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Nummer 253 — 26. Jahrgang Trjcheinl imat wöchentlich mit de» Illustrierten Vrattsbetlagen .Die Weil' und .Für nniere Neinen Leute', sowie de» Leit- beitagen .St. jtenno-BIatt'. „Unterhaltung und Wissen', .Die Welt der Frau'. „Aerzlticher Ratgeber'. „Da» gute Buch". .Fitmrunbschau'. Monatlicher Bezugspreis 3.- Mk. einschl. Bestellgeld. Etuzelnununcr 1« -s. Svnnlagnummcr SO z. Hauptschrittlelter- Tr. w. TeSczyk. Dresden. Süchstsche Sonntag» -en 30. Oktober 1927 Anzeigenpreise! Die Igelbaltene Petitzeile »N 4. Familien- an,eigen und Stellengesuche 8« 1. Die PetttreNamezelle. 33 Millimeter breit, I OfferiengebNhr 20 bei Uebcr- scndung durch die Bost ausserdem Portozuschlag. Im Falle höherer Gewalt erlischt jede 'Verpflichtung aus Lieferung sowie Erfüllung v. Anzeigen-Aufträgen u. Leistung v Schadenersatz. Geschäftlicher Teil: Artur Lenz, Dresden. (SeschästSstelle, Druck u. Bcrlag: Germania. it.-G. sür Verlag und Druckerei, Filiale Dresden. Dresden-Sl. 1, Polierslratze 17. FernrnsSlOtL. Posltchecklonto Dresden 7733. Bankkonto Stndtbant Dresden Rr NI7tS Für christliche Politik und Kultur Redaktion der Eiichslkckicn BolkSzettung Dresden-Altstadt 1. Poltcrstratze 17. Fernrut 20711 und7I0I2. Die umstrittenen Richtlinien Die Aussprache zwischen Zentrum und Deutschnationateu — Keine restlose Klärung Zehn Fahre Sowjetstaat n. Von -er kommunistischen Theorie zum Staats« Kapitalismus Der Kommunismus ist in erster Linie ein wirt schaftliches System. Seine politische Struktur, die Diktatur des Proletariats, ist ihm bekanntlich der Theo rie gemäß nur Mittel zum Zweck. Und zwar in seiner bolschewistischen Form kein besonders geheiligtes Mittel. Der gewollte Zweck des kommunistischen Systems liegt aber auf wirtschaftlichem Gebiete: Vervollkommnung der Güterversorgung, Rückeroberung des verlorenen Para dieses hier auf Erden. Was hat der Bolschewismus auf diesem Gebiete in den ersten zehn Jahren seines eigen staatlichen Bestehens erreicht? „Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapi tal zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, das heißt des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren, und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermeh ren." So hieß die Losung bei Marx und Engels im kommunistischen Manifest. Die Bolschewik! haben schneller und gründlicher gearbeitet. Sie haben nicht nur nach und nach, sondern mit einem Schlage „der Bourgeoisie" alles Kapital entrissen. Die erste Tat der bolschewistischen Regierung war die Enteignung alles Grund und Bodens und aller industriellen Betriebe, die Expropriation der Exprovriatere". Der Grund und Boden wurde als Gemeineigentum ansgerusen und den Dauern zur Bearbeitung überlassen. Aehnlich wurde mit den Industrieunternehmungen umgesprungen. Der freie Handel wurde aufgehoben. Das Chaos, das da durch entstand, wurde vervollständigt durch den jahrelan gen Bürgerkrieg. Die große Hungersnot 1920—1622 war die erste Folge. Es hat kaum drei Jahre gedauert, da mußte L enin , der glücklicherweise kein marxistischer Dogmatiker, sondern Wirklichkeits- und Tatmensch war, wie es von kommunistischer Seite hieß, „für eine gewisse Zeit" den ökonomischen Rückzug anordnen. Am 20. August 1021 hielt er seine berühmt gewordene Rede, die seine neue Wirtschaftspolitik begründen sollte, d'e in Wahrheit aber eine Leichenrede auf die marxistischen Doktrinen war. Er gab den Bankrott der sowjetistischen Agrarpolitik offen zu und sah sich genötigt, die bis dahin üblichen Requisitionen der Agrarerzeugnisse durch eine Nährsteuer zu ersetzen. Nach Bezahlung dieser Steuer wurde der Handel wieder freigegeben. „Die wirkliche proletarische Wirtschaftspolitik in einem kleinbäuerlichen Lande besteht darin, im Austausch gegen die den Bauern nötigen Industrieprodukte das Getreide zu bekommen!" Ergänze: Das Getreide, das man nach Abschaffung der „kapitalistischen" Wirtschaftsordnung und des zu ihm ge hörigen freien Handels eben nicht mehr bekam, weil der Anreiz zum Produzieren fehlte. Man sprach künftighin von einer „relativen Handelsfreiheit", worunter man ein unserer Kriegszwangmirtschaft nicht unähnliches Kau zes s! o n s s y st e m verstand. In diesem System der „Konzessionen" wollte man plötzlich das geheimnisvolle Wundermittel gefunden haben, mit dem man der Wieder aufrichtung des Kleinbürgertums und des Kapitalismus begegnen zu können meinte. Dasselbe System, hinter dem sich weiter nichts als ein sehr primitiver und schlechter Staatskapita lismus verbirgt, wandte der kluge Lenin auch auf die Industrie seines Landes an. Nur durch diese Konzession an den Kapitalismus gelang es ihm, die russische Indu strie wieder einigermaßen in Gang zu bringen. Wenn die Sowjetmacht den Staatskapitalismus in der Form von Konzessionen aufzieht, so bedeutete Lenin seinem Volke, dann stärkt sie „die Großproduktion gegenüber der Kleinproduktion, die vorgeschrittene gegenüber der rück ständigen. die Maschinenproduktion gegenüber der hand werksmäßigen. Sie erzielt dadurch für sich ein größeres Quantum an Erzeugnissen der Großindustrie — Abtre tung eines gewissen Teiles der Ausbeute der Konzessio- Keuie: Die Welt (Illustrierte Wochenbeilage) Unterhaltung und Wissen Die Welt der Frau Slerztlicher Ratgeber Turnen. Sport und Spiel Filmrundschau Am 31 Oktober der in Sachsen als staatlicher Feier tag gilt, kann die.»SSchs. Dolksztg." nicht erscheine» Die wiederholten Verstöße der Deut sch natio nalen Presse gegen die Richtlinien haben zu Besprechungen zwischen Vertretern des Zentrums und der Deutschnationalen geführt. In einem Teil der Presse sind darüber Mitteilungen erschienen, die ein unrichtiges Bild von den Verhandlungen geben. Insbesondere hat die sozialdemokratische Presse angeblich aus parlamentarischen Kreisen des Zentrums über diese Besprechungen einen Be richt veröffentlicht, der sich aus Indiskretionen und Halb wahrheiten zusammensetzt. Wir können es nur aufs tiefste bedauern, daß es immer wieder Leute in den eigenen Rei hen gibt, die ihre Schmerzen in der gegnerischen Presse ab laden und die sich nicht scheuen, Vorgänge im eigenen Lager zum Gegenstand einer wenig sachlichen Erörterung in der fremden Presse zu machen. In der Donnerstagsitzung der Reichstagsfraktion des Zentrunis, in der diese Dinge zur Sprache kamen, wurde diese Methode einmütig verurteilt. Die sachlichen Darlegungen über den Verlauf der Besprechungen ergaben dann doch ein anderes Bild, als es teilweise in der Qefsentlichkeit entworfen worden ist. Der Vorsitzende, Abg. von GuLrard, machte Mitteilung von der am 8. Oktober abgehaltenen Besprechung mit der Lei tung der deutschnationalen Reichstagssraktion über die Ver letzung der seinerzeit vereinbarten Richtlinien. Er sei durch die Presse-Auslassungen über diese Verhandlungen zu seinen Feststellungen gezwungen. In der Besprechung sei von den Vertretern der Zentrumsfiaktion nachdrücklich Beschwerde erhoben worden gegen die hcraüwiirdigende Art, wie von deutschnationalcr Seite in der Presse und in Versammlungen die Symbole der Republik behandelt werden. Ferner halte das Zentrum eine Propaganda sür die Wiederein führung der Monarchie unvereinbar mit der starken Beteiligung der Deutschnationalen an der jetzigen Negierung der deutschen Republik. Die