Agadir ist noch nicht eingetroffen. Sie wird auch erst in einigen Tagen erwartet. Aus der französischen Botschaft nimmt man, wie wir von dortiger Seite erfahren, an. daß der französische Botschafter in Berlin Herr Canibon wahrscheinlich die Antwort mitbringen wird. Die Rückkehr Cambons wird am nächsten Freitag erwartet. — Ein allgemeiner Konvent der mecklenburgische« Ritterschaft wird am Donnerstag den 13. d. M. im Stände haus zu Rostock tagen. Auf der Tagesordnung steht als einziger Gegenstand die Abänderung der mecklenburgischen Landesverfassung. — Eine neue ReichstagSersahwahl. Der Reichstags- abgeordnete Postsekretär Hamecher (Z.) ist zum 1. August als Oberpostsekrctär nach Gütersloh versetzt worden. Nach Artikel 21 der Reichsvcrfassung verliert bekanntlich ein Mitglied des Reichstages, wenn es im Reichs- oder Staats dienste in ein Amt mit höherem Range oder höherem Gehalte eintritt, sein Mandat. Die Voraussetzung des Artikels 21 dürfte auf den Fall Hamecher zutrefsen. Hamecher ist 1907 in Köln-Land mit 27910 Zentrums- stimmen gegen 17310 sozialdemokrati che und 7830 liberale Stimmen gewählt worden. — Die türkische Studieukommiflion traf gestern vor mittag in Düsseldorf ein und wurde von dem türkischen Konsul Kommerzienrat Pfeiffer und den drei hier in Garnison stehenden türkischen Offizieren begrüßt. Zunächst fand eine Besichtigung der Rheinischen Metallwaren- und Maschinenfabrik statt. Nach einem mittags von der Stadt gegebenen Frühstück erfolgte eine Rundfahrt durch die Stadt und ein Besuch des Verwaltungsgebäudes des Stahlwerkverbandes (Stahlhof). Nach einem Besuche der Großen Internationalen Kunstausstellung wurde nachmittags die Rückfahrt nach Köln angetreten. — Commander Coontz, sowie die Kommandanten de« amerikanischen Schulschiffgeschwaders erschienen gestern aus dem Flaggschiffe Deutschland zur gegenseitigen Vorstellung mit den deutschen Admiralen und Kommandanten. Später wurden die amerikanischen Offiziere vom Kaiser auf der Hohenzollern empfangen. Se. Majestät verweilte mit den Herren etwa eine Stunde in angeregtem Gespräche. Die Besatzung des Geschwaders erhielt nachmittags durch reich lichen Landurlaub Gelegenheit zur Besichtigung Kiels. Das Wetter ist ausklärend. — Da« scharfe Urteil de- Reichstag-Präsidenten Grafen Schwerin über da« Zentrum wird in der neuesten Wochen- rundschau der Kreuzzeitung ganz erheblich abgcschwächt. Das Blatt meint, man könne von den Konservativen doch nicht verlangen, daß sie das Vorhandensein der ZcntrumS- partei als eine erfreuliche Erscheinung ansehen. Das Zentrum entzieht der konservativen Partei wertvolle Kräfte und bringe in der konservativen Partei eine gewisse kon fesstonelle Einseitigkeit hervor, oft genug wurden im Zentrum Die Anfänge und die Entwicklung der Religion. Die Frage nach dem Ursprünge der Religion ist neuer dings wieder aus die Tagesordnung des wissenschaftlichen Streites gesetzt worden, eine Folge des großen Interesses, dessen sich die völkerkundliche Forschung zurzeit zu er freuen hat. Dabei spielt aber noch ein anderer Umstand mit. Dic religionsgeschichtliche Forschung hat sich eine Zeitlang fast willenlos unter die Herrschaft des Entwickelnngsgedankens gestellt und suchte nun nach einem „Stanunbanme" der Re ligion; ja sogar übei das Wesen der Religion sollte diese geschichtliche Untersuchung Aufschluß geben. Heute beginnt man sich zu besinnen, daß man sich eigentlich hat arg in die Irre locken lassen, daß der Entwickelnngsgedanke in sei »er schroffen Geltendmachung auf diesem Oiebiete eigenllich eine bedenkliche Verwirrung zur Folge gehabt hat. Wen» man die älteren Schriften dieser Art Forschnngs- literatnr liest, muß man staunen über die Sicherheit, mit der hier die Entwickelungslinie der Religion gezeichnet wird: ans niedersten Anfängen, dem Fetischismus und dein Totemismus (Tierverehrung), soll die Religion sich zu entwickeln begonnen haben und über den Animismus «Seelen- und Gcistervcrehrung) und über die Naturver- elirung des Himmels, besonders der Sonne, und von da zum Monotheismus, der Anbetung eines übcrweltlichen Schöpfergottes aufgesticgcn sein. Von einer Offenbarnngs- religio» kann natürlich dabei keine Rede mehr sein, und das Alte Testament muß sich gefallen lassen, in die Zwangs jacke solcher Theorien eingepreßt zu werde». (Welche heil lose Verwirrung derartige Ausstellungen in den Köpfe» nrteilsnnsälüger Leute anrichten muß, dafür liefert die so- . ialdemokratische Religionsgeschichte vcrgl. Ennow, Theologische oder ethnologische Religionsgeschichte, Stutt gart >010 ei» wahrhaft klassisches Beispiel.) Das Material, mit dem man den „Stammbaum" der Religion anfbanen wollte, sollten die „Wilden", die Primi live» Völler, liefern. Was man lei ihnen au religiöse» Vorstellungen ßind, das ward befrachtet als stehengeblie- b-'»er Rest der llrreligion. Wie steht es nun in Wirklichkeit? Vor w.niaen ,dab reu schrieb de, Berliner Professor Pjleiderer in seinem Buche „Religion und Religionen": „Was wissen wir von den Anfängen der Religion? Osenau genommen eigentlich nichts . . . Nur Vermutungen können wir darüber ans stellen, die, soweit sie auf Rückschlüssen aus dem Bekannten beruhe», mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit haben mögen, aber doch immer von sicherem Wissen wohl z» unter scheiden sind; keine dieser Hypothesen kann bewiesen wer den, also braucht man sich auch nicht über sie zu streiten" (S. 53). Das aber enthebt nicht der Notwendigkeit, diese Hypothesen auf die Solidität ihres Unterbaues zu unter suchen, um so mehr, als Unfug genug damit getrieben wird, um die Geister zu verwirre». Ausgehend von der vermeintlichen llrreligion der „Wilden" hat man an die Spitze den Anfang der Entwick lung der Religion, den Fetischismus, gestellt, ohne sich auch nur zu fragen, ob den» das. was man bei den „Wilden" fand, überhaupt wirklich der Anfang und nicht am Ende ein Erzeugnis der Entartung ist, nicht also ein Zeugnis des Aufstieges, sondern ein solches der Entwicklung nach ab wärts sei. Heute ist die Behauptung, daß der Fetischismus (Zanberglanbe) der Anfang der Religion sei, als gründlich verfehlt preis-gegeben; man betrachtet ihn, wo man ihn findet als eine» geilen Schößling am Baume der religiösen Gedankenwelt, Auch der Totemismus, die Tierverehrung. wird nicht mehr an den Anfang der religiösen Entwicklung gestellt. Denn auch er ist als Entartnngsprodnkt erkannt. Dasselbe gilt vom Animismus (dem Seelen- und Geisierknlt), der bei manchen primitiven Völkern mächtig ein; orgcwnchert ist und sich über die eigentliche und ursprüngliche Religion ge legt hat. All diese Jrrgänge hätte man sich erspart, wen» man wirklich voranssetzungsloS zu Werke gegangen wäre und die Tatsachen in ihrem ganzen Bestände berücksichtigt hätte! Wie wenig man das getan hat, zeigt am handgreiflichsten das Vorgehen des Engländers Herbert Spencer, einst als Philosoph des Darwinismus hochgefeiert. Ihm machte der Schotte Andrew Lang, der jetzt in seinen wissenschaft lichen Werken durch das Eintreten des Wiener Orientalisten Leopold v. Schroeder und des l'. W. Schmidt, des ver diente» Herausgebers der Zeitschrift „Anthropcs", wieder