mehrstündige Aussprache ergab, daß die deutschnationalen Führer bezüglich des ersten Punktes Beachtung der Wünsche des Zentrums zujagte, was vom Grasen Westarp durch ein späteres Schreiben noch bestätigt wurde. Bezüglich des Begriffes „m anarchistische Propaganda" wurde eine völlige Uebereinstimmung nicht erzielt. Abg. von GuLrard stellte aber in seinem Schlußworte nochmals die unzweideutige Auffassung des Zentrums zu dieser Frage fest. Die Fraktion nahm von diesen Mitteilungen ohne Erörterung Kenntnis und besprach dann eine durch den „Soz. Pressedienst" verbreitete, nach dessen Angaben aus parlamentarischen Kreisen des Zentrums stammende Veröffentlichung („Vorwärts" Nr. 501 „Risse im Bürgerblock"). Mit diesem stark mit Uebertreibungen und Entstellungen arbeitenden Artikel wird der Zweck verfolgt, der Regierungskoalition, insbesondere dem Zentrum, immer wieder Schwierigkeiten zu bereiten. Die in grotzer Zahl an wesenden Fraktionsmitglieder wiesen es einmütig und mit Ent rüstung von sich, an dieser Veröffentlichung irgendwie beteiligt zu sein. näre (lies „Kapitalisten"!) an die Sowjetmacht (lies Na turalsteuer!) — festigt die staatlich geordneten Wirtschafts verhältnisse im Gegensatz zu den kleinöüraerlich anar chistischen. Eine mit Maß und Ziel durchgeführte Kon zessionspolitik wird uns zweifellos helfen, den Stand der Produktion zu heben und die Lage der Arbeiter und Bquern bis zu einem gewissen, wenn auch nicht allzu gro ßen Maße (!) zu verbessern." Diese Worte Lenins könnte man auch dem krassesten „Kapitalisten" Westeuropas in den Mund legen. Sie gewinnen noch an plastischer Wir kung, wenn man eine Rede Lenins vor dem Allrussischen Kongreß der nationalen Wirtschaftsräte im Mai 1018 in Moskau ausgräbt, in der dieser sagte: „Der Russe ist ein schlechter Arbeiter im Vergleich zu den vorgeschrittenen Nationen . . . Lerne zu arbeiten — diese Ausgabe in ihrer ganzen Größe muß die Sowjetmacht dem Volke stellen ... Man muß in Rußland das Studium, die Lehre des Tay lorsystems, seine snstematische Prüfung und Anwendung ausnutzen . . . Wir brauchen keinen hysterischen Elan. Wir brauchen den taktmäßigen Schritt der Eisenbataillone des Proletariats." Wer hinter diesem Leninismus noch den Zu kunftstraum des reinen Marxismus erblickt, ist mit dem Teufel im Bunde. Rußland, lerne arbeiten! Das klingt etwas anders als die Zukunftsmusik deutscher Phantasten vom sechs- und fünfstündigen Arbeitstag. Es ist überhaupt ein charakteristisches Symptom, daß die Kunde vom sie- benstündigen Arbeitstag und von der fünftägigen Ar beitswoche aus Detroit (Henry Ford) und nicht aus Zu den Besprechungen zwischen Deutsch nationa len und Zentrum über die Auslegung der Richt linien äußert sich nun auch die deutjchnationale Pressestelle. Sie stellt fest: „Im Anschluß an die Besprechungen zwischen Vertretern der Neichstagsfraktion des Zentrums und der Deutsch nationalen hatte die „Vossische Zeitung" (Nr. 18',) am 13. Oktober die Nachricht verbreitet, es schwebten über die Be handlung der Richtlinien langwierige Verhandlungen zwischen den Fraktionen, deren Länge schon zeige, daß die Koalition da durch gefährdet sei. Diesen — wie in jener Presse üblich — auf Indiskretionen beruhenden Mitteilungen wurde damals von deutschnationaler Seite cntgegcngelreten. Die Aufklärun gen, mit denen Herr v. Euörard den Sachverhalt in der Sitzung der Zcntrumsfraktion am 27. Oktober klargestellt hat, zeigen zweierlei. Die deutschnationalen Vertreter haben den vom Grafen Westarp bereits auf dem Königsbcrger Parteitag eingenommenen Standpunkt bestätigt, wonach die Deutsch- nationale Volkspartei herabsetzende Verunglimpfungen der Reichsverfassung und der Rcichssarbeu mißbilligt und zu verhindern wünscht. Andererseits ist übereinstimmend fest- genctlt worden, daß die Richtlinien kein Gcsinnungsbekcnntnis enthalten, daß also die Deutschnationalen das Recht haben, auch öffentlich für ihre Gesinnung einzutreten, wie cs bereits von Graf Westarp in der Neichstagsrede am 3. Februar d. I. ausdrücklich gewahrt wurde." omnz >o harmonihh, wie es hier dargcstellt wird, sind die Verhandlungen dann doch nicht ausgelaufen. Zwar haben die Deutschnationalen hinsichtlich der Flaggen frage erneute Versprechungen im Sinne der Richtlinien abgegeben, und gewisse Erfolge kann man ja auch insofern schon feststellen, als deutschnationale Blätter, die bisher nur von der schwarzrotgelbcn Flagge redeten, jetzt die rich tige Bezeichnung für die Reichsfahne finden. Daß die Deutschnationalen aber auch in diesem Punkte noch viel zu lernen haben, zeigt eine Aeußerung des deutschnatio nalen Stadverordneien von Iecklin, der nach dem Bericht des „Vorwärts" in der letzten Berliner Stadtver ordnetenversammlung schwarzrotgold als die Fahne der Deserteure bezeichnet hat. Das ist dieselbe Gemein heit, als wenn man die jchwarzweißrole Fahne als die der Mörder bezeichnen wollte, weil politische Mörder sie führ ihre Verbrechen mißbraucht haben. Immerhin: In der Flaggenfrage wurde eine Verständigung gefunden, aber es ist irreführend, wenn die deutschnationale Pressestelle es als übereinstimmende Meinung hinstellt, „daß die Deutsch nationalen das Recht Hütten, auch öffentlich sür ihre Ge sinnung einzutreten". Gewiß wollen die Richtlinien keine Gesinnung totschlagen. Die Meinungsfreiheit in allen Ehren, aber wer in eine republikanische Reichs- regierung eintritt, übernimmt auch nach dieser Richtung Verpflichtungen und kann nicht gleichzeitig Agitator für die Monarchie sein. Das sind Dinge, die ein ander ausschließcn. In diesem Punkte ist keinc Eini gung erzielt worden und es bedeutet weiter eine Ge fährdung des Zusammenhalts der Koalition, wenn die Deutschnationalen offiziell in ihrer monarchistischen Pro- vaganda fortsahren. Moskau kam. Der Bolschewismus Lenins ist von nah besehen eine außerordentlich nüchterne Sache. Genau wie sich in den „kapitalistischen" Großstaaten ein gewisser S t a a t s so z i a I i s m n s als ausgieichendcs Gegen gewicht herausgebildet hat, so hat der bolschewistische Idealstaat in kürzester Zeit einen Staatskapita lismus hervorgebracht, der gemessen an dem agrari schen Grundcharakter des Landes der Intensität der „kapitalistischen" Staaten nicht mehr viel nachstehen dürfte. Von dem Ideenpalast der marxistischen Theorie ist kaum mehr denn eine dürftige Ruine übrig geblieben- deren schwungvolle Grundformen heute niemand mehr wiedererkennen kann. Sowjetrnßland lebt und feiert ein Jubiläum — aber nur auf den Krücken des vermale deiten „Kapitalismus", den zu besiegen der rate Ritter Lenin ans dem Umwege über Sibirien und die Schweiz vor zehn Jahren in den Moskauer Kreml eingezogen ist- Man kann die Wasser eines Stromes nicht zwingen, einen Berg hinauf zu laufen. Jeder Strom fließt zu Tal. Ebensowenig wie die Naturgesetze lassen die Grundgesetze des geschichtlich gewordenen Wirtschaftslebens eine will kürliche Korrektur durch Menschenwcchnwitz zu. Das haben die ersten zehn Jahre Sowjetrußland sehr hand greiflich bewiesen. Die „Konzessionen" an das kapita listische System waren keine zeitweise Ueberganaserschei- nung. Sie waren ein durch die harte Schule der Tat sachen erzwungenes Sichbeugen unter die elementarsten Grundgesetze alles Seins. Man darf mit aller Ruhe ab« warten» ivas in den nächsten zehn Jahren aus der bolsche